Ein guter Kompromiss

Er ist kein halbes Bier und schon gar kein kleines – der Schnitt ist der Beweis dafür, dass man Konflikte auch charmant aus der Welt schaffen kann.

Maurizio Di Iorio

Was beim Essen das Pumuckl-Schnitzel, ist beim Trinken der Schnitt: eine abgespeckte Variante des Originals, weil eine ganze Portion noch nicht (Schnitzel) oder nicht mehr (Bier) reinpasst in den Bauch. Der Schnitt – in manchen Gegenden sagt man Pfiff oder Spruz – ist der weise Kompromiss. Hätte es im zehnten Jahrhundert vor Christus schon Zapfanlagen gegeben, König Salomo hätte einen Schnitt nach dem anderen bestellt.

Bevor ich weiterschreibe, eine Begriffserklärung, weil der Schnitt nördlich von Bayern eher nicht bekannt ist: Der Schnitt ist kein halbes, schon gar kein kleines Bier, er lässt sich nicht exakt definieren, fällt mal mehr, mal weniger großzügig aus. Man bestellt ihn, bevor man sich auf den Weg macht, ein Rausschmeißer, das letzte, wirklich allerletzte Bier, bevor man nach Hause wackelt, die Schuhe vor der Haustür abstreift, ins Badezimmer schleicht, sich (vielleicht) die Zähne putzt, ins Bett legt und krampfhaft versucht, keinen Blick auf den Digitalwecker zu werfen, weil man in vier, vielleicht drei Stunden wieder aufstehen muss, so genau möchte man das jetzt nicht wissen. Manche behaupten, es habe eine Zeit gegeben, in der die Wirte ihren Gästen den

Schnitt umsonst hingestellt haben, als kleines Dankeschön für die Zeche, aber das muss lange her sein, weil sich niemand mehr daran erinnert.

Meistgelesen diese Woche:

Was nicht geht: in ein Wirtshaus gehen und einen Schnitt bestellen. Das gehört sich nicht. Mindestens ein Bier sollte man schon getrunken haben, bevor man einen Schnitt bestellt, besser zwei oder fünf oder acht. Für einen Schnitt hält der Wirt das Glas nicht schräg, sondern gerade unter den Zapfhahn. Das Bier saust nach unten, Schaum füllt das Glas bis zum Rand, der sich allmählich senkt und nach ein paar Minuten, wenn man Glück hat, fast ein ganzes, und wenn man Pech hat, weniger als ein halbes Bier ergibt.

Seitdem ich vor 15 Jahren nach München gezogen bin, liebe ich den Schnitt. Für mich ist er ein Beispiel dafür, wie charmant man einen Konflikt lösen kann, und sei es nur ein unbedeutender wie die Frage, ob man noch ein Bier trinken soll. Die Tradition des Schnitts zeigt, wie sich zwei Menschen (der Wirt und der Gast) ganz ohne Paragraf und ­Algorithmus auf eine Absprache einigen können. Für mich ist der Schnitt eine Hommage an ein friedliches Miteinander, ein Symbol für Menschlichkeit, ein Zeichen der Hoffnung, dass es vielleicht auch wichtigere Menschen als ich – nennen wir sie Trump oder Xi Jinping, Handke oder Stanišic´, Rummenigge oder Kovacˇ – schaffen können, sich zu einigen nach dem Motto: Ganz? Geht nicht. Gar nicht? Geht auch nicht. Mein Gott, dann treffen wir uns halt in der Mitte.

Für mich ist der Schnitt ideal, weil ich einer bin, der den Absprung nicht schafft, der nicht wahrhaben will, dass etwas zu Ende geht, zum Beispiel dieser Abend mit dem alten Freund, den man fünf Jahre lang nicht gesehen hat. Um ihn in die Länge zu ziehen, ist mir jedes Mittel recht: Espresso, Schnaps, noch ein Schnaps, diese Bar am Eck, die bis morgens um sechs offen hat, und eben: der Schnitt. Die Worte sind fast immer die gleichen: »Na ja, dann pack ma’s halt … oder wart, ein Schnitt geht no, oder?!« Mein Rekord sind sechs Schnitt, also sechs Abschiedsbiere, während auf den anderen Tischen schon die Stühle standen. Natürlich gibt es Wirte, die da nicht mitmachen, die sich verarscht vorkommen. Aber es gibt auch solche, die Verständnis für diese ­Momente haben, die lächelnd noch einen Schnitt zapfen und noch einen. Es sind die, die man ins Herz schließt und die verstanden haben, worum es geht – an diesem Abend und im ganzen Leben.