DiePetersburger Hängung vereint Kunst mit persönlichen Erinnerungen und Trophäen – die Wand wird zur riesigen Visitenkarte.
Die Petersburger Hängung
Die weiße Wand ist vom Aussterben bedroht, vor allem in den Altbauwohnungen der nicht so günstigen Viertel in Berlin oder München. Dort wohnen Kulturmenschen, die grün wählen, Leitungswasser in Glaskaraffen füllen und einen Saab oder Volvo fahren. In den letzten Jahren haben sie sich Kunst gekauft, Gemälde, Zeichnungen, Collagen, ein paar haben sie billiger bekommen, weil sie den Künstler gelegentlich beim Ausgehen treffen. Und jetzt bedecken diese kleinen und mittelgroßen Bilder ihre Wände, scheinbar gedankenlos arrangiert, Rahmen an Rahmen, kreuz und quer, oft rauf bis zur 3,50 Meter hohen Decke.
Petersburger Hängung nennt sich die enge Reihung von Kunstwerken – der Name geht auf die Eremitage in Sankt Petersburg zurück. Warum aber hat sich dieses System auch in den Wohnzimmern von Feuilletonisten, Grafikern und Werbetextern durchgesetzt? Und was bringt es, wenn man vor lauter Kunst das Bild nicht mehr sieht, geschweige denn betrachten, auskosten oder wertschätzen kann? Schauen wir uns ein paar dieser Wände genauer an: Natürlich geht es – wie fast immer beim Stadtmenschen – um Individualität und Distinktion. Er hebt sich nun mal für sein Leben gern ab, vom Nachbarn, vom Kollegen, auf jeden Fall vom Rest, und tut dies – genau wie beim Musikgeschmack und der Küchenlampe – auf die exakt gleiche Weise wie die, von denen er sich eigentlich unterscheiden will. Im Grunde will er zeigen, wer er ist, und bespielt sein Zuhause nicht anders als sein Facebook-Profil, indem er Bilder, nein, Erinnerungen und Trophäen auf seine Wand lädt: Zwischen den Bildern und Fotografien nämlich tummeln sich häufig Kinderzeichnungen, Zeitungsausrisse, vergilbte Polaroids oder ein altes Schwarz-Weiß-Foto der Großeltern, natürlich im alten Rahmen mit ordentlich Patina dran; der bürgerliche Mittelstand will sich seiner Wurzeln versichern, er sehnt sich nach Identität, Herkunft und Halt.
Selbst beim Chef der einflussreichen Galerie Contemporary Fine Arts, Bruno Brunnet, hängen Kinderkritzeleien neben kaum bezahlbaren Riesenformaten von Georg Baselitz oder Peter Doig an der Wand. Der große Vorteil einer eigenen Wohnung: Von Zeit zu Zeit kommen Gäste, die gar nicht anders können als das Arrangement zu betrachten. Das Ganze funktioniert wie eine riesige Visitenkarte inklusive Lebenslauf: Wo war ich, wen kenne ich, was kann ich mir leisten und wie süß sind eigentlich meine Kinder? Diese Fragen werden binnen Sekunden beantwortet, ohne dass danach gefragt worden ist. Dieses Selbstvermarktungsprinzip ist nicht neu, schließlich hing schon in unserem Kinderzimmer ein Nirvana-Poster neben der Ehrenurkunde von den Bundesjugendspielen.
Es geht um Identität und lückenlose Einordnung, um die Selbstvergewisserung des eigenen Wertes. Wenn ich mein Leben an der Wand sehe, fühle ich mich lebendig. Nicht selten übrigens hängen zwei, drei Bilder leicht schief oder gleich ungerahmt an der Wand. Wer denkt, dass ihr Besitzer nachlässig ist, hat nichts verstanden: Die Petersburger Hängung ist kalkuliertes Understatement. Es geht darum, das Kunstwerk in den Alltag zu integrieren und vom Sockel runter ins pralle Leben zu stoßen – und welches Leben ist schon frei von kleinen Brüchen?
Auf dem Boden – gegen die Wand gelehnt
Wer seine Bilder nur gegen die Wand lehnt, will vor allem eines zeigen: »Kunst gehört bei mir zum Leben.«
Auf dem Boden – gegen die Wand gelehnt
Wenn ein Bild in der Gegend herumsteht, kommt sicher gleich einer und hängt es auf – diese Regel gilt nicht mehr. Längst nämlich gibt es Menschen, die ihre Gemälde oder Fotos nicht mehr an einer ganz bestimmten Stelle präsentiert haben wollen. Stattdessen lehnen sie ihre Bilder, gerahmt oder ungerahmt, im Zehn- bis Zwanzig-Grad-Winkel gegen die Wand. Sie stehen dann lässig und locker auf dem Dielenboden oder einem Sideboard aus Teakholz und können jederzeit einen Tick nach links oder rechts geschoben werden. Klingt merkwürdig, hat aber Vorteile: Warum nämlich sollte man sich festlegen, in Zeiten, wo morgen schon wieder alles ganz anders sein kann?
