Patrik Svedberg wollte nur eine kleine Geschichte erzählen über das Leben in seinem Heimatort, dem schwedischen Städtchen Huskvarna. Dafür hatte sich der Fotograf den denkbar harmlosesten Protagonisten ausgesucht, eine Weide an einem Seeufer, einen Baum, der ein bisschen aussieht wie ein Stück Brokkoli. Am 12. Mai 2013 fotografiert er diesen Baum auf dem Weg zur Arbeit. So hat es begonnen. Und dann ist ihm seine Geschichte entglitten. »Ich weiß nicht, ob ich das Bild ein zweites Mal machen würde, wenn ich noch mal die Wahl hätte«, sagt er. Und nach kurzer Pause: »Doch, ich würde ihn nochmals fotografieren. Aber ich würde das Foto niemandem zeigen.«
Svedberg ist 48, trägt eine Brille und einen Fünftagebart. Die roten Haare stehen ein wenig chaotisch vom Kopf, im Scherz nennt er sich manchmal »Sideshow Bob«, nach dem Simpsons-Charakter mit der absurden Frisur. Er produziert Imagefotos für Firmen in der Gegend, Werbekampagnen, Broschüren, solche Dinge. Fotos von Bäumen gehören eigentlich nicht zu seinem Portfolio. An diesem Frühlingstag im Jahr 2013 fährt er wie jeden Morgen entlang des Vättern, des zweitgrößten schwedischen Sees, zur Arbeit. Dort am Ufer stehen mehr Bäume, als er zählen kann, er bleibt vor diesem einen Baum mit der Brokkoli-Form stehen. Warum, kann er nicht mehr sagen. Irgendwie findet er ihn schön, in diesem Moment.
Die Linse seines Telefons ist etwas schmutzig an dem Tag, dafür ist der Ausschnitt besonders: Der Baum ist im Ganzen zu sehen, nimmt aber nur die untere Hälfte des Bildes ein, darüber viel Himmel, dahinter die Oberfläche des Sees. Svedberg postet das Bild auf seinem Instagram-Account. 43 Likes. Einige Tage später fährt er wieder daran vorbei und denkt: Heute sieht das Licht völlig anders aus. Svedberg drückt wieder ab. Es ist derselbe Baum im selben Ausschnitt, doch es ist ein ganz neues Bild: andere Farben, andere Stimmung. Die zwei Fotos zusammen erzählen bereits im Ansatz jene Geschichte, die später um die ganze Welt gehen wird: Selbst der unbedeutendste, langweiligste Ort kann so vielseitig sein, er kann einen jeden Tag wieder überraschen, wenn man nur genau hinsieht. Das Bild bekommt 73 Likes. Das dritte Foto macht Svedberg nicht mehr mit dem Telefon, sondern mit seiner besten Kamera.
Der Baum wird zu Svedbergs Hobby. Er fotografiert ihn fast täglich, immer im selben Bildausschnitt, bei Sonnenschein, bei Regen, bei Schnee, bei Gewitter. Anfangs stellt er die Bilder noch auf seinem eigenen Profil bei Instagram ein, doch als es mehr und mehr Likes werden, richtet er dem Baum einen eigenen Account ein: @thebroccolitree. Die Zahl der Follower wächst täglich, sie kommen aus aller Welt, von St. Petersburg über Kapstadt bis São Paulo. Was findet das halbe Netz so anziehend an diesem Baum?
»Es war gar nicht so sehr der Baum, es war die Umgebung, das Leben drum herum«, sagt Svedberg dem SZ-Magazin im April 2019. »Ich zeige es Ihnen.« Fünfzehn Minuten später steuert Svedberg seinen dunkelbraunen VW-Bus auf einen Parkplatz am Seeufer. Von hier aus hat er alle Fotos gemacht. »Manchmal saß ich fünf Minuten hier, manchmal fünf Stunden, bis ich das perfekte Bild hatte.« Er kurbelt das Fenster herunter und lehnt sich zurück. »Warten wir ab, was gleich passiert«, sagt er, als würde nun ein Zaubertrick beginnen.
