Es ist ein scheußliches Wort. Ein Nazi-Wort. Dabei gibt es die »Judensau« in Kirchen und Kathedralen seit knapp 800 Jahren: antijüdische Skulpturen in Form von Wasserspeiern, Schnitzereien oder Reliefs. Die meisten dieser Darstellungen stammen aus dem Mittelalter. In etwa zwanzig deutschen Kirchen hängen sie bis heute – in manchen ohne historische Einordnung.
Eine »Judensau« zeigt in der Regel ein Schwein, an dessen Zitzen ein oder mehrere Juden saugen. Als solche kenntlich macht sie der »Judenhut«, den zu tragen jüdischen Männern im Mittelalter von der Obrigkeit vorgeschrieben wurde. Manchmal füttern sie das Schwein, reiten es oder fangen den Kot des Tieres auf. Juden in intimer Nähe zum Schwein zu zeigen, war doppelt beleidigend: Zum einen gilt das Schwein im jüdischen Glauben als unrein. Zum anderen war das Tier in der christlichen Kunst des Mittelalters ein Symbol für den Teufel.
Der israelische Historiker Isaiah Shachar datiert die ersten »Judensäue« auf das 13. Jahrhundert. Sie wurden vor allem im Innenraum von Kirchen platziert, wo Juden sie nicht sahen. Die Figuren sollten Kleriker und Kirchgänger moralisch belehren, als Teil von Figurenzyklen, die Tugenden und Laster darstellen. Die Juden erscheinen da als besonders sündhaft. Etwa ab dem 14. Jahrhundert wurden die Figuren auch außen an den Kirchen angebracht. Vereinzelt sind »Judensäue« auch in Portugal, Frankreich, Polen oder Schweden zu sehen, aber die meisten Reliefs gibt es im deutschsprachigen Raum.
»Der Antisemitismus hätte sich niemals so entwickeln können, hätte es nicht diese lange Tradition der Judenfeindschaft gegeben«, sagt Axel Töllner, evangelischer Pfarrer und Beauftragter für den christlich-jüdischen Dialog in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. »Der Antijudaismus des Mittelalters hat viele Bilder hervorgebracht, die den Leuten später vertraut waren und aus denen sich die Antisemiten bedient haben.«
Inzwischen beschweren sich immer wieder Menschen über »Judensäue« an katholischen und evangelischen Kirchen. Etwa der Münchner Aktionskünstler Wolfram Kastner, der sich mal ein Schild mit der Aufschrift »Judensau« umgehängt und Menschen vor dem Kölner Dom auf die Figuren angesprochen hat. Zum Reformationsjubiläum 2017 hat der britische Theologe Richard Harvey eine Petition initiiert, die immer noch läuft. Harvey fordert, die »Judensau« an der Stadtkirche in Wittenberg zu entfernen – der Predigtkirche Martin Luthers.
Was soll mit den jahrhundertealten Schmähfiguren geschehen? Deutsche Kirchen setzen oft Faltblätter ein, die über die jeweilige »Judensau« aufklären. Allerdings liegen diese Blätter ziemlich versteckt am Kirchenkiosk zwischen Kirchenführern, Einladungen zu Pfarrgemeindefesten und Caritas-Flyern. Gut sichtbare Hinweistafeln, die einordnen, erklären, sich distanzieren, sind selten. Und entfernt wurde in Deutschland bislang offenkundig nur eine »Judensau«: 1945 von einer Apotheke in Kelheim, wohl auf Befehl eines US-Offiziers.
Köln
Hohe Domkirche St. Petrus
Es ist nicht das erste Mal, dass man in Köln über die beiden »Judensäue« im Dom diskutiert. 2002 befand Barbara Schock-Werner, die damalige Dombaumeisterin: keine Schilder im Dom, er sei ein Gotteshaus, kein Museum. Seit 2016 beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe erneut mit den Spottfiguren. Die eine »Judensau« ist ins Chorgestühl geschnitzt, das zentral im Dom steht, für Besucher aber in der Regel unzugänglich ist. Die andere »Judensau« hängt als Wasserspeier außen an der Achskapelle, mit Blick über den Hauptbahnhof. In der Kirche wird auf die Figuren nicht hingewiesen. Die Homepage des Doms erwähnt die Darstellung im Chorgestühl, den Wasserspeier nicht. »Wenn wir auf jedes Detail des Doms hinweisen würden, hätten wir eine Vielzahl an Webseiten«, sagt der heutige Dombaumeister Peter Füssenich. »Man wird dem Dom nicht gerecht, wenn man einzelne Figuren hervorhebt.« Er sagt aber auch, man müsse die »Judensau«-Figuren immer wieder thematisieren, um daraus zu lernen. Das könne heißen, Führungen dazu zu entwickeln. Oder im Domblatt des Zentral-Dombau-Vereins darüber zu schreiben, wie in der Ausgabe von 2008. Das Domblatt erscheint in einer Auflage von etwa 17 000 Exemplaren. Pro Jahr besuchen rund sechs Millionen Menschen den Dom.
