In weiter Ferne, so nah

Skype wird zehn Jahre alt. Seit es die kostenlosen Videotelefonate gibt, sind Fernbeziehungen nicht mehr dasselbe: Die Entfernungen scheinen zu schwinden, Paare teilen mehr Alltag. Verändert Skype vielleicht sogar unsere Gefühle?

Nur ein Ausschnitt des eigenen Lebens wird über das Videotelefon sichtbar: Was außerhalb davon passiert, bleibt manchmal ein Geheimnis.

Ein Klick auf das grüne Telefonsymbol, ein saugendes, immer schriller werdendes Geräusch, das schon so klingt, als würde es Distanzen schrumpfen, und plötzlich taucht es auf, das vertraute Gesicht in einer anderen Stadt oder am Ende der Welt. Dieser Skype-Effekt – für Menschen, die ihn selten erleben, immer noch mit leichtem Erschrecken verbunden – hat Frequenz und Charakter, wie wir mit weit entfernten Menschen in Verbindung bleiben, für alle Zeiten verändert.

Vor genau zehn Jahren, im April 2003, wurden die Internet-Adressen skype.com und skype.net vergeben; zweieinhalb Jahre später fügte das Unternehmen seinem kostenlosen Telefonangebot die Videofunktion hinzu. Heute sind über 700 Millionen Nutzer bei dem Dienst registriert, und seine Monopolstellung ist alleine daran ablesbar, dass das gebräuchliche Verb für das Telefonieren über Bildschirm längst identisch mit dem Namen der Firma ist. Wir »skypen«: Arbeitskollegen in verschiedenen Filialen, Eltern mit ihren in die Fremde gezogenen Kindern und vor allem Paare, die eine Fernbeziehung führen. Vermutlich ist keine andere Form des Zusammenlebens in ähnlicher Weise von einem Kommunikationsmedium begünstigt worden.

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Wenn ein Liebespaar noch vor zehn, fünfzehn Jahren getrennt voneinander lebte, waren die Minuten, in denen die Stimme des abwesenden Menschen erklang, kostbar und hochkomprimiert. Bevor der Münzstapel auf dem öffentlichen Telefon aufgebraucht oder die Gebührenanzeige des privaten Apparats ins Unermessliche gestiegen war, musste alles gesagt sein; es gab kaum Zeit, um die wichtigsten Neuigkeiten zu erzählen und zu versichern, wie sehr man einander vermisse. Jedes Wort zählte in diesen Gesprächen, denn nach Tagen, in denen der andere nur als Vorstellung und Erinnerung existierte, waren sie der herbeigesehnte Moment der Vergewisserung – je erfüllter das kurze Miteinander, desto länger hielt die Sicherheit des Gefühls nach dem Auflegen an.

Im Zeitalter von Skype sind die Paare genau von dieser Notwendigkeit entbunden. Alle, die heute eine Fernbeziehung führen, erzählen vielmehr, dass sie das kostenlose Videotelefon gerade in aller Beiläufigkeit nutzen. Skypen heißt nicht nur, über Bildschirm und Mikrofon vertraut miteinander zu reden; der andere begleitet auch über Stunden hinweg den eigenen Alltag, bleibt zugeschaltet, wenn man kocht, die Wohnung aufräumt oder seine Mails checkt. Die Temperatur des Mediengebrauchs hat sich unter Liebespaaren also radikal abgekühlt: von den »glühenden Drähten« der seltenen und teuren Telefonate hin zum ständig verfügbaren Videotelefon, das auf Zimmerwärme mitläuft. Die täglichen Begegnungen zwischen Madrid und Konstanz, San Francisco und Berlin, Paris und München sind nichts Besonderes, sagen die Nutzer, sie sollen gerade auch nichts Besonderes sein. Denn anders als die vor Bedeutung stockenden Ferngespräche vergangener Zeiten stellt Skype keine Ausnahmesituationen her, sondern verhilft einer Liebesbeziehung über Hunderte und Tausende Kilometer hinweg zu einer Art Tagesnormalität. »Wenn mir Laura nicht jeden Abend von so halb interessanten Alltagssachen wie dem neuesten Uni-Klatsch erzählen würde«, sagt einer, der seine Freundin in Spanien nur alle sechs Wochen sieht, »wären wir sicher nicht seit über zwei Jahren zusammen.«

