Nierengeschichten sind ja so interessant. Denn einerseits hängen sie meistens mit ganz konkreten Ereignissen zusammen, zum Beispiel einem nassen Bikini nach dem abgekühlten Mittelmeer im Oktober, frischem Wind am Strand und der kindischen Weigerung, trockene Sachen anzuziehen, andererseits kommt der Ausdruck, dass Menschen etwas an die Nieren geht, nicht von ungefähr. Bei mir etwa muss nur eine Weile etwas Großes schieflaufen, während ich geflissentlich so tue, als wäre nichts, und irgendwann, unterstützt vom nassen Bikini, drucken meine Nieren mir zuverlässig eine Quittung aus, auf der steht: »Merkst du eigentlich noch was?«
Als ich Anfang des Jahres eine deutlich lesbare Quittung für die Monate zuvor ausgehändigt bekam – 40 Grad Fieber, Schüttelfrost, Rückenschmerzen –, war ich empört. Ernsthaft? Wegen der paar klammen Badesachen, einer winzigen, ignorierten Blasenentzündung und der Verdrängung meiner üblichen Existenzängste, die sich nur kurzzeitig mal um Faktor zehn potenziert hatten? Meine Güte, ich habe schon ganz andere Sachen verdrängt, da muss man sich doch nicht gleich ins Höschen machen, entzünden und übermorgen den ganzen Körper vergiften. Eine erwachsenere Version meiner selbst hätte natürlich darauf kommen können, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem nassen Frösteln am Strand und dem darauf folgenden anhaltenden Zwitschern in meiner Blase (»Ich trinke einfach sehr viel!«), dem stechenden Schmerz im linken Harnleiter (»Ist nur ein verrenkter Eierstock, geht wieder weg!«), meiner ungesunden Gesichts-farbe im Spiegel (»Dieser niedrige Blutdruck immer!«). Außerdem hätte ich anerkennen müssen, dass ich mir nach weiträumigen beruflichen Umwälzungen, die nicht ohne Schmerzen abgegangen sind, vielleicht mal ein bisschen Ruhe hätte gönnen sollen, statt über Weihnachten und Silvester durchzuarbeiten. Na ja, ich hab’s überlebt, allerdings nur dank der modernen Medizin.
Aber seit meiner letzten Nierenbeckenentzündung versuche ich, etwas achtsamer zu sein, ich versuche, mit mir selbst und gerade mit meinen Nieren in einem guten Kontakt zu bleiben, ich versuche, meinem Körper, meiner Psyche und all diesen Zusammenhängen mit Respekt zu begegnen, mit Aufmerksamkeit und Zuwendung, um auf gar keinen Fall wieder irgendwelche Quittungen ausgestellt zu bekommen, nur weil ich keinen Bock auf trockene Klamotten habe und meine Ängste verdränge.
Also trinke ich jeden Morgen höchst achtsam eine Tasse Blasen- und Nierentee. Früher hätte ich so was nie getrunken, ich kannte den Tee nur aus einem albernen Witz über einen Patienten und eine Pflegekraft – »Schwester, können Sie mir bitte einen Blasen- und Nierentee bringen?« –, und wenn ich das Gebräu jetzt allmorgendlich runterwürge, weiß ich wieder, warum. Birkenblätter, Riesengoldrutenkraut, Queckenwurzelstock, Süßholzwurzel und Schachtelhalmkraut, das kann nicht viel anders schmecken als das, was die Nieren produzieren, aber vielleicht gibt es ja auch da einen Zusammenhang, den ich nur noch nicht verstehe.
Mein Sohn sagte neulich, als er mich dabei erwischte, wie ich versuchte, den schweren Küchentisch allein durch die Gegend zu wuchten, mit einem beginnenden Tennisarm wohlgemerkt, ich sei wie Monty Pythons Schwarzer Ritter, der im Schwertkampf längst beide Arme und Beine verloren hat, aber immer noch weitermachen will, der sogar behauptet, er könne noch gewinnen. Ich, komplett in den Küchentisch verkeilt, sagte, das sei Quatsch, ich würde seit Neuestem sehr auf mich achten und total erwachsenen Nierentee trinken. Er schüttelte den Kopf, nahm mir den Tisch ab und ging.

