SZ-Magazin: Frau Abramović, haben Sie gut geschlafen letzte Nacht?
Marina Abramović: Danke, ja. Ich schlafe meistens gut. Immer schon. Einmal, als ich noch ein Kind in Belgrad war, gab es nachts Ausschreitungen. Auf den Straßen wurde gekämpft, das Zeitungsgebäude gegenüber unserem Haus stand in Flammen. Alle waren die ganze Nacht mit Angst an den Fenstern gestanden. Nur ich nicht, ich lag tief schlafend im Bett. Ich habe noch nie in meinem Leben Schlaftabletten gebraucht.
Als Kind wurden Sie von Ihrer Mutter gern nachts aufgeweckt, weil sie fand, Sie schliefen zu »unordentlich«. Wie prägend ist so was?
Meine Mutter war eine berühmte serbische Partisanin. Sie hat mir Ordnung und Disziplin eingebläut, als wäre ich eine Soldatin. Auch beim Schlafen. Seitdem läuft das bei mir ab wie ein Programm, dagegen kann ich gar nichts machen. Wenn ich aus einem Hotelzimmer auschecke, würden Sie nicht glauben, dass jemand im Bett geschlafen hat. Ich hinterlasse fast keine Spuren.
Träumen Sie manchmal von Ihrer Mutter?
Nicht mehr. Früher träumte ich, sie umzubringen. Sie kontrollierte mein ganzes Leben. Ich kam überhaupt nicht klar mit ihr. Bis Robert Wilson vor Kurzem dieses Theaterstück über mich machte und die Rolle meiner Mutter mit mir besetzte. Das war eine Befreiung. In den Proben und dann auf der Bühne musste ich noch einmal die schmerzhaftesten Momente meines Lebens durchmachen – immer wieder. Es war besser als jede Therapie. Schade, dass sie das nicht mehr miterlebt. Ich habe sie ziemlich gut gespielt!
Ihre Eltern sollen mit einer Pistole neben dem Kopfkissen geschlafen haben.
So habe ich sie in Erinnerung. Zum 14. Geburtstag schenkte mir mein Vater auch eine Pistole und zeigte mir im Wald, wie man damit schießt. Aber ich habe sie gleich im Schnee verloren. Es war eine schöne Damenpistole.
Ein paar Jahre vorher hatten Sie schon mal eine geladene Waffe in der Hand. Und haben mit einem Freund russisches Roulette gespielt. War das nur Übermut?
Es war die Pistole meines Vaters. Der Schuss löste sich Gott sei Dank erst danach, als ich auf das Bücherregal meines Vaters zielte. Dann erst kam der Schock. Die Kugel schlug in Dostojewskis Idiot ein. Es war kindliche Unbedarftheit, das Austesten von Grenzen, nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich hatte damals ja auch den Plan, mich so lang mit dem Gesicht auf mein Bett fallen zu lassen, bis meine Nase brach, die ich so hasste. Ich wollte so eine wie Brigitte Bardot. Stellen Sie sich das mal vor: Ich mit Brigitte-Bardot-Nase, wie lächerlich würde das heute aussehen!
Führen Sie immer noch ein Traumtagebuch?
Ja. Schon als Kind fing ich an, meine Träume zu malen. Es waren sehr lebhafte Träume. Einen träume ich immer wieder: Ich komme nach einer langen Reise an einem einsamen Haus im Wald an. Zu meiner Überraschung findet dort eine große Party statt und alle scheinen mich zu kennen. Banal eigentlich, was?
Haben Sie eine Ahnung, was der Traum bedeuten könnte?
Nein. Neulich träumte ich ihn wieder, nach vielen, vielen Jahren. Und wissen Sie, was: Alles war wie immer, die gleichen Leute, nur dass alle graue Haare hatten.
Für Ihre Performance The House with the Ocean View verbrachten Sie 2002 zwölf Tage und Nächte in einer New Yorker Galerie auf einer Bühne mit drei offen einsehbaren Räumen. Es gab auch ein Bett. Haben Sie da auch gut geschlafen?
Ich habe ja nur nachts geschlafen, als die Galerie geschlossen war und niemand da war. Sehr wenig übrigens. Wenn Sie zwölf Tage nichts essen, nur Wasser trinken, sind sie extrem aufgedreht. Ich hatte die verrücktesten Träume.
Ihre Langzeit-Performances dauern oft Wochen, manche sogar Monate. Viele sind körperlich sehr fordernd. Sind Sie jemals bei einer vor Erschöpfung eingeschlafen?
