Die meisten Europäer wissen jetzt also, was Nein auf griechisch heißt. »Ochi«. Fein, dann machen wir doch gleich weiter: »Oneiro« bedeutet Traum. Und das ist der Titel der aktuellen Nummer Eins in den griechischen Charts. Der Sänger Nikos Vertis singt zu aufgemotzten Bouzouki-Akkorden folgende Zeilen:
Du warst ein Traum, aber jetzt bist du weg
Es war dir nie wichtig, wie ich mich fühlte
Meine Nächte sind plötzlich leer
Ich habe nichts mehr, von dem ich träumen könnte.
Du warst ein Traum, aber jetzt dämmert es
Es war zu schnell vorbei, du bist nicht hier
Wie ein Sommer ohne Strände
Du hast alles ruiniert, wie soll ich weiterleben?
Kann das ein Zufall sein? Wir reden hier vom größten Hit exakt am bisherigen Tiefpunkt der Griechenland-Krise. Dem meistgekauften Song in der Woche des Referendums. »Oneiro« lief im Radio, während sich Millionen Griechen zwischen Ja und Nein, zwischen noch einem Sparprogramm und dessen Ablehnung entschieden haben. Es ist der Soundtrack zum trotzigen »Ochi«.
Wobei: Vom »Trotz«, den Schäuble und Kollegen der griechischen Regierung so gerne vorwerfen, kann in diesem Song eigentlich keine Rede sein. Traumlose Nächte, Sommer ohne Strände – »Oneiro« ist ein Stück Trauerbewältigung. Ein deprimierend hoffnungsloses Lied über den Verlust. Wer erst den Song gekauft und dann für Nein gestimmt hat (also eine Mehrheit der Griechen), der hat längst keine Wut mehr im Bauch. Er ist enttäuscht, frustriert, niedergeschlagen.
Funktioniert das also – die Stimmung eines Landes an dessen Chartspitze ablesen?
Kleiner Test: Was war in der Woche nach dem 11. September 2001 in den USA auf Platz eins? »I’m Real« von Jennifer Lopez und Ja Rule. Nun ja, nicht gerade ein idealer Song für die Staatstrauer. Aber drei Wochen später passierte etwas erstaunliches: Am 29. September stieg plötzlich Alicia Keys mit einem Song erneut auf Platz Eins, der seinen Höhepunkt eigentlich schon Monate zuvor gehabt hatte. Eine bleischwere Hymne über Selbstzerstörung in der Liebe. Der Titel: »Fallin«. War das Trauma der fallenden Türme nach drei Wochen in die Charts durchgesickert?
Anderes Beispiel: die Wirtschaftskrise in Argentinien. Auf deren Höhepunkt im Sommer 2002 führte der Kolumbianer Juanes mit dem Hit »A Dios Le Pido« dort die Charts an. Der Text ist ein Bitte an Gott, die Familie, Freunde und Nachkommen vor Unheil zu beschützen. Das trällerfröhliche Lied war weltweit ein Hit – aber auf Platz Eins der regulären Charts landete es nur in Argentinien und Spanien, wo man den ernsten Text verstand.
Letztes Beispiel: Mauerfall in Deutschland, ein monatelanger Freudentanz, oder? An der Chartspitze im November 1989: »Lambada« von Kaoma. Nicht gerade urdeutsches Kulturgut, aber naja, die Deutschen mussten halt nehmen, was gerade da war - der Sommerhit 1989. »Wind of Change« übrigens, der Scorpions-Song, der als Standardwerk der Wiedervereinigung gilt, landete erst im Juni 1991 auf der Eins.
Und weil wir gerade dabei sind: Was steht eigentlich in Deutschland diese Woche auf der Eins? Findet sich da vielleicht ein Zusammenhang zur Grexit-Diskussion, eine geheime Botschaft, das Gegenstück zum Trauersong »Oneiro«? Oh, ist ja interessant, ein Lied von Cros neuem Unplugged-Album. Der Song heißt, tatsächlich: »Bye Bye«.
Erinnert an: Liebeskummer auf der Kreta-Klassenfahrt.
Wer kauft das? Traurige Griechen, die noch Geld in der Matratze haben.
Was dem Song gut tun würde: Deutsche Untertitel.