»Nur dieser nackte Jesus hat mich gestört«

Ob im ICE, mit der Enkelin in der Kirche, am Sonntagmorgen auf dem Rad – manchmal ereilen einen die tiefsten Gedanken zu Leid, Glück und der Suche nach Sinn ganz unverhofft. Fünf kurze Weihnachtsgeschichten ohne Engel und Kerzenschein.

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Onkel Achim

Weihnachten 1961, das erste nach dem Mauerbau, hab ich als ein Zusammenrücken in Erinnerung, die Freunde der Eltern waren oft bei uns, es wurde viel und lang geredet. Auch wenn die Themen eher bedrückend gewesen sein mochten: Ich hab diese Tage als ein Leuchten in Erinnerung, die Erwachsenen fanden Trost und Klärung beieinander. Es wurde viel gelacht. Ich saß unter dem Flügel und versuchte vergeblich, an einer Murmelbahn Gefallen zu finden, die mir Onkel Achim, ein Tonmeister aus der Nachbarschaft, mitgebracht hatte. Als er mich so missmutig spielen sah, kroch er zu mir unter den Blüthner, vielleicht war ihm gerade aufgefallen, dass ich mit meinen zehn Jahren dem Murmelbahnalter entwachsen war. Er nahm eine Murmel, nannte sie einen Tonkopf und ließ sie in die weite Welt rollen. Die weite Welt – das war unser Weihnachtszimmer. Und als er sie so übers Parkett rollen sah, kam ihm eine Idee. Er umwickelte die Kugel mit Silberpapier – wegen der elektromagnetischen Aufnahmequalität, wie er mir und den Eltern erklärte – und ließ sie zuerst den Baum belauschen, der von Wald und Wetter zu erzählen hatte. Er imitierte den Regen, den Sturm, die Waldvögel: Das sei jetzt alles aufgenommen, behauptete er, nachdem er die Kugel zwischen zwei Fingern über die Äste hatte rollen lassen.

An den Ästen hing der Familienerbbaumschmuck, Glocken und Wachsengel, die klangen und sangen mit der Stimme von Onkel Achim. »So«, sagte er, »das haben wir. Die Atmo da draußen ist gerade dabei, sich gewaltig zu verändern, ins dumpf Hallige, wie in einem riesigen Innenraum. Weißt du, was eine Atmo ist? So etwas wie eine Stimmung, die in der Luft liegt, ohne dass man etwas davon hört. Aber man spürt es. Die Atmosphäre hier bei euch ist kostbar, also nehmen wir das alles auf.« Er warf die Kugel immer wieder in die Zimmerluft und fing sie. »Deine Kugel bewahrt das alles, jedes Geräusch, jeden Ton.« Schwungvoll nahm er die Noten vom Flügel, schlug sie auf und spielte ein Brahms-Intermezzo. Kaum hatte er geendet, sprang er auf, wandte sich zum Bücherregal, lies die Kugel zwischen Buchseiten herabrollen und behauptete, sie könne sich jeden Satz merken. Er steigerte sich in dieses Spiel mit einer Ernsthaftigkeit hinein, die mir unheimlich wurde. Aber er war dabei sonderbar zärtlich, wie bei einem großen Abschied. – Der Baumschmuck, der Blüthner, die Bücher sind inzwischen verloren, die Kugel in Stanniol hab ich bei jedem Umzug retten können.

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Mit der Enkelin in der Kirche

»Es war schön in der Kirche«, sagt die Enkelin, die noch kaum Bekanntschaft mit sakralen Räumen gemacht hat. »Es war alles so feierlich. Der Baum, die Kerzen, die Orgel, die Lieder, das hat alles zusammengepasst. Als wäre die Kirche extra für Weihnachten gebaut. – Nur dieser nackte Jesus am Kreuz, der hat mich gestört.« Wir sind auf dem Heimweg und hätten genug Zeit für so ein Gespräch. Weiß ich aber genug? War es fahrlässig, mit ihr in die Kirche zu gehen, ohne dazuzugehören zu dieser Kirche? Bin ich auch einer von diesen Weihnachtskirchgängern, diesen Feierlichkeitskonsumenten? Was nun?

»Die Kirche ist nicht nur zum Feiern da, die ist das ganze Jahr offen. Für jeden. Auch für uns. Auch wenn wir nicht an Gott glauben. Ich war schon manchmal ganz allein in der Kirche, wenn es mir schlecht ging. ›Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren,/ Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid,/ Vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid,/ Hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.‹ Das hat Paul Fleming gedichtet. Es ist so viel Weisheit und Trost darin. Egal, wie gut oder schlecht es einem gerade geht, die Kirche weiß ein Lied, ein Bild oder eine Geschichte dazu. Die Kirche ist wie eine weise alte Frau, die genug gesehen und gehört hat, um alles zu verstehen, was Menschen zustoßen kann. Sie kann mit jedem mitfühlen, der zu ihr kommt. Dir selbst scheint dein Leid oder Glück unfassbar, aber die alte Frau seufzt nur und nickt und erzählt dir eine Geschichte, die dir vertraut vorkommt, obwohl du sie nie vorher gehört hast. Dann weißt du, dass du nicht allein bist mit dem, was dir geschieht, und mehr, du weißt sogar, dass es gut ausgehen kann.« 