Nein. Performancekunst, wie ich sie betreibe, ist ein ernstes Business, daher trainiere ich davor so hart wie ein Astronaut vor einem Raumflug. Für The Artist is Present 2010 im New Yorker Museum of Modern Art musste ich zum Beispiel meinen kompletten Stoffwechsel umstellen. Das hat Monate gedauert. Kein Mittagessen, damit mein Magen sich ans Hungern gewöhnt. Wasser nur nachts, damit ich tagsüber, wenn ich im Museum sitze, nicht ständig aufs Klo muss. Ich wurde stündlich zum Trinken geweckt.
Sie saßen drei Monaten lang sechs Tage die Woche acht Stunden bewegungslos auf einem Stuhl im Museum. Ihnen gegenüber konnten Besucher Platz nehmen und Ihnen in die Augen schauen. Was haben Sie dabei gelernt?
Dass sich Schmerzen kontrollieren lassen. 15 Minuten kann jeder ruhig sitzen. Aber schon nach einer Stunde zwickt und kneift es überall. Nach drei Stunden will jeder einzelne Muskel deines Körpers in eine andere Position. Irgendwann gelangt man zu dem Punkt, an dem man glaubt ohnmächtig zu werden, wenn man sich nicht sofort bewegt. Dann denkt man: Okay, fuck it! Falle ich eben in Ohnmacht! Die Befreiung kommt, wenn man sich aufgibt und merkt: Es geht ja doch weiter. Schmerz lässt sich kontrollieren.
Im Laufe Ihrer Karriere haben Sie sich mit Messern verletzt, die Haare gerauft, über Kerzen aufhängen lassen, sie ließen sich ohrfeigen und mit Waffen bedrohen. Ging es dabei nur um Selbstkontrolle?
Schmerz in der Kunst ist für mich eine Tür zu einer höheren Bewusstseinsebene, wo das Innere zu leuchten beginnt. In alten Kulturen wird das oft beschrieben: Man muss die körperlichen Schmerzen überwinden, um die Tür zu öffnen. Es ist ein schwerer Weg, aber man erfährt unglaubliche Dinge, wenn man es geschafft hat.
Was denn?
Es ist eine Art Erleuchtung, es setzt Energien frei. Wir fürchten den Schmerz. Wir wollen nur Dinge tun, die wir mögen. Doch wer immer den Weg des geringsten Widerstandes geht, ändert nichts in seinem Leben und dreht sich im Kreis. Man muss im Leben Risiken eingehen, dorthin gehen, wo noch keiner war. Als Kolumbus nach Westen aufbrach, dachte man noch, die Erde wäre eine Scheibe. Er stach mit der Angst in See, irgendwann von der Erde zu fallen, und entdeckte Amerika. Als Künstler muss man bereit sein, von der Erde zu fallen.
Sind Sie jemals von der Erde gefallen?
Natürlich. Das Scheitern ist essenziell. Man muss das Scheitern in sein Unterfangen einbeziehen. Viele Künstler finden eines Tages heraus, was die Gesellschaft von ihnen erwartet, und dann beginnen Sie sich zu wiederholen. Dann stirbt die Kunst.
Ist Kunst nicht auch ohne Leiden möglich?
Es geht ja nicht ums Leiden. Schmerz ist nur eine Form von Suche. Ich kann von einem Auto angefahren werden, das ist Schmerz. Wer Liebeskummer hat, leidet wie ein Hund. Mir geht es um etwas anderes. Ich inszeniere den Schmerz bei vollem Bewusstsein und vor aller Augen, ich stelle mich schmerzhaften Situationen und transzendiere sie durch meinen Willen. Das Publikum gibt mir dabei Kraft. Und so wie es aussieht, gebe ich den Menschen auch etwas.
Neben dem Schmerz ist die Rastlosigkeit ein großes Thema in Ihrem Leben. In den Siebzigerjahren sind Sie mit Ulay, Ihrem Performancepartner und Lebensgefährten, in einem Kleinbus jahrelang durch Europa gereist. Wonach haben Sie gesucht?
