Als ich Chefin wurde, ging ich zu einem Coaching. Ich hatte ein klein gefaltetes Briefchen dabei, ein ausgerissenes Blatt aus einem karierten Block. Darauf hinter Spiegelstrichen meine Fragen an die neue Rolle: Wie viel Loyalität schulde ich meinen ehemaligen Kollegen? Wie viel Loyalität schulde ich meinen Vorgesetzten? Wie agiert man klug in einem Team, in dem die anderen einander schon lange kennen? Worauf muss ich besonders achten, weil ich eine Frau bin? Wie identifiziere ich die wichtigen Kämpfe unter den unwichtigen, und was ist meine persönliche Art, sie zu gewinnen? Um dem Entscheidenden vorzugreifen: Keine dieser Fragen hat mir die Expertin beantwortet.
Sie riet mir stattdessen, wichtigen Menschen Weihnachtskarten zu schreiben und jeden September telefonisch bei den Leuten nachzuhören, wie ihr Familiensommer war. Ihr ganzes Bemühen war nicht darauf ausgerichtet, den einen Job möglichst gut zu machen, sondern auf den nächstbesseren hinzuarbeiten. Als ich ihre Coachingzone nach drei Stunden wieder verließ, hatte sie mir allerhand auf meinen Zettel diktiert: Ich solle mir eigenes Briefpapier anfertigen lassen mit meinen Initialen und meiner Privatadresse, ich solle eine Liste mit anderen Führungskräften anfertigen, die ich jedes Jahr zum Kaffee treffen würde, und mir in einem Büchlein die Vorlieben dieser Leute notieren. Ich muss heute noch lachen, wenn ich daran denke.
Ich gehe manchmal nicht ans Telefon, wenn mein Chef anruft. Ich verschicke Weihnachtspost nur an meine liebsten Autorinnen. Und ich habe ein Büchlein, aber darin notiere ich meine eigenen Vorlieben.
So wurde ich also Chefin mit einer sauteuren, aber nutzlosen und dummerweise selbst bezahlten Proficoachin im Rücken. Ich mache seit Jahren alles aus dem Bauch heraus, sage, wann immer es geht, was ich wirklich denke, und versuche erst mal, von allen das Beste anzunehmen. Das war’s.
Ich erinnere mich gut an all die Feiern, auf denen Wein oder Bier ausgeschenkt wurden – aus der Perspektive der Mitarbeiterin
Immerhin komplett ohne fremde Hilfe habe ich die Abende mit Alkohol als den natürlichen Feind jedes Vorgesetzten identifiziert. Oder eher: den Vorgesetzten als Feind des Abends. Denn ich erinnere mich gut an all die Feiern, auf denen Wein oder Bier ausgeschenkt wurden – aus der Perspektive der Mitarbeiterin. Irgendwann im Laufe des Abends wollte man endlich so reden, wie man halt redet. Nicht über die Arbeit, nicht über Ehrgeiz und Chancen oder über Ideen, nicht mehr so tun, als sei dieser Job das Beste, was man zu bedenken hat. Es sollte endlich um Liebe gehen und Fernweh, Zigaretten, Erfahrungen und Unzulänglichkeiten, um Quatsch und das gemeinsame Lachen darüber. Man wollte die Haare aufmachen, das Glas zu viel trinken und dann noch eins, tanzen, viel zu laut reden oder irgendwem etwas ins Ohr flüstern. Aber nicht vor dem Chef.
Wobei kaum zu unterscheiden ist, was unangenehmer wäre: ein Chef, der steif und nüchtern an der Seite steht und das Treiben beobachtet, immer noch versuchend, auch in diesem Rahmen die Kontrolle zu be-halten. Oder das Gegenteil: ein Chef, der sich untermischt, viel zu viel trinkt und selbst am lautesten wilde Geschichten erzählt. Ohne zu merken, dass er an diesem sozialen Spiel mit gezinkten Karten teilnimmt. Schließlich kann man schwer den Chef zurechtweisen, seinen Witzen das Lachen verweigern, seinen Gesprächskreis einfach gelangweilt verlassen.
Nein, es gibt keine gute Rolle für einen Chef auf einer Party. Mag sein, das er oder sie in den Büroräumen, der Werkshalle oder im Pflegerzimmer was zu sagen hat. Aber hier, wo der Spaß beginnt, hört sein Wirkungsgebiet auf. Das beste Weihnachtsgeschenk eines Chefs ist es, den anderen eine ordentliche Weihnachtsfeier zu ermöglichen – und früh zu gehen.

