Soll ich das Schweigen durchbrechen?  

Unsere Leserin wurde als Kind von ihrem Vater jahrelang missbraucht. Ihren eigenen Kindern hat sie davon nichts erzählt und sie auch nicht von den Großeltern ferngehalten. Heute fragt sie sich, ob das richtig war.  

Illustration: Serge Bloch

»Ich wurde als Kind von meinem Vater lange Jahre missbraucht. Das kam als Erwachsene zur Sprache in der Familie (Vater, Mutter, Geschwister), es gab aber keine Anklage. Ich rede (wieder) mit meinem Vater. Mittlerweile habe ich selbst Kinder, auch Töchter, eine 21 Jahre alt, eine elf Jahre alt. Ich habe die Kinder den Großeltern nie vorenthalten, aber ­immer auf sie aufgepasst. Allerdings habe ich den Missbrauch ihnen gegenüber verschwiegen. Ich wollte den Enkeln ihren Opa nicht ›kaputtmachen‹, andererseits hätte ich auch nicht gewusst, wann und wie ich es ihnen sagen soll. Darf man ­seinen Kindern so eine schwerwiegende Sache verschweigen? Oder darf man sie mit so etwas belasten? Vor Gericht wäre die Sache verjährt, für mich wird sie das nie sein.« Anonym, per Mail

Es tut mir wahnsinnig leid, dass Sie das erleben mussten. Und man kann gut verstehen, dass Sie Ihre Kinder schützen wollen. Ich frage mich allerdings, ob Sie das tun. Schützen Sie Ihre Kinder wirklich, indem Sie so tun, als wäre das, was geschehen ist, nicht geschehen? Und ist es wirklich ein schönes Verhältnis zwischen Enkeln und Großvater, wenn die Mutter immer dabei ist, um aufzupassen, dass dieser Mann ihren Kindern nichts antut? Was ich meine: Schützen Sie so nicht in Wahrheit den Täter? Es kann doch eigentlich nicht angehen, dass Sie sich alle diese Gedanken machen. Warum denn Sie? Sie können doch überhaupt nichts dafür, was passiert ist. Ihr eigener Vater hat Sie als Kind viele Jahre lang missbraucht. Und so viele Jahre später befassen wir uns hier nun damit, wie Sie – das Opfer – sich am besten verhalten? Da stimmt doch was nicht. Ich glaube, Sie tun Ihren Kindern einen riesigen Gefallen damit, aus diesem System, das die Täter schützt, auszusteigen und ihnen die Wahrheit zu sagen. Sie werden die richtigen Worte finden, auch für eine Elfjährige. Ihre Kinder müssen wissen, dass es Menschen gibt, die die Grenzen von anderen missachten – ihr Großvater zum Beispiel. Wer weiß, vielleicht ahnen sie längst etwas oder spüren, dass mit ihm etwas nicht stimmt, Kinder haben ja oft ganz feine Antennen. Der größte Schutz wäre doch, dass sie wissen, dass sie ihren eigenen Gefühlen vertrauen können. Auch um gegebenenfalls zu erkennen, wann jemand etwas tut, das sie nicht wollen. Vergeben Sie sich dafür, was Ihr Vater Ihnen angetan hat, und stehen Sie für sich ein. Auf eine verlogene Familienharmonie können Sie pfeifen.