Regensburg
Dom St. Peter
Als der Freistaat Bayern, Eigentümer des Regensburger Doms, vor zwölf Jahren eine Plexiglastafel in der Nähe der »Judensau« anbrachte, war der Text umstritten. Denn darin steht kein Wort des Bedauerns oder der Entschuldigung, sondern dass man die Skulptur im Zusammenhang ihrer Zeit sehen müsse – und dass sie heute befremdlich wirke. Im Regensburger Domkapitel war trotz mehrerer Anfragen kein Geistlicher zu erreichen, um mit dem SZ-Magazin über die Haltung der Kirche zu der Figur zu sprechen. Der Text an der Kirchenmauer endet so: »Das Verhältnis von Christentum und Judentum in unseren Tagen zeichnet sich durch Toleranz und gegenseitige Achtung aus.« Die Tafel wurde in den vergangenen Jahren mehrmals beschädigt und einmal ganz aus der Verankerung gerissen.
Wittenberg
Stadt- und Pfarrkirche St. Marien
Friedrich Schorlemmer, Theologe: »Ich kam 1978 als Dozent an das Evangelische Predigerseminar nach Wittenberg. In dem Jahr bin ich auf die ›Judensau‹ an der Stadtkirche gestoßen. Der Rabbi sucht im After des unreinen Tieres nach Erkenntnis – schlimmer geht’s nicht.«
Richard Harvey, Theologe aus London: »Als messianischer Jude fühle ich mich angegriffen. Deshalb habe ich in einer Petition gefordert, die ›Judensau‹ zu entfernen.«
Johannes Block, Pfarrer der Stadtkirche: »Gerade nach der Petition haben wir viele Briefe von Besuchern bekommen. Die sind teilweise schockiert, dass es so etwas nach dem Dritten Reich in Deutschland noch gibt.«
Friedrich Schorlemmer: »Wir haben uns in einem zehnjährigen Diskussionsprozess damit auseinandergesetzt. Manche sagten, wir sollten nicht so ein Brimborium machen, das beachte doch eh keiner mehr. 1988, fünfzig Jahre nach der Reichspogromnacht, haben wir die Bodenreliefplatte als Mahnmal unter der Schmähplastik eingeweiht.« Der Text des Mahnmals gedenkt der sechs Millionen ermordeten Juden, das Thema »Judensau« greift er nicht auf.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland: »Generell erwarte ich an ›Judensau‹-Darstellungen eine Tafel, die einen eindeutigen Bezug zu dem Relief hat. Die klar benennt, was das ist und woher es kommt.«
Richard Harvey: »Man sollte die Figur abnehmen und einem Museum übergeben.«
Friedrich Schorlemmer: »Dieser Stachel im Fleisch muss bleiben. Es muss in schmerzhafter Erinnerung bleiben, was in dieser Luther-Kirche passiert ist. Ich fände es eine Schande, die ›Judensau‹ einfach wegzumachen.«
Im Juli 2017 installierte die Stadt Wittenberg unter der »Judensau« eine Stele, die den Ursprung der Figur erklärt.
Nürnberg
Sebalduskirche
Die »Judensau« wurde vermutlich um 1380 an einem Strebepfeiler der Sebalduskirche angebracht. Außen, in etwa sieben Metern Höhe, gegenüber vom Hauptmarkt. »Die Lage ist für uns in Nürnberg doppelt schaurig«, sagt der Pfarrer Jonas Schiller. »Die Nazis sind während der Reichsparteitage auf dem Hauptmarkt marschiert, der damals Adolf-Hitler-Platz hieß. Im Mittelalter lag außerdem das jüdische Viertel in der Richtung.« 2005, genau siebzig Jahre nach dem Erlass der »Nürnberger Gesetze«, gab der Kirchenvorstand von St. Sebald eine Erklärung zu der Darstellung ab: »Das ›Judensau‹-Schmähbild aus dem Spätmittelalter drückt den Judenhass aus, der die Schoa vorbereitet hat. (…) Voller Scham verbeugen wir uns vor den Millionen Opfern des Judenhasses. Wir bitten sie und unseren gemeinsamen Gott um Vergebung.« Die Erklärung steht in einem Faltblatt, das am Kartenkiosk in der Kirche ausliegt und in einem Schaukasten vor der Kirche hängt sowie online verfügbar ist. Eine feste Tafel an der Außenmauer wurde nicht angebracht.
