Der 24. April 1982 war ein bedeutender Tag. Für Deutschland, weil die erst 17-jährige Schlagersängerin Nicole den Grand Prix Eurovision de la Chanson gewann, die Älteren dürften sich erinnern, öde Nummer, aber halt irgendwas mit Frieden plus weiße Gitarre. Und für mich, weil ich wegen eines Wochenendausflugs meiner Eltern zum ersten Mal bei meinen Großeltern übernachten durfte, die in einem viel kleineren, aber auch gemütlicheren, geheimnisvolleren Haus wohnten. Obwohl weite Teile meiner frühen Kindheit – ich war damals sechs – im Dunkeln liegen, erinnere ich mich präzise an diesen Samstagabend. Vor allem mein Großvater steht mir lebhaft vor Augen, im Fernsehsessel thronend, die dicke Hornbrille auf der Nase, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen einen Bierkrug mit Daumenheber und Klappdeckel, aus dem er alle paar Minuten einen kräftigen Schluck nahm. Ich erinnere mich sogar an das metallische Klappern, das ertönte, wenn er den Deckel zurück auf den Krug sinken ließ.
Dieser Bierkrug war nicht irgendein, sondern sein Bierkrug, einen zweiten gab es nicht, Gläser schienen nicht infrage zu kommen. Jahrzehntelang trank er Abend für Abend sein Feierabendbier aus genau diesem Krug. Für mich ist der Krug ein Symbol der Gemütlichkeit und des Angekommenseins: Ein Mann, der 1920 geboren wurde, alte Sprachen liebte und zeitlebens einen schmalen Kamm in der Hosentasche trug, um seine (und meine) drahtigen Locken zu bändigen, weiß, wo er hingehört, wo er den Rest seines Lebens verbringen und am Ende auch begraben werden will. Selbstverständlich hat er nicht viel von der Welt gesehen, Italien, ein paar Seen in Oberbayern und Österreich, und natürlich Russland, wo sie ihm in den Oberschenkel geschossen haben.
Es ist ein paar Jahre her, dass ich in einem Trödelladen einen solchen Bierkrug erstanden habe. Ich entdeckte ihn zwischen alten Gläsern im Regal und wusste sofort: Den muss ich haben – Größe, Gewicht, das eingravierte Wappen, alles passte. Auf einmal fand ich es die logischste Sache der Welt, einen solchen Krug zu besitzen und jeden Abend ein kühles Bier aus ihm zu trinken. Ich freute mich wie ein kleines Kind darauf, die Tradition meines Großvaters fortzusetzen, nachdem mein Vater, der so gut wie nie Alkohol trinkt, sie so schmählich vernachlässigt hatte. Ich wollte meinem Leben ein Ritual hinzufügen, weil ich davon überzeugt bin, dass Rituale uns mit etwas verbinden, das man nicht sehen, nur spüren kann, etwas, das größer ist als wir selbst, nicht zuletzt mit Menschen, die lange vor uns gelebt haben, ohne die es uns aber nicht gäbe. »Rituale«, schreibt der Philosoph Byung-Chul Han, »verwandeln das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause-Sein, sie machen aus der Welt einen verlässlichen Ort«, und das glaube ich auch, ich hätte es nur nicht so schön ausdrücken können.
Ich weiß nicht, wie oft ich den Krug in den vergangenen Jahren aus dem Schrank geholt habe. Fünfmal? Sechsmal? Die anfängliche Euphorie war schnell verflogen, das Ritual ließ sich nicht einhalten, weil ich permanent irgendwo eingeladen oder unterwegs, jedenfalls nicht zu Hause war, irgendwann geriet es in Vergessenheit. Mein Leben ist anders als das meines Großvaters, abwechslungsreicher, aber auch unruhiger, zerrissener. Ich sitze nicht jeden Abend im Wohnzimmer, ich trinke Cappuccino im Café, Weißbier im ICE-Bordbistro, Gin Tonic in der Hotelbar, und manchmal spaziere ich nachts um drei zum Kiosk bei mir um die Ecke, weil der Kühlschrank leer ist. Ich lebe in München, bin aber meistens woanders, von den vergangenen hundert Nächten habe ich sechzig nicht in meiner Wohnung verbracht, ich führe ein Leben zwischen den Orten, und das ist oft aufregend, aber irgendwie auch wahnsinnig traurig.

