Ein Drink, der sich »altmodisch« nennt, weckt eine Vielzahl fragwürdiger Assoziationen, die von holzvertäfelten Herrenzimmern bis zu Alexander Gauland reichen. Wenn man jetzt noch erfährt, dass der Old Fashioned in seiner langen Lebensspanne – das Rezept besteht seit 1806, also dem Jahr, in dem die preußische Armee bei Jena eine schwere Niederlage gegen Napoleons Truppen hinnehmen musste – als stark alkoholhaltiger Altherrendrink serviert wurde und es ein Vertreter des europäischen Hochadels war, der ihn mir vor Jahren ans Herz gelegt hat, blättern die ersten zeitgemäßen Leserinnen und Leser vielleicht schon weiter.
Tun Sie es nicht! Geben Sie dem Old Fashioned eine Chance! Es geht im Leben, und erst recht bei Getränken, nicht um alt oder neu, es geht um Qualität, Stimmigkeit, Wahrhaftigkeit. Man traut es sich kaum hinzuschreiben, aber ausnahmsweise stimmt es: Der Old Fashioned ist ein Klassiker, der New Yorker Cocktailexperte Jim Meehan bezeichnet ihn als die »Mutter aller Cocktails«. Der Urform eines Cocktails entsprechend besteht er aus einer Spirituose, dazu kommen Zucker, Wasser und Cocktailbitters, gelegentlich garniert von einer Orangen- oder Zitronenzeste. Meistens wird er als Whiskey-Cocktail auf Eis bestellt, inzwischen gibt es ihn aber auch auf der Basis von Rum, Cognac und sogar Mezcal. Nachdem er hundert Jahre lang einer der populärsten Cocktails überhaupt war, wurde er gegen Ende des 20. Jahrhunderts von zeitgemäßeren Getränken verdrängt – bis Don Draper in Mad Men so viele davon runterkippte, dass der Old Fashioned inzwischen auch von jüngeren Netflix-Schauern (oft in einer heruntergeregelten Variante mit Früchten und ein paar zusätzlichen Spritzern Soda) so selbstverständlich bestellt wird wie ein Gin Tonic oder ein Ingwer-Minz-Tee.
Für mich ist der Old Fashioned in seiner Einfachheit und Klarheit einer der elegantesten Drinks überhaupt. Ich mag auch das sich nach unten hin verjüngende Becherglas, in dem er serviert werden sollte. Sobald ich den ersten Schluck nehme, werde ich verlässlich von einem erhabenen Bewusstseinsstrom mitgerissen, ja es kommt mir vor, als tränke ich Geschichte. Vor mir tauchen Bilder und Filmszenen auf: Fred Astaire im Smoking, wie er in You Were Never Lovelier der berückend gut aussehenden Rita Hayworth im schwarzen Abendkleid gesteht: »I’m old fashioned«, nur ein gewöhnlicher Kerl aus dem Mittleren Westen, aufgewachsen zwischen Heuschrecken und Maisfeldern. Oder Robert Redford als Jay Gatsby, bewundert und einsam, im Smoking auf seiner eigenen Gartenparty. Oder Yul Brynner, wie er am Ende von Die glorreichen Sieben von einer staubigen Anhöhe auf dieses mexikanische Dorf hinunterblickt und sagt: »Nur die Farmer konnten gewinnen. Wir haben verloren! – Wir verlieren immer!« Ich sehe Truman Capote mit Sonnenbrille, wie er 1975 von Johnny Carson interviewt wird, Hannah Arendt, wie sie mit Zigarette im Mundwinkel eine Vorlesung an der FU Berlin hält, Ernest Hemingway, wie er mit Schweißringen unter den Achseln unter einer gleißenden Sonne große Sätze in seine Hermes-Baby-Schreibmaschine hämmert.
Ich habe keine Ahnung, ob diese Menschen jemals einen Old Fashioned getrunken haben. Natürlich handelt es sich um haltlose Fantasien, sinnlose Träumereien, Projektionen ohne Grundlage, aber hey, das Zeug ist ja auch stark.