Dank Skype haben sich die Phasen von An- oder Abwesenheit in Fernbeziehungen angenähert und sogar vermischt. Früher waren diese beiden Kategorien so klar voneinander geschieden wie die geografischen Tatsachen: nicht nur der Atlantik lag zwischen zwei Menschen, sondern auch ein Ozean an Stille. Heute erzählt man sich per Videotelefon Tag für Tag aus seinem Leben und verbringt Zeit miteinander, hört gemeinsam Musik, tanzt zum selben Lied, liest dieselben Websites. Die medienerprobtesten Paare – seit einem kurzen Auslandsaufenthalt oder einem Easyjet-Wochenende in einem anderen Land liiert – erwecken den Eindruck, der Unterschied zwischen körperlicher oder nur visueller Präsenz falle gar nicht mehr ins Gewicht. Sie repräsentieren damit jenen Idealtypus der Skype-Liebe, an den sich die Einträge im Blog des Unternehmens richten. Einmal war dort von der Idee eines »romantischen Candle-Light-Dinners« die Rede, zu dem sich die getrennten Paare regelmäßig zusammenfinden sollen. Das zwischengeschaltene Medium wird in dieser Fantasie komplett unsichtbar: »Ein bisschen italienische Musik im Hintergrund, ein paar Kerzen angezündet, schnell eine leckere italienische Pasta zubereitet, und schon kann der Skype-Videoanruf starten. Zu zweit schlemmt es sich immer besser.«

Die Schrift jagt dem Leben hinterher.

Ist das Leiden an der Abwesenheit also tatsächlich kuriert worden durch das Videotelefon? Wären die unglücklichsten Liebesbriefschreiber früherer Tage erlöst gewesen, wenn sie bereits hätten skypen können? Franz Kafka etwa führte, wie man heute sagen würde, von 1912 bis 1917 eine Fernbeziehung zwischen Prag und Berlin. Seine berühmten Briefe an Felice, seitenlang und über Jahre hinweg oft mehrmals täglich verschickt, sind der Versuch, die räumliche Distanz aufzuheben, den eigenen Tagesablauf minutiös zu protokollieren und den der Geliebten sich genauso minutiös auszumalen. Die Schrift jagt dem Leben aber vergeblich hinterher, die eigenen Briefe und die Antworten überkreuzen sich ständig, und irgendwann geht es in der Korrespondenz um nichts anderes mehr als um die Frage, ob die Post auch wirklich angekommen ist.

Gegen Ende seines Lebens hat Kafka ein ernüchterndes Fazit des Briefeschreibens gezogen: »Es ist ja ein Verkehr mit Gespenstern«, sagt er. »Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken.« Die Ära von Skype scheint die Vampire zwischen räumlich getrennten Liebespaaren besiegt zu haben. Per Videotelefon gesendete Küsse kommen an ihren Ort; das Unternehmen hat sogar eine Apparatur entwickelt, die diese Nähe körperlich spürbar machen soll. Wenn beide den sogenannten Kissenger an ihre Computer anschließen, eine Figur in Gestalt eines Schweinchens, und ihn gleichzeitig mit den Lippen berühren, spüren sie einen elektrischen Impuls.