Wir lebten einfach wie wir es in unserem Manifest Art Vitale gefordert hatten: keinen festen Wohnsitz! Und: ständige Bewegung! Wir wollten einfach keine Kompromisse mehr eingehen, die das bürgerliche Leben für uns bereit hielt. Das Leben im Bus war die Lösung. Darin war eine kleine Matratze für uns beide, ein Gaskocher, auf dem ich Suppe kochte, und einige wenige Habseligkeiten. Und unser Hund. So lebten wir fünf Jahre. Für ein anderes Leben hätte das wenige Geld, das wir mit unseren Performances in Europa verdienten, nicht gereicht. Es war eine sehr harte Zeit, aber auch eine sehr glückliche. Es ging nur um die Kunst und uns beide. Wir haben uns sehr geliebt.
»Ich bin eine sehr krude Mischung aus Kommunismus und Atheismus, aus Bourgeoisie und dem Militarismus. So ein Durcheinander! «
Später verbrachten Sie Jahre in Australien bei den Aborigines und waren bei buddhistischen Mönchen. Wie wichtig war dieses Aussteigerleben für Ihr Schaffen?
Ende der Siebzigerjahre änderte sich der Zeitgeist. Performances waren nicht mehr gefragt auf dem Kunstmarkt. Alle Performancekünstler fingen plötzlich an zu malen. Das wollten wir nicht. Also verkauften wir den Bus und reisten in die Wüsten. Wir dachten: Jesus, Moses, Mohammed – sie alle gingen in die Wüste als Nobodys, und kamen zurück als ein Jemand. Also sind wir in die Große Victoriawüste nach Australien aufgebrochen. Wir haben uns ganz und gar fallen gelassen in die Kultur dort. Wir aßen Kängurus und Ameisen und schliefen unter freiem Himmel. Später verbrachten wir einige Zeit in der indischen Thar-Wüste und beim Dalai Lama.
Sind Sie jemals irgendwo angekommen?
Ich bin ein moderner Zigeuner, ein Nomade. Ich kenne das Gefühl von Heimat nicht. Wie auch? Ich bin eine sehr krude Mischung aus Kommunismus und Atheismus, aus Bourgeoisie und dem Militarismus meiner Mutter. Und dann gab es noch meine streng religiöse Großmutter, die den Kommunismus hasste. So ein Durcheinander! Kein Wunder, dass ich später tibetische Buddhistin geworden bin.
Eine ihrer aufwendigsten gemeinsamen Performances war der lange Marsch auf der chinesischen Mauer 1988. Ulay, Ihr Partner, von Westen, Sie von Osten. Jeder 2500 Kilometer. Ulay sagte hinterher, das härteste sei nicht der monatelange Marsch gewesen, sondern die schlechten Hotelbetten. Wie war es bei Ihnen?
Ich hab nie in Hotels übernachtet, sondern immer privat bei Dorfbewohnern. Das war von meinen sieben chinesischen Aufpassern so organisiert. Ich schlief zusammen mit fünf, sechs Frauen, aufgereiht wie Sardinen auf einer Schlaffläche in der Küche, die von unten beheizt war. Zu unseren Köpfen waren die Nachttöpfe aufgestellt. So lief das fast jede Nacht ab. Mein Plan war gewesen, in einem Zelt zu schlafen, aber das wurde mir nicht erlaubt. So musste ich jeden Tag zwei Stunden rauf und runter wandern, weil die Mauer meist auf den Bergen verlief.
Die Performance hieß The Lovers und markierte doch Ihre Trennung. Was ist schiefgelaufen?
Ulay hatte mich mit seiner chinesischen Übersetzerin betrogen. Sie war schwanger von ihm. Das hat er mir schließlich auf der Mauer gestanden. Unsere Beziehung aber war zu diesem Zeitpunkt schon kaputt. Es hat mir trotzdem das Herz gebrochen.
2010 gab es ein Wiedersehen. Ulay kam zu Ihrer Performance im MoMA und setzte sich auf den Stuhl Ihnen gegenüber. Den Youtube-Clip, der diesen Moment festhält, haben inzwischen über sieben Millionen Menschen angesehen.
Unglaublich, nicht? Kinder sprechen mich auf der Straße darauf an. Ich hatte ihn eingeladen als Ehrengast für den letzten Tag, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass er sich auf den Stuhl setzt. Unser Verhältnis war zu jener Zeit kompliziert und ist es noch. Ein Auf und Ab. Außerdem war er mit seiner neuen Frau da. Als ich meinen Kopf hob und in seine Augen sah, war das, als würde mein ganzes Leben noch einmal im Zeitraffer vor mir ablaufen.
Sie haben stumm geweint.
Stimmt, ich brach sogar meine eigenen Regeln und hab seine Hände genommen. Ich musste es einfach tun. Eigentlich kann ich gar nicht darüber sprechen, so nahe geht mir das.