»Wie im Märchen«, sagt die Enkelin. »Wie im Märchen«, wiederhole ich. »Ist dir aufgefallen, wie grausam es in den Märchen zugeht? Das Allerschlimmste geschieht, aber das Märchen endet nicht, bevor es sich nicht zum Guten gewendet hat. Wer schon als Kind durch Märchen die Erfahrung macht, dass alles noch so Schlimme zuletzt doch gut ausgehen kann, der ist immunisiert, also geimpft gegen Resignation. Wer resigniert, der kehrt seinen Rücken zum guten Ausgang, den es auch im wirklichen Leben geben kann, so unwahrscheinlich er auch scheinen mag…« – »Aber wenn einer ans Kreuz genagelt ist, wie soll das gut ausgehen?«, fragt die Enkelin. Und nun bin ich mit meinem Atheistenlatein am Ende.

Das sechste Kind

Auf dem Weg zum Bahnhof hatte sie mir mitgeteilt, dass sie wieder schwanger sei, und ich hatte nun von Hamburg bis Stuttgart Zeit, diese Mitteilung in mir arbeiten zu lassen. Hinter Hannover begann ich einen langen Brief und schrieb noch in Göttingen, Fulda und Frankfurt meiner Frau tausend Gründe dafür, dass dieses sechste Kind uns überfordern, unser leidlich austariertes Familienleben völlig aus der Bahn werfen würde, dass wir alles andere, aber nicht noch ein Kind gebrauchen könnten.

»Gebrauchen« klingt nach Anschaffung. Das fiel mir dann auch auf. Und beim Schreiben entwickelte sich Vertrauen darauf, dass es schon gut gehen werde. Wo dieses Vertrauen herkommt, weiß ich nicht, es ist völlig irrational. Ich traue den ANDEREN, zu denen meine Kinder heranwachsen. Ich behaupte von mir, ein Atheist zu sein. Aber ich habe ein Menschenbild, das irgendwie utopisch umglänzt ist und das ich mir nicht nehmen lassen will.

Es gibt da so einen Schimmer des Möglichen, der vielleicht sogar mit dem Heiligenschein der Christen auf geheimnisvolle Weise verwandt ist. Zu Weihnachten sind ja auch wir Atheisten Kirchgänger, und da stehen dann diese Krippen mit allem, was dazu gehört. Die herzueilenden Hirten und Könige glauben an dies Neugeborene, an seinen guten Stern, an das Licht um sein Haupt, sie glauben, dass es alles in sich trägt, um die Welt zu erlösen. Ohne dies grundsätzliche Wohlwollen, ohne diese Option können Kinder nicht gedeihen.

Wenn die ANDEREN ihre Häuser verschließen vor diesem Mann und seiner schwangeren Frau, die nachts vor der Tür stehen, dann ist unser Wohlwollen gegen uns Menschenkinder gestorben. Natürlich macht das schmutzige Laken, und man wird diese Nacht keine Ruhe finden, und am nächsten Morgen ist dies und das zu organisieren. Aber es ist das Opfer wert, wenn man dem Neugeborenen zutraut, ein Mensch zu werden in diesem utopischen Sinne. Und eigentlich nur deshalb. Vom Glauben, dass aus einem Neugeborenen etwas Göttliches werden kann, von diesem lichten Schein ums Haupt des Neulings hängt alles ab! Ob man ihm opfern darf, sich auf ihn freuen und auf ihn hoffen oder ob er nur ein Esser mehr ist auf der ohnehin leer gegessenen Welt. Von unserem Selbstbild als Menschen hängt ab, ob wir die Tür aufmachen für die Gebärende. Auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof warf ich den langen Brief an meine Frau in den Mülleimer.

Auf der Suche nach Haferflocken

Sonntagmorgen. Ich bin mit dem Rad unterwegs durch den verschlafenen Vorort, auf der Suche nach Haferflocken, die meine Jüngste heute vielleicht schon vertragen würde als erste Mahlzeit nach ihrem fieberkranken Tag gestern. Sie hatte mich mittags angerufen: Der Kopf, der Magen, der Hals, die Glieder, überhaupt alles hatte ihr wehgetan, ich war gleich zu ihr gefahren, hatte Tees besorgt und Medikamente, Obst, Milch, Zwieback eingekauft und die Haferflocken vergessen.

Sie hatte den ganzen Nachmittag geschlafen oder beinahe geschlafen, gelitten, geweint, geflucht. Ich war bei ihr geblieben, hatte meinen Vortrag in der Bibliothek abgesagt, hatte Obst geschnippelt, Tees gekocht, Wadenwickel gemacht und war zuletzt glücklich gewesen, dass niemand anderes Zeit hatte und ich bei ihr sein konnte an diesem Tag. Ich hätte schon was gefunden in der Küche. Grießbrei, geriebener Apfel, Zwieback. Und natürlich finde ich bei den Tankstellen nicht, was ich suche. Und frage mich: Wem spiel ich hier was vor als radelnder Heiland? Was tu ich hier sonntagmorgens, mit dem Rad unterwegs durch den verschlafenen Vorort?