Skype scheint den abwesenden Menschen also fast ohne mediale Reibung auf den Bildschirm zu zaubern. Allerdings weiß jeder, der den Dienst schon einmal in Anspruch genommen hat, dass dieses Wunschbild bereits häufig an den technischen Unzulänglichkeiten der Verbindung scheitert. Wer skypt, erzählt sich nicht nur von den Begebenheiten des Alltags und schlemmt nicht nur gemeinsam italienische Pasta, sondern hat regelmäßig auch mit Bild- und Tonproblemen zu kämpfen. »Hallo? Bist du noch da?« – »Ich seh dich nur verpixelt!« – »Dann ruf halt noch mal an.« – »Du wolltest doch skypen!« Eine Kollegin, die das Videotelefon seit eineinhalb Jahren täglich mit ihrem Freund in Leipzig benutzt, sagt: »Ich habe noch nie erlebt, dass alles problemlos funktioniert.«

Die Kommunikationsschwierigkeiten haben in Fernbeziehungen daher eine neue Art des Zueinanderfindens erforderlich gemacht: »Gut zusammenpassen« heißt nicht allein, dieselben Interessen und denselben Humor zu teilen, sondern zuerst einmal denselben medientechnischen Stand. »Als ich noch bei einer Familie unter dem Dach gewohnt habe«, erzählt die Kollegin mit dem Leipziger Freund, »befand sich der Router im Keller, und die Verbindung ist ständig abgebrochen. Ich habe mir dann sogar einen Repeater gekauft, aber es hat kaum was genutzt. In meiner jetzigen WG habe ich endlich eine gute WLAN-Verbindung.« Router, Repeater, WLAN: Elemente einer neuen Sprache der Liebe.

Diese Unzulänglichkeiten jedoch sind ein vorübergehendes Problem; sie werden dank der ständigen Optimierung der Übertragungstechnik in absehbarer Zeit verschwunden sein, genauso wie vermutlich auch die unvorteilhafte Erscheinung des Gesichts auf dem Bildschirm, das immer etwas zu blass wirkt und an den Ecken abgerundet, als würde man durch ein Fisch-augen-Objektiv blicken. Schwerer wiegt die nicht zu korrigierende Begrenzung des Mediums auf das Visuelle und Akustische. Der simultane Kuss auf ein Plastikschweinchen wird das Defizit nicht tilgen, dass man sich auch am Videotelefon weder riechen noch berühren kann.

Die Fernbeziehungs-Profis in den Online-Foren überbieten sich zwar mit ihren Ratschlägen zu »Skype-Sex«, doch so aufregend die Dessous, so romantisch die Beleuchtung, so verrucht der Einsatz von Dildos und Wachs auch sein mag: Letztendlich bleibt es dabei, dass zwei Menschen mit Notebooks sich voreinander selbst befriedigen. Kein Paar im Bekanntenkreis kann oder will von solchen Erfahrungen berichten. Worin sich dagegen alle einig sind, ist die Beobachtung, dass Skype das Streiten unmöglich macht. In Momenten, in denen man einfach durchatmen und für einen Moment aus dem Zimmer gehen müsste, bleibt am Videotelefon nur die Möglichkeit, am Bildschirm zu bleiben und zu schweigen oder die Leitung zu kappen – das Erste eine erdrückende, das Zweite eine allzu dramatische Reaktion.

Dennoch verabreden sich auch heute wieder Millionen von Paaren zu ihrem täglichen Skype-Ritual, reden, essen, schlafen zusammen ein. Das Videotelefon schafft die Illusion der Anwesenheit und hat die räumliche Trennung zwischen Liebenden zweifellos erträglicher gemacht. Aber die Distanz, die bleibt, ist immer spürbar – am deutlichsten vielleicht an einer kleinen Verschiebung. Denn es ist beim Skypen nicht möglich, einander anzublicken. Wenn man dem Gesicht auf dem Bildschirm in die Augen sieht, glaubt der andere, man schaue leicht nach unten, weil die Kamera am oberen Rand des Computers installiert ist. Diese schöne Eigenart der unmittelbaren Begegnung, dass jemanden anzusehen immer gleichbedeutend damit ist, auch angesehen zu werden, ist einer Asymmetrie der Blicke gewichen. Dank Skype können wir uns nahe sein, vierundzwanzig Stunden am Tag, aber wir schauen fortwährend aneinander vorbei.

Illustration: Rafael Alvarez