Nun haben Sie ein eigenes Institut ins Leben gerufen, das sich der Förderung und Verbreitung von Performancekunst widmen soll. Als Werbebotschafterin konnten Sie Lady Gaga gewinnen, als Architekten Rem Koolhaas. Kann man Performancekunst lernen?
Warum denn nicht? Ein Künstler, der ein bestimmtes Alter erreicht hat, möchte sein Wissen und seine Erfahrungen weitergeben an jüngere Generationen. Wie damals am Bauhaus. Die Leute kritisieren mich für meine Nähe zur Modewelt oder meine PR-Aktionen mit Lady Gaga und Jay-Z, aber sie sehen nicht das große Ganze. Meine Kunst ist immateriell, ich werde nichts Greifbares hinterlassen. Es geht um mein Vermächtnis, um Aus-tausch, darum, verschiedene Gebiete zusammenzubringen, und darum, die spirituellen Techniken der Bewusstseinserweiterung weiterzugeben.
Können Sie damit leben, dass manche Sie inzwischen für einen »Guru« halten?
Nein, so eine Rolle würde ich nie für mich akzeptieren. Ich möchte auch nicht »Großmutter der Performancekunst« genannt werden. Ebenso wenig wie »Künstlerin«. Kunst hat kein Geschlecht. Ich bin ein Künstler. Ich kann den Feminismus und alles, für was er steht, nicht leiden, denn er stellt Frauen in ein Getto. Wenn, dann nennt mich »Kriegerin«. Das Einzige, was in der Kunst für mich zählt, ist, ob sie gut oder schlecht ist.
Was ist gute Kunst für Sie?
Sie muss es schaffen, das Denken in einer Gesellschaft zu ändern. Kunst hat so viele Dimensionen. Jede Gesellschaft hat andere Bedürfnisse, manche brauchen politische Künstler, andere spirituelle. Künstler sind Diener der Gesellschaft. Und ihr Sauerstoff. Sie sollen uns erheben, weiterbringen, nicht runterziehen. Runterziehen ist so leicht.
Im Juni wird es wieder eine dreimonatige Performance geben von Ihnen, diesmal in der Londoner Serpentine Gallery. Was erwartet die Besucher?
Ich habe mich damit beschäftigt, wie ich das, was ich auf dem Stuhl im MoMA erreicht habe, dieses Level an Immaterialität, noch steigern kann. Was schwer ist, denn was ist unmittelbarer als zwei Stühle und zwei Menschen darauf, die sich in die Augen sehen? Ich werde in London also auch noch die Stühle weglassen. Da bleibt nicht mehr viel übrig. Nur ich und das Publikum.
Was werden Sie tun?
Ich werde eine Art »zeitlosen Raum« erschaffen, in dem Menschen Stunden an Zeit mit mir verbringen können. London als Ausgangsort der Kunstmarkt-Blase hat die Kunst in eine gefährliche Lage gebracht: Hier wurde ein Francis Bacon für 50 Millionen Euro verkauft, das steht in keinem Verhältnis mehr. Es geht nur noch ums Geld, die Kunst verschwindet dahinter. Ich werde dieser zynischen Entwicklung die vollkommene Leere entgegensetzen. Das Museum wird leer sein, keine Kunstwerk nirgendwo. Ich werde da sein, acht Stunden am Tag, vier Tage die Woche, denn montags hat die Galerie geschlossen. Ich werde das Museum morgens aufsperren und abends wieder zusperren. Jeder kann kommen. Drei Monate lang.
Keine Regeln?
Das Publikum ist mein Material, ich werde mir für jeden Tag etwas ausdenken. Mal werden wir still sitzen. Oder auf dem Boden liegen. Uns Geschichten erzählen. Ich weiß es nicht. Ich werde diesmal einfach alles weglassen, selbst ein Konzept.
Ist das noch Kunst?
Für mich ist es die Kunst des 21. Jahrhunderts, befreit von jeder Materialität: ein charismatischer Ort, an dem Künstler und Publikum in einen Dialog eintreten. Nichts steht mehr zwischen uns. Es geht um die Erfahrung schierer Präsenz. Davon habe ich schon vor 30 Jahren geträumt. Jetzt muss ich beweisen, dass es funktioniert. Und ich habe Panik, denn das kann gründlich schiefgehen. Ich kann von der Erde fallen. Aber irgendwas wird passieren, davon bin ich überzeugt, etwas Einzigartiges.
Fotos: Pari Dukovic