In der Schwebe

Im Übergang von einem Jahr ins nächste empfindet unsere Autorin eine Mischung aus Sorge und Tatendrang, aus der doch selten Neues wird. Wie sie das aushält? Nur dank Sonne, Strand und den Worten eines Altbundespräsidenten.

Foto: Erli Grünzweil

Eigentlich versuche ich, mir immer wenig vorzunehmen für das neue Jahr. Nicht weil ich perfekt wäre, im Gegenteil, ich bin als Arbeitnehmerin unorganisiert, als Mutter ungeduldig und als Partnerin weinerlich. Trotz all dieser Baustellen hatte ich mir im vergangenen Januar bloß folgenden Minimalanspruch auferlegt – nur dass Sie einen Eindruck kriegen von meiner Ambitionslosigkeit: Ich wollte aufhören, Himbeeren im Supermarkt zu kaufen. Weil man immer nur die Hälfte essen kann, und das eigentlich auch nur auf dem Rückweg vom Supermarkt nach Hause. Sie schimmeln, sobald man sie aus den Augen lässt.

Ich versuche auch, den 31. Dezember oder den 1. Januar nicht allzu sehr als Zäsur zu begreifen. Trotzdem ist da immer diese klamme Mischung aus Sorge und Tatendrang. Dieses Innehalten und Abtasten. Was war gut, was war schlecht? Als ob man entscheiden könnte, was davon man ins nächste Jahr nehmen will. Habe mich immer gefragt, warum mich diese Zeit in eine solche Unruhe versetzt. Antwort fand ich an unerwarteter Stelle.

Wegen latenter Sehnsucht nach guter politischer Kommunikation las ich neulich in die Neujahrs­ansprachen ehemaliger Staatsoberhäupter hinein. Ich gehöre nicht zu denen, die den Kanzler Friedrich Merz immer wieder empört missverstehen, aber etwas Besseres vorstellen könnte ich mir schon. Unser erster Bundespräsident, Theodor Heuss, fragte 1950 – seine Ansprache lief noch über das Radio, ins Fernsehen kam sie erst 1952 – seine Landsleute: »Der Mensch, in aller Welt ist es so, überschreitet die Jahresgrenze in einer Mischung von rückschauender Sentimentalität und ver­wegenem Optimismus – besitzen wir Unbefangenheit und Kraft, zu solcher Schwebe­lage der Gefühle etwas Eigenes zu sagen?«

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Als Theodor Heuss so ansetzte, hatte er es wahrlich noch mal mit einer ganz anderen Dimension von Schwebelage der Gefühle zu tun. Die Deutschen waren gerade fünf Jahre aus dem Krieg raus, lebten in Schuld und Trümmern. Und auch die Sache mit dem Optimismus dürfte damals schwerer gefallen sein. Aber die Wucht liegt in »der Schwebelage der Gefühle«. Was für eine schöne Formulierung! Ist es doch genau das, oder? Diese paar Tage, in denen man meint, sich neu sortieren zu müssen. Mit neuen Plänen und neuem Mut in das neue Jahr zu gehen, während man in Wahrheit einfach nur total müde und kaputt ist vom alten. Trübe Tage, begleitet von dem latent schlechten Gewissen, ohne Buch in der Hand herumzuliegen und ohne Ziel spazieren zu gehen. Im Sich-Sammeln soll man schon wieder zum Sprung ansetzen? Soll Vorsätze fassen und die Schwebe überwinden? Vielleicht deshalb hat mich die Wortwahl so begeistert. Hier wird die allgemeine Schwebelage nicht nur ange­sprochen, es wird klar, dass sie bedrückend ist. Dass es gilt, sie auszuhalten und eine eigene Antwort zu finden.

Über die Jahre haben die Neujahrsansprachen – später hielt sie der Kanzler oder die Kanzlerin und nicht mehr der Bundespräsident – stark an Pathos eingebüßt. Vor allem Helmut Schmidt hat den großen Gefühlen den Stecker gezogen: »Sie erwarten von mir an diesem letzten Abend des Jahres keine erbaulichen Sprüche.«

Ich fürchte, ich bin auch eher die Abwinkerin. Von mir kommt hier nichts Erbauliches. Ich mache »zwischen den Jahren«, in dieser Schwebezeit, immer Urlaub in einem ganz anderen Kontext. Mit anderem Wetter, anderen Gerüchen und anderer Sprache. Legitimiere das Rum­liegen durch eine Sonnenliege und den Blick aufs Meer. Dort ist viel leichter auszuhalten, dass am Ende alles gleich bleibt.