In den nächsten Minuten laufen drei Menschen vor dem Fenster vorbei. Eine blondierte Frau mit zwei großen Hunden, die an der Leine zerren; ein weißhaariger Mann auf einem E-Bike, zwei Bücher mit Expandern auf dem Gepäckträger festgeschnallt; ein junger Mann mit Baseballmütze, der mit Kopfhörern telefoniert und sich dabei unter seinem türkisfarbenen T-Shirt in kreisenden Bewegungen den Bauch reibt. »Das wären drei tolle Fotos geworden«, sagt Svedberg: »Drei Menschen, die zufällig hier entlanggehen, die den Baum nicht mal sehen, geschweige denn wissen, dass er ein Star im Internet ist.«
Svedberg macht die Stelle mit dem Baum zu seiner Leinwand für Details. Er fotografiert Paare beim Picknick, Kinder beim Spielen, Menschen, die einander küssen, ein Hochzeitspaar, gestresste Schweden, entspannte Schweden, Touristen, Wolken, Stürme und Blitze. Die Botschaft hinter den Bildern ist so simpel wie einnehmend: Das ganze Leben spielt sich an jedem Ort der Welt ab, selbst am letzten Baum im schwedischen Hinterland – und überall kann man Schönheit finden.
Bald verkauft Svedberg Kalender mit Fotos des Baumes zu unterschiedlichen Jahreszeiten, er verschickt aufwendige Drucke seiner Bilder in alle Welt. Zeitungen und Radiosender interviewen ihn, eine brasilianische Schulklasse will eine Brieffreundschaft für den Englisch-Unterricht. Die Lokalzeitung ruft den Baum zum neuen Wahrzeichen des Städtchens Huskvarna aus, und Google Maps listet den »Broccoli Tree« als Touristenattraktion. Svedberg hält Vorträge an der Uni, veranstaltet zwei Ausstellungen. Längst ist der Brokkolibaum nicht mehr nur seine persönliche, tägliche Routine. 30 000 Instagram-Anhänger warten jeden Tag auf das nächste Foto von einem Baum, den sie niemals selbst zu Gesicht bekommen werden. Zahlreiche User aus aller Welt fotografieren nun ihre eigenen Lieblingsbäume und laden die Bilder mit dem Hashtag #thebroccolitree bei Instagram hoch.
Doch am 27. September 2017 passiert das, was so häufig passiert im Internet, wenn vielen Menschen dieselbe Sache wichtig wird: Ein Troll tritt auf. Jemand, der diese Sache zerstören will. Der Troll hat eine Säge. Er kommt in der Nacht. Und er macht aus Patrik Svedbergs kleiner Erzählung ein Drama. Es geht jetzt nicht mehr um einen schönen, harmlosen Baum. Es geht um die Zerstörungskraft von Einzelnen und um die Verletzlichkeit von Gemeinschaft im Netz.
Patrik Svedberg ist gerade bei der Arbeit, als sein Handy klingelt. Ob er in letzter Zeit am Baum gewesen sei, fragt ihn ein Bekannter. Ob er die Schnitte schon gesehen habe. Schnitte? Svedberg bittet den Anrufer um ein Foto. Mindestens einer der Stämme ist tief angesägt. Er spürt keine Überraschung, nur Wut. »Ich habe das irgendwie erwartet«, sagt er heute. Svedberg schreibt noch an Ort und Stelle mit seinem Handy ein wütendes Instagram-Posting: »Ihr habt vielleicht eine Wette gewonnen. Vielleicht hat man euch zugejubelt. Gratulation. Genießt es. (…) Das Traurigste aber ist: Ihr könnt das nie mehr rückgängig machen.«
Patrik Svedberg weiß, dass der Baum noch stünde, wenn er ihn nicht inszeniert hätte. Er weiß aber auch, dass es dann niemanden interessieren würde, ob er noch steht. »Wenn du etwas Schönes mit anderen teilst, riskierst du immer, es zu verlieren«, sagt der US-amerikanische Autor und Videoblogger John Green in einem Youtube-Clip über Svedberg. »Aber du kannst auch etwas verlieren, was du vor allen versteckst. Nur bist du dann mit deinem Verlust allein. Der Baum mag verschwunden sein. Aber seine Schönheit bleibt.« Der Clip wird 500 000 Mal aufgerufen. Svedbergs Geschichte – ich zeige euch einen Baum – war ein Riesenerfolg. Doch die Aufmerksamkeit für die neue Geschichte – ein Troll fällt diesen Baum – ist noch größer.
