Vor einigen Jahren traf ich den Schriftsteller Ferdinand von Schirach. Wir hatten uns im »Manzini« in Berlin-Wilmersdorf verabredet, und ich weiß noch, dass die Sonne schien, als er, ganz in Schwarz gekleidet, auf einem ebenfalls schwarzen, altmodischen Herrenfahrrad angerollt kam. Er stieg ab, lehnte es gegen einen Baum und bewegte sich so aufreizend langsam, fast wie in Zeitlupe auf mich zu, dass ich ihn fragte, ob er angeschlagen sei. »Nein«, sagte er, »ich gehe absichtlich so langsam.« Wenn man beim Gehen den Eindruck habe, dass man nicht vom Fleck komme, mache man es richtig. Schon klar, dachte ich, der Berufsflaneur protestiert gegen die Betriebsamkeit unserer Zeit – muss man sich halt leisten können.
Diese kleine Szene kam mir in den Sinn, als ich einen Werbespot sah, den ich zugegebenermaßen nicht auf Anhieb verstand. Es ging um einen jungen Mann, der mit einer bunten Spielzeug-Loopingbahn spielte, und eine in ihrem Cremeton äußerst zeitgemäß anmutende Trinkflasche mit der Aufschrift J*st Food. »Essen getrunken, Zeit genutzt«, sagte eine Stimme aus dem Off, und dann noch irgendwas, woran ich mich nicht erinnere, weil ich schon darüber nachdachte, worum es hier eigentlich geht. Sie lachen? Gut, ich bin etwas altmodisch und tue mich mit neuen Trends oft schwer, möchte aber zu meiner Verteidigung anführen, dass wir Menschen äußerst talentiert darin sind, das Abnorme normal erscheinen zu lassen, weswegen ich immer ein bisschen skeptisch bin, bevor ich neue Moden akzeptiere oder übernehme. Irgendwann aber hatte ich den Spot verstanden: Beworben wurde ein Getränk mit wahlweise Bananen-, Beeren-, Schoko- oder Cookiegeschmack, das eine vollwertige Mahlzeit ersetzt, also zum Beispiel einen Schweinebraten oder Udonnudeln mit Tofubröseln. Der Vorteil: Weil man fürs Essen nur noch zehn Sekunden benötigt, hat man mehr Zeit für die wichtigen Dinge im Leben, und ich weiß noch, dass ich dachte, »welche auch immer das sein könnten«, weil in meiner persönlichen Rangliste Essen weit oben angesiedelt ist.
Was ich sagen will: Ich verstehe schon die Idee, kann sie aber nicht nachvollziehen, weil ich nicht nur keinen Nutzen, sondern einen gewaltigen Schaden darin erkenne, etwas so Grandioses wie Essen einfach wegzulassen. Okay, es mag vorkommen, dass einem Vorstandsvorsitzenden so ein Fläschchen zwischen mehreren Videocalls mit Singapur nützlich sein kann, aber grundsätzlich würde ich die Sache immer von der anderen Seite aus angehen: Wer keine Zeit zum Essen hat, lebt verkehrt. Und die Lösung kann nicht sein, seine Mahlzeit zu trinken, sondern sein Leben umzustellen. Wenn ich ehrlich bin, ertappe ich mich einfach nur dadurch, dass ich die Menschen in meiner Umgebung beobachte, immer häufiger bei der Frage, ob uns unsere Erfindungen eigentlich noch helfen, das Leben zu führen, das wir haben wollen, oder ob sie uns längst vorschreiben, welches Leben wir zu führen haben, ohne dass wir es richtig merken? Ich meine, erst haben wir die gestärkten Servietten weggelassen, dann das schöne Besteck, danach haben wir uns das Zeug to go bestellt, und jetzt lassen wir es einfach ganz weg. Warum dieser Stress? Dieser hysterische Hang zu Geschwindigkeit und Effizienz? Was lassen wir als Nächstes weg? Schlafen? Sex? Faulenzen? Und was machen wir eigentlich stattdessen?
Seit ich denken kann, mache ich mich über Menschen lustig, die in ernsthafte Debatten hübsch klingende, aber aus dem Kontext gerissene Zitate einwerfen, gern von Friedrich Nietzsche oder Antoine de Saint-Exupéry. Aber wenn es passt, passt es eben: »Und als sie das Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten sich ihre Anstrengungen.« Soll von Mark Twain sein.