Wo eine Sache vehement beschworen wird, liegt sie meistens im Sterben. Zum Beispiel reden seit Jahren alle davon, wie fabelhaft das Internet die Menschen miteinander verbinde. Sorry, aber ich habe nicht den Eindruck, dass wir als Gesellschaft stabiler oder empathischer geworden sind, seitdem wir Likes kriegen und Follower haben. Im Gegenteil: Viele kommen mir noch trost- und orientierungsloser vor. Oder die Sache mit der Solidarität. Olaf Scholz redet permanent davon, oft erwähnt er im Satz davor oder danach, dass wir uns »unterhaken« müssen, aber es klingt mutlos, als könne etwas wahr werden, wenn man nur oft genug davon spricht. Womit wir bei der Happy Hour wären, der deprimierendsten Stunde des Abends, die demnächst wieder aktuell werden könnte, wenn die Menschen feiern wollen, aber kein Geld mehr für Cocktails haben, weil sie zu lange geduscht haben.
Ich war mal auf Kuba. Meine Begleiterin und ich landeten nach ein paar vertrödelten Tagen in den Bergen im Badeort Varadero. Unser Plan: zwei Tage Erholung in einem ganz normalen Hotel mit ganz normalen Urlaubern, mit Buffet und Pool und Shuttleservice zum Flughafen. In die Happy Hour sind wir eher zufällig nach dem Abendessen reingeraten. Wir setzten uns auf die Terrasse, schon ging es los. Ich erinnere mich an Schlagermusik, geriffelte Plastikbecher und beige gekleidete Menschen, denen derart unfassbare Sätze aus dem Mund purzelten, dass ich permanent dachte: Aha, so kommt René Pollesch also auf seine Theaterstücke.
Trinken, für mich muss das spielerisch sein, ein bisschen wie Küssen, spontan, mal beiläufig, mal exzessiv, alles zu seiner Zeit, nicht als Termin, an den einen der Handywecker erinnert
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe nichts gegen Menschen, die für ihren Drink lieber die Hälfte zahlen, aber für mich ist so eine Happy Hour nichts. Ich will trinken, was ich will, wo ich will, wann ich will, nicht am Dienstag von 18 bis 19 Uhr beim Mexikaner in der Fußgängerzone. Menschen, denen man während einer Happy Hour begegnet, wirken aufgedreht, strahlen eine freudige Erwartung aus, haben ein Ziel. Schon das finde ich ganz verkehrt, weil ich überzeugt davon bin, dass sich Glück nur ereignen kann, aber nie planen lässt. In einer Stunde schnell viel trinken, das erinnert mich an Flatrate-Bordelle, Talkshows, in denen der Praktikant ein Schild hochhält, wenn geklatscht werden soll, oder After-Work-Partys, auf denen Männer mit schmalen Krawatten junge Frauen in fliederfarbenen Businesskostümen antanzen. Trinken, für mich muss das spielerisch sein, ein bisschen wie Küssen, spontan, mal beiläufig, mal exzessiv, alles zu seiner Zeit, nicht als Termin, an den einen der Handywecker erinnert.
Mal schauen, bis zu welcher Inflationsrate ich mir diese Spontaneität noch leisten kann. Städte wie Zürich sind inzwischen so teuer, dass man ohne Happy Hour eigentlich kaum noch ausgehen kann. Ich war auch mal in Singapur. Dort wurden die Cocktails im Laufe des Tages immer teurer, der Höhepunkt lag zwischen 20 und 23 Uhr, danach wurden sie wieder billiger.
Schauen Sie mal, was vor genau 20 Jahren in der Süddeutschen Zeitung stand: »Schwere Zeiten für Kneipenwirte und Restaurantbesitzer: Die schlechte Konjunktur und die Angst vor der Arbeitslosigkeit vermiesen die Lust am Ausgehen. Die Leute halten ihr Geld zusammen – es könnte ja schlimmer kommen. Wer trotzdem ausgeht, trinkt ein Bier weniger, beschränkt sich beim Essen auf einen Gang oder nimmt den Espresso danach zu Hause ein.« Wiederholt sich Geschichte also doch? Ich habe einen Eid geschworen: Sobald ich in München keinen Rausch mehr ohne Happy Hour zustande bringe, gehe ich mit einem Schild auf die Straße: Gegen die Inflation. Gegen das System. Und überhaupt.