Ein Drink wie ein Schuss durch die linke Hand

Dass man bei einem Barbesuch viel über die Menschen lernen kann, ist bekannt. Aber studieren Sie doch mal genau so intensiv die Cocktailkarte – dort versteckt sich einiges an historischem Wissen. 

Foto: Erli Grünzweil

Mein Vater begann als Junge mit dem Briefmarkensammeln und hat bis heute – er wurde im Frühjahr 80 – nicht damit aufgehört. Indem er auf Kleinigkeiten achtgeben müsse, komme er zur Ruhe, sagt er, ein abgebrochener Zacken, eine dünne Stelle, aber viel wichtiger: Man könne so viel dabei lernen. Hier eine Jubiläumsmarke, dort eine Sonderausgabe, beim Sortieren der Bildchen bekomme er nebenbei alles Mögliche mit, historische Ereignisse, Geburts- und Sterbedaten berühmter Persönlichkeiten. Vor Kurzem sei eine Marke zum 125. Geburtstag von Erich Kästner erschienen, das sei doch interessant und irgendwie auch schön, weil er sofort an Das fliegende Klassenzimmer denken müsse, also an seine Kindheit, aber mehr noch an seine Kinder, also an meine Schwester und mich.

Ich höre ihm zu und denke: Genau so geht’s mir beim Trinken, Papa. Ein Drink in einer schönen Bar lässt mich zur Ruhe kommen, meine Sinne sind geschärft, ich nehme anders, präziser wahr, beobachte Menschen, lausche Gesprächen – allein in einer Bar fühle ich mich intensiver am Leben. Und was man alles lernt dabei: Wussten Sie, dass der Negroni auf den exzentrischen Grafen Camillo Negroni zurückgehen soll? Und okay, vielleicht haben Sie schon mal gehört, dass eine Bloody Mary irgendwas mit der englischen Königin Mary I. Tudor zu tun hat – aber was genau? Und wann hat sie noch mal gelebt? Und hat sie Katholiken oder Protestanten verbrennen lassen? Es kommt immer wieder vor, dass ich nach einem Blick auf eine gut sortierte Cocktailkarte ein paar Fakten google, weil ich irgendwas genauer wissen will.

Neulich hat dieses Nachschlagen mehrere Tage gedauert. Der Cocktail hieß Rimbaud’s left Hand, und ich hatte tatsächlich noch nie von ihm gehört: eine Mischung aus Absinth, Bénédictine, Orangenlikör, Zitronen- und Ananassaft, einem Eiweiß und einigen Spritzern Rosenwasser. Und logisch, wenn mich jemand fragt, würde ich immer sagen: Rimbaud, schon klar, der romantische Feuerkopf, auch würde ich darauf wetten, dass er ein ausschweifendes Leben geführt hat und nicht alt geworden ist, aber sicher wäre ich mir nicht, und ein Gedicht könnte ich auch nicht aufsagen, das nennt man dann wohl Halb-, nein, Viertelwissen. Und dann haben wir noch nicht über die ominöse linke Hand gesprochen. Rimbaud’s left Hand – warum? Inzwischen habe ich mich eingelesen und komme nicht mehr los, so fasziniert bin ich von diesem Mann und seinen Gedichten.

Meistgelesen diese Woche:

»Als ich mich schleppte durch die unbewegten Flüsse / war ich die Mannschaft los und allein. / Kopfjäger hatten sie zum Ziel ihrer Schüsse nackend an Pfähle genagelt / mit entsetzlichem Schreien.« Okay, solche Verse kann man schreiben – aber mit 16? Was für ein Junge muss der kleine Arthur gewesen sein, dass er in den Wirren des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 immer wieder nach Paris ausbüxte, weil er die Enge seiner Heimatstadt nicht aushielt. Ein freiheitstrunkener Rebell, der wenige Jahre später bekannte: »Fürs erste lege ich es darauf an, soweit wie möglich zu verlumpen. Warum? Ich will Dichter werden, ich arbeite daran, mich sehend zu machen.«

Vielleicht bin ich kindisch, aber manchmal empfinde ich heftige Sehnsucht nach Menschen wie Rimbaud, die aufs Ganze gehen, in der Liebe, im Leben und im Schreiben, auch und gerade weil man selbst so oft so feige ist. Ach ja, 1873 schoss ihm sein Liebhaber, der (verheiratete) Dichter Paul Verlaine, aus Verzweiflung in die linke Hand. Verlaine kam ins Zuchthaus und wurde religiös. Rimbaud veröffentlichte einen Band mit dem Titel Eine Zeit in der Hölle. Also, ich kann gerade nicht genug von solchen Geschichten bekommen.