Die Glocken beginnen zu rufen. Vielleicht erwacht die Tochter gerade jetzt, ruft nach mir, und als niemand antwortet, liest sie meinen Zettel und denkt: Gute Ausrede. – Zu oft war ich fort. Jetzt hätte ich alle Zeit. Jetzt könnte ich bei ihr sein. Ich möchte ihre chronischen Magenschmerzen nicht auf dem Gewissen haben. Und nicht ihre Not vor diesem ersten geschiedenen Weihnachten. Was ist mit ihr, dass es ihr so oft schlecht geht mit dem Magen? Hat sie wieder zu viel Süßes gegessen, sich zu wenig bewegt, zu lang vor dem Computer gehockt? Oder ist es psychosomatisch? Hat es mit uns Eltern zu tun? Was hab ich falsch gemacht, dass alles so kam? Ich will glauben können, dass es uns Vätern geht wie dem Josef, dass wir nicht alleinige Väter sind unserer Kinder, sondern dass sie da noch einen anderen Vater haben, der auf sie aufpasst.

Ohne Haferflocken bin ich zurück in dem Haus, das ich nicht mehr bewohne, in dem ich für eine Nacht zu Gast war bei dem kranken Kind, weil sonst niemand Zeit hatte. Wie es sich anfühlt, wenn es beinahe ist wie früher, das hatte ich nicht gewusst. Zurück von meiner Suche nach den zarten Haferflocken, zurück von meiner Ausflucht vor diesem Schmerzpunkt. Es ist ganz still im Haus. Vielleicht schläft sie ja noch? Sie sitzt in der Küche, rührt in ihrer Schüssel. »Ich hab noch welche gefunden«, sagt sie, »die Tour hättest du dir schenken können.« Sie hat wieder Farbe im Gesicht. Da muss ich lachen vor Freude, und sie lacht mit.

Die hohen Tage

Predigten sind Ladestationen für Alltagsworte. In einer guten Predigt verwendete Worte laden sich auf mit Bedeutung, die in den Alltag abstrahlen kann. Der Zusammenhang, in dem sie in der Predigt stehen, ist ein so ganz anderer als der alltägliche. Worte wie »Vater«, »Mutter«, »Kind« würden den Alltagsverschleiß nicht überleben ohne regelmäßige Aufladung. Überstehen schon, aber nicht überleben. Überstehen insofern, als diese Worte auch in Zusammensetzungen wie Vaterschaftstest und Kindschaftsverhältnis vorkommen. In juristischen, statistischen Relationen würden diese Worte auch dann noch ihren Dienst tun, wenn sie ihre Strahlkraft verloren haben. Aber mit so einem entkräfteten Wort bezeichnet werden will niemand. Kein Vater, Mutter, Kind.

Es verletzt und bringt Unfrieden, wenn man einander mit entladenen Worten bezeichnet. Eine gute Weihnachtspredigt erzählt von Vater, Mutter und Kind in einer Weise, die nicht alltäglich ist, aber sehr alltagstauglich. Die drei Worte werden von einer Geschichte aufgeladen und gedeutet. Die Deutung entlässt das Kind von Beginn aus der Bemächtigung seiner Eltern: Sie können es nicht »gemacht« haben, denn es kommt von weiter her. Sie müssen also nichts aus ihm machen, denn es wird seinen eigenen Weg gehen.

Worte sind Akkumulatoren, Kraftsammler und -spender, die nicht nur bezeichnen sondern auch gelten unter Menschen. »Weihnachten« ist auch so ein Wort. Nun sind sie da, die hohen Tage, aber woher plötzlich nehmen, was der Sinn ist all der Vorbereitung, woher, wenn all das Vorbereiten keinen Vorschein in sich trug? Woher sollte es leuchten, wenn alles nötige getan ist und die Lichter angezündet? Machen kann man ja kein Fest, so viel man auch herbei zitieren mag, inszenieren, arrangieren, verabreden und terminieren. Schon die flüchtigen Begegnungen in den Einkaufspassagen wären leer und überflüssig, man wäre sich nur im Weg gewesen, der vorfestliche Stress wäre unerträglich, wenn dieser Vorschein gefehlt hätte, mit dem das Wort geladen ist. Herbeieilen zum Licht wie die Hirten und Könige geeilt sind mit ihren Gaben: So kann es sich anfühlen, mit all diesen Einkäufen im Dunkel sich heimwärts zu schleppen zwischen all den wildfremden ANDEREN, die einem nicht im Weg und hinderlich sondern nahe sind, weil sie dasselbe Ziel haben: nicht von allen anderen weg auf der Flucht in ihre privaten vier Wände. Nein, um sich mit allen zu versammeln unter dem Stern.