Vielleicht geht der Euro flöten, und man muss seine Kunst verkaufen? Vielleicht findet man nächste Woche eine noch schönere Wohnung mit Flügeltüren und Fischgrätparkett? Oder die Freundin wechselt oder der Geschmack, und auf einmal gefällt einem unglaublich, was man gestern noch hässlich fand – oder umgekehrt. Hinstellen also, da muss man sich zwar bücken, um die Bilder anzuschauen, dafür ist man flexibel. Bleibt die Frage, wer so was macht: professionelle Sammler natürlich, die erst alle denkbaren Standorte für ihre Bilder prüfen und auf sich wirken lassen, bevor sie sich festlegen. Sie kombinieren alles mit allem, probieren aus, stellen hin, hängen um. Nach zwei, drei Wochen steht die Entscheidung, und die Bilder wandern vom Boden an die Wand. Da Bilder aber längst auch in Ausstellungen und Privatwohnungen an die Wand gelehnt werden, muss noch etwas anderes dahinterstecken: Wer sein Bild nicht mehr exponiert, wer es scheinbar nachlässig gegen die Wand lehnt, will vor allem Routine und Selbstverständlichkeit im Umgang mit Kunst suggerieren: Das Ding kann ja eben erst angeliefert worden sein. Oder man war so beschäftigt, dass man seit einer Woche nicht dazu gekommen ist, es ordentlich an der Wand zu platzieren. Irgendwann lässt man es halt stehen – und gewöhnt sich dran.
Bilder an der Wand, das funktioniert wie eine temporäre Installation. Das Kunstwerk wird systematisch entwertet, indem ihm jede Aura genommen wird; wie ein alter Stuhl steht es im Zimmer herum, manchmal noch in Folie eingewickelt. Vielleicht lässt sich so sagen: Je flapsiger die Anordnung von Bildern – desto größer die Kennerschaft oder aber die Eitelkeit, die dahinterstecken.
Eine Wand – ein Bild
Ein Bild pro Wand – das sieht man fast nur noch in Museen oder halt im Wohnzimmer der Eltern.
Eine Wand – ein Bild
Ein Bild pro Wand – das gibt es in der Nationalgalerie, im Louvre oder bei den Eltern im Schwarzwald, wo über dem Sofa seit vierzig Jahren das leuchtende Bergpanorama hängt – ein Hochzeitsgeschenk, natürlich. Der distinguierte Stadtmensch lehnt diese Fixierung auf ein einziges Kunstwerk vehement ab, deutet sie doch darauf hin, dass man sich entweder nur das eine Bild leisten konnte oder aber dermaßen stolz darauf ist, dass man ihm den besten Platz in der ganzen Wohnung zur Verfügung gestellt hat. So viel Hingabe, das wirkt kleinbürgerlich, spießig und uncool, dann lieber viele kleine Bilder (siehe Petersburger Hängung) – oder gar keins: Judy Lybke, Galerist von Neo Rauch, zum Beispiel lebt in einem schönen, großen Haus ohne ein einziges Gemälde. Egal wohin man schaut, immer starrt man auf weiße Leere. »Ich hab den ganzen Tag mit Bildern zu tun«, sagt er, »wenn ich zu Hause bin, will ich meine Ruhe haben.«
Das Konzept, Kunst an einer weiß gestrichenen Wand zu präsentieren – auch White Cube genannt –, setzte sich vor knapp hundert Jahren in der klassischen Moderne durch, seitdem garantiert es dem Kunstwerk ein Maximum an Aufmerksamkeit, indem jede Verbindung zwischen dem Bild und dem Raum, in dem es präsentiert wird, aufgehoben ist. Alltag und Kunst finden in getrennten Sphären statt: hier die heilige Kunst, dort der irdische Betrachter.
Der boomende Kunstmarkt der letzten zehn Jahre hat dieser Technik ein Ende gesetzt: Auf einmal blätterten die Menschen in Kunstmagazinen und fuhren in die Schweiz zur Art Basel, auf einmal meinte jeder, sich eine kleine Privatsammlung anschaffen zu müssen, und besorgte sich Bilder von mittelerfolgreichen Künstlerfreunden oder schaute mit 300 Euro in der Tasche beim »Rundgang« der örtlichen Kunstakademie vorbei, um ein bisschen einzukaufen. Seitdem wird geklotzt, seitdem gehört Kunst in unser Leben wie grüner Tee oder Bionade.
Kunst braucht Kontext, Kunst braucht Alltag – das war das Motto des Kunstbooms der letzten Jahre, das von großen Galerien über Style-Blogs und Designmagazine bis in unsere Wohnzimmer nach MünchenHaidhausen gewandert ist. Und weil selbst in Schöner Wohnen inzwischen Tipps zur Petersburger Hängung stehen, sind wir gespannt, welcher Trend als nächster kommt und wer wann mit aufspringt.
Fotos: Sorin Morar