Bad Wimpfen
Ritterstiftskirche St. Peter
»D.10 Wasserspeier, 3 Stück Ausspitzen, Fertigen und Versetzen«, steht im Archiv des Bistums Mainz über die Steinmetzarbeiten an der Ritterstiftskirche. Die verwitterte Originalplastik wurde bei Sanierungsarbeiten zwischen 1984 und 1986 erneuert, frisch in Sandstein gehauen. Im Jahr 2005 teilte das Dom- und Diözesanarchiv Mainz dem Aktionskünstler Wolfram Kastner mit, dass man an einer Schrifttafel arbeite. Seit 2013 hängt eine solche tatsächlich unterhalb der »Judensau«, auf Augenhöhe. Darauf ist von »herabwürdigenden Darstellungen« und »Verspottungen« von Juden »in steingewordenen Karikaturen« die Rede, die im 13. Jahrhundert bedauerlicherweise auch im Kirchenraum verbreitet waren: »Auch hier an der Ritterstiftskirche findet sich aus der Zeit um 1270 eine solche Skulptur in Form eines Wasserspeiers.« Der aufrichtige Dialog mit dem jüdischen Volk sei für die Kirche eine dringliche Aufgabe.
Calbe
Kirche St. Stephani
SZ-Magazin: Sie haben im Herbst 2016 bekannt-gegeben, dass Sie die »Judensau« an Ihrer Kirche kommentieren wollen. Warum nicht früher?
Jürgen Kohtz: Wegen des Reformationsjahrs. Ich bin seit 2014 Pfarrer in Calbe und wusste bis dahin nichts von dieser Figur an der St.-Stephani-Kirche. In einer E-Mail wurde ich darauf aufmerksam gemacht. In der Gemeinde war das zuvor kein Thema gewesen. Als ich die Figur thematisiert habe, wussten aber einige Leute sehr wohl Bescheid. Da auch Luther damals gegen die Juden gehetzt hat, ist das Reformationsjubiläum ein passender Zeitpunkt, um darauf zu reagieren.
Was denken Sie, wenn Sie an der »Judensau« vorbeigehen?
Es ist beschämend, so eine Figur zu haben. Eine schmerzliche Erkenntnis in Bezug auf unsere Toleranz, wenn man bedenkt, dass sich die Menschen in Religionskriegen gegenseitig die Köpfe eingeschlagen haben. Und dass sie das auch heute tun.
Wie wollen Sie mit der Figur also umgehen?
Im April 2018 werden wir vor der Kirche eine Bodenplatte einlassen. Da sind auf der Innenseite eines Stahlringes die Symbole Kreuz, Davidstern und Halbmond eingearbeitet. Sie sollen verdeutlichen, dass wir keine feindlichen Grenzen zwischen den Religionen haben wollen. Das finde ich gerade jetzt interessant, wenn Menschen nach Deutschland kommen, die anders glauben. Wir müssen momentan ja aufpassen, dass Europa da nicht zurückfällt.
Xanten
Dom St. Viktor
Die »Judensau« befindet sich an einem Pfeiler links neben dem Hochaltar, als Sockel einer Marienskulptur. Die Stufen vor dem Altar sind für Dombesucher gesperrt. Zwischen den Streben eines Ziergitters vor der Skulptur ist die »Judensau« schwer zu erkennen. Da ist sie seit etwa 1270.
Erwähnt wird die Figur im Dom nicht. Klaus Wittke, der Dompropst, will am Telefon nicht über die »Judensau« sprechen. Auch mehrere Mailanfragen weist er ab. Der Xantener Bürgermeister Thomas Görtz muss eine Bitte des SZ-Magazins um einen Kommentar »leider verneinen«.
An einem Sonntag 2017 sind die Sitzbänke im Dom fast vollständig besetzt. Halb zwölf am Vormittag, die Messe. Ein Lektor liest das Gleichnis aus dem Johannesevangelium, in dem Jesus einen Blinden heilt. Der Kaplan predigt danach darüber, wie Menschen dazu neigen, die Zeichen Christi zu übersehen. Auch darüber, wie man mit Scheuklappen durch den schnelllebigen Alltag läuft. »Festzustellen ist immer wieder: Wir sehen manchmal nur das, was wir sehen wollen«, sagt er dann.
Fotos: Jann Höfer, Florian Monheim/dpa/Picture-Alliance, epd/imago, Stephan Minx, Ronald Wittek/ddp, Thomas Victor
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