Nach dem 27. September 2017 zieht Svedberg sich erst einmal zurück. »Ich musste nachdenken«, sagt er heute. Er bekommt viele Nachrichten in jenen Tagen: von Menschen, die Trost brauchen, und von solchen, die ihn trösten wollen. Die Leiterin der örtlichen Kunstgalerie fragt ihn, ob er einverstanden sei, wenn sie eine öffentliche Trauer-Zeremonie für den Baum veranstaltet. Svedberg hat für alle Anrufer dieselbe Antwort: »Es ist nicht mein Baum. Es war nie mein Baum.« Hat sich damals schuldig gefühlt? »Natürlich«, sagt er. »Ich fühle mich immer noch schuldig.«
Patrik Svedbergs Geschichte ist stärker als der Troll mit der Säge
Glenn Öster kann darüber nur schmunzeln. Er ist der oberste Parkwächter in Huskvarna, derjenige, der entscheidet, welche Bäume stehen bleiben und welche gefällt werden. Ein bulliger Typ, Anfang sechzig, großes Sendungsbewusstsein. Bevor man ihm eine Frage stellen kann, hat er selbst eine: »Und Sie sind wirklich aus Deutschland angereist, wegen dieses Brokkoli-Baumes?« Er lacht laut. Dann beginnt Öster zu erzählen: Die Weide sei gerade einmal dreißig Jahre alt und wirklich nichts Besonderes. Er sagt aber auch: »Als ich das mit Instagram gehört habe, wusste ich, dass der Baum in Gefahr ist.« In zwei aufeinanderfolgenden Nächten sei jemand mit einer Elektrosäge angerückt. Dabei sei er oder sie, es könnten auch mehrere gewesen sein, schlau vorgegangen: Alle Stämme seien genau so weit angesägt worden, dass sie noch nicht brechen, aber so schwer beschädigt worden, dass Öster den Baum fällen musste.
Patrik Svedberg hat den Baumstumpf bislang nicht fotografiert. Er hat sich auch nicht mit ihm fotografieren lassen. »Ich will nicht, dass es dieses Foto ist, das am Ende bleibt: Ich vor dem Baumstumpf. Das gönne ich dem Idioten nicht.« Kurz habe er überlegt, einfach weiterzumachen. Er hat 278 Fotos und Videos des Baumes gepostet, doch geschossen, sagt er, habe er fast zehnmal so viele. Er hätte also jeden Tag weitere Fotos posten können, kommentarlos. Als wäre nichts passiert. Als gäbe es keinen Troll. Was für eine Botschaft: Den Brokkoli-Baum kann niemand fällen. Svedberg lacht, die Idee gefällt ihm. Doch dann sagt er: »Es war ehrlich gesagt ganz schön anstrengend, sich um 30 000 Instagram-Follower zu kümmern.« Noch heute bekomme er täglich Anfragen, Nachrichten, Menschen, die sich nach dem Baum erkundigen – immer wieder auch von Menschen, die nicht mitbekommen haben, was passiert ist. So gesehen stimmt es doch: Patrik Svedbergs Geschichte ist immer noch stärker als der Troll mit der Säge.
Das gilt auch für den Baum selbst: Schon im ersten Sommer nach der Abholzung zeigten sich zarte Triebe zwischen den Stämmen. In diesem Jahr sind sie mehr als zwei Meter hoch gewachsen, es sind Hunderte kleine Äste, die zu allen Seiten hervorsprießen. »Ein echter Huskvarner ist nicht totzukriegen!«, jubeln Einheimische in einer Facebook-Gruppe. Sie haben jetzt ihre eigene Geschichte, die nichts mehr mit Svedberg zu tun hat: Unser Baum kommt wieder. Glenn Öster von der Stadtverwaltung drückt es so aus: Strenggenommen sei der Baum nicht gefällt worden, er habe nur den schlimmsten Haarschnitt der Welt bekommen. »Ein Brokkoli wird daraus nicht mehr, vielleicht ein Schnittlauch.«
Und jetzt, im April 2019, steigt Patrik Svedberg zum ersten Mal seit anderthalb Jahren wieder an dieser Stelle aus seinem Auto, um sich dem Schnittlauch-Baum zu nähern. Er sagt: »Vielleicht gibt es ja längst jemanden, der heimlich jeden Tag ein Foto vom Wiederauferstehen des Baumes macht.« Er selbst will es nicht tun. »Ich würde den Baum ein zweites Mal gefährden.«
Offenbar macht sich irgendjemand an dem Baum zu schaffen. Dutzende der kleinen Äste sind in den vergangenen Wochen abgeschnitten worden. Glenn Öster erklärt, dass das dem Baum nichts ausmache – man müsste ihn ohnehin etwas ausdünnen. Und wieso tut jemand das? Hier sind sich Svedberg und Öster einig: Es seien vermutlich Souvenirs. In einem Glas Wasser schlagen die Äste nämlich Wurzeln. Gut möglich also, dass der Baum jetzt auch physisch angefangen hat, sich über die Welt zu verbreiten.
Dieser Text ist Teil unserer Ausgabe 24/2019, in der wir 50 Persönlichkeiten vorstellen, die das Internet geprägt haben