Ein Deckel als soziales Experiment

Seit diesem Sommer lassen sich Flasche und Plastikdeckel nicht mehr voneinander trennen – der Umwelt zuliebe. Das kratzt an der Wange, das nervt. Was die Deutschen daran aber vor allem stört, hat mit Gängelung und Kollektivität zu tun.  

Foto: Erli Grünzweil

Es gibt schon Momente, wo das ganz hilfreich ist mit diesem Deckel, der sich vom Flaschenkopf nur wegbiegen lässt, aber nicht mehr lösen. Man zerrt und schiebt, irgendwie kommt er immer wieder zurück, ist beim Aus-der-­Flasche-Trinken im Weg und kratzt einem die Nase oder die Wange. Und wenn man an der ­einen oder anderen Stellen gerade ­einen Mückenstich hat, der ­unglaublich juckt, ist es super. Meistens hat man das nicht. Also nervt es. Mich nervt es.

Und das ist nur der unpraktische Aspekt, nicht der erzieherische. Denn der Deckel steckt ja nicht zufällig seit ein paar Wochen fest am Flaschenhals, sondern weil das 2019 im Europä­ischen Parlament so entschieden wurde. In der Annahme, dass viele Bürger und Bürgerinnen es ohne diese Maßnahme nicht schaffen, den Deckel mit der Flasche zu entsorgen und der Deckel dem Recycling entgeht und die Umwelt verdreckt. Vor allem die Strände und Meere leiden unter Kleinstplastik wie Deckeln. Nun bin ich pro Europa und pro Weltmeere – und empfinde es trotzdem als Gängelung. Ich brauche die Nasenkratzer nicht, um Flaschen und Deckel nicht zu trennen. Ich lasse sie zusammen. Schon immer.

Die meisten Deutschen tun das. Bei uns kommen selbst bei den Einwegflaschen 91 Prozent mit Deckel zurück, so hat es das Umweltbundesamt erhoben. 95 Prozent aller Einwegflaschen landen im Recycling, die Kreislaufwirtschaft funktioniert. Deutschland übertrifft die Ziele, die die EU nun ganz Europa gesteckt hat und die unter anderem mit dieser Maßnahme erreicht werden sollen.

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Kurz: Wir bekommen einen Nachteil aufgebürdet, ohne dass wir etwas falsch gemacht haben. Und diese Bürde tragen wir für ein Ziel – saubere Strände, schöne Meere –, an denen die allermeisten Deutschen nicht mal leben. Seit mir dieser Versuchsaufbau klar geworden ist, halte ich die »Tethered Caps« für ein Sozialexperiment. Mit uns allen und mir selbst mittendrin.

Während es immer heißt, die deutsche Gesellschaft sei gespalten, sind sich doch sehr viele Leute ziemlich einig darin, dass sie keine Kollektivität hinnehmen wollen. Sie haben den Anspruch, von der Gemeinschaft unbehelligt ihren Vorteil suchen zu können. Äußern kann sich das auf Tausende von Arten, aber der Nukleus scheint mir gleich. Sie wenden sich gegen Flüchtlingsunterbringung in der Nachbarschaft, verklagen die Grundschullehrerin ihres Kindes oder weigern sich, in einer engen Straßenpassage mit ihrem Auto zurückzusetzen, damit der Müllwagen durchkann. Niemand schmeißt den Müllsack in die Tonne, alle schreiben lieber Zettel an die »Lieben Nachbarn«, es möge sich derjenige, der vergessen hat, seinen Müll zu entsorgen, bitte darum kümmern. In München wird man auf dem Radweg angeklingelt, wenn man langsam fährt. Wenn schon die Verhinderung zu rasen eine unerträgliche Einschränkung für den Einzelnen ist, wird ein angebundener Deckel zur echten Kränkung.

Die Soziologin Carolin Amlinger und der Soziologe Oliver Nachtwey vermuten dahinter ein Missverständnis des Freiheitsbegriffs: Freiheit werde demnach als »individueller Besitzstand« aufgefasst, als etwas, das einem höchstpersönlich gehört und durch Verhaltenszumutungen von außen bedroht wird. In dieser Fehlannahme sei Freiheit kontextlos und aus jedem Sozialgefüge herausgelöst.

Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber für mich war es heilsam, mich auf diese peinliche Art selbst zu ertappen. Ich sage nichts mehr über den Deckel, nie wieder. Und alle, die ich auf der Straße mit einer Ein­wegflasche in der Hand dabei beobachte, wie sie tapfer versuchen, am Kratzverschluss vorbei­zutrinken, werde ich solidarisch anlächeln.