Wer zu lange an einem Ort verharrt, dem wird dieser Ort zur Welt; die Vorstellungskraft lässt nach, der Radius wird enger, und ehe man sich versieht, kann man sich nicht mehr vorstellen, dass andere Menschen ganz anders leben wollen oder müssen als man selbst, dass also die Logik, in der man vor sich hin existiert, mit all ihren Annehmlichkeiten und Ärgernissen keineswegs die Regel, sondern meistens die Ausnahme, manchmal sogar eine historische Ausnahme ist.
Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass mehr als 80 Prozent aller Menschen noch nie in einem Flugzeug gesessen sind? Oder, dass Netflix 221 Millionen Abonnenten hat, was nichts anderes heißt, als dass über 97 Prozent der Weltbevölkerung kein Netflix schauen? Oder dass frisch gepresster Zuckerrohrsaft, mit dem man in Mitteleuropa kaum in Berührung kommt, in den meisten Teilen der Welt so selbstverständlich getrunken wird wie bei uns naturtrübe Apfelsaftschorle? Tatsächlich ist Zuckerrohr neben Mais die einzige Nahrungspflanze weltweit, deren jährliche Erntemenge über einer Milliarde Tonnen liegt, also ein Riesending, gastronomisch, wirtschaftlich, politisch, wir haben nur keine Ahnung davon.
Sobald man Europa aber verlässt, kann man dem Zuckerrohrsaft kaum entkommen: Kuba, Vietnam, Ägypten, Pakistan, Brasilien – wohin man auch schaut, wohin man auch schlendert, irgendein Straßenverkäufer ist immer schon da; ein provisorisch zusammengezimmerter Stand, eine Walzpresse, ein Sack Zuckerrohrstangen, ein paar Plastikbecher, eine Truhe Crushed Ice. Mal heißt das Getränk Guarapo (Kuba), mal Garapa (Brasilien) oder Assab (Ägypten), schmecken tut es immer gleich, nämlich gewöhnungsbedürftig, aber irgendwie auch interessant, erfrischend, gar nicht so süß, eher herb und irgendwie würzig.
Übrigens ist Zuckerrohrsaft,
anders als der Name vermuten lässt, überaus gesund.
In München habe ich jahrelang nach einem Ort gesucht, an dem es frisch gepressten Zuckerrohrsaft gibt, denn natürlich kann man ihn abgefüllt kaufen, in Dosen oder Flaschen, aber wer einmal live beim Auspressen dabei war, für den gehört es irgendwie dazu. Vor ein paar Wochen bin ich fündig geworden: eine Art unterirdische Fressmeile gegenüber vom Stachus, direkt unter der Galeria-Kaufhof-Filiale, die gerade dichtgemacht hat, ein unscheinbarer Vietnamese, eingeklemmt zwischen einem Pils-Pub und einem Griechen. Ich konnte mein Glück kaum fassen, bestellte ein großes Glas, fand sofort wieder ein sonderbares Gefallen an den mechanischen Quietschgeräuschen der Walzpresse, trank es in einem Zug leer und war für einen Moment weg, weit weg, an einem Ort, viel schöner als eine Münchner S-Bahn-Station mit ihren Tütentouristen und Dönerfleischresten am Boden; für zwei, drei Sekunden meinte ich sogar, das Meer riechen zu können.
Übrigens ist Zuckerrohrsaft, anders als der Name vermuten lässt, überaus gesund: Er enthält Nährstoffe, Vitamine und Mineralien, beugt Entzündungen vor und soll sich positiv auf die Verdauung sowie Haut, Haare und Nägel auswirken. In einer Frauenzeitschrift habe ich sogar gelesen, dass er beim Abnehmen hilft, wenn man acht bis neun Esslöffel pro Tag zu sich nimmt. Im Netz wird das Zeug bereits als Trendgetränk gefeiert, das Gastronomen »ein sattes Umsatzplus« beschere, weil man sich mit Zuckerrohrsaft im Angebot »gezielt von anderen Marktteilnehmern abheben« und auf Social Media »für Aufsehen« sorgen könne. Klingt deprimierend. Heißt aber nicht, dass man ihn nicht probieren sollte, am besten da, wo er herkommt: in der Ferne.