»Meine Kunst ist visueller Protest«

Es kann gefährlich sein, auf den Straßen Nigerias offen seine Meinung zu sagen. Der Künstler Ian Umeh hat seinen eigenen Weg gefunden: Er kommentiert Politik und Gesellschaft mit aufwendig gestalteten Kostümen.

Am Valentinstag trug Ian Umeh ein gebrochenes Herz. Er wollte die Bedeutung des Tages hinterfragen.

Sehen mich Passanten in meinen Kostümen oder mit meinen überdimensionalen Objekten in meiner Heimatregion Enugu in Nigeria auf der Straße, reißen sie die Münder auf, lachen ungläubig oder runzeln die Stirn. Genau diese Reaktionen will ich erreichen. Ich möchte die Menschen mit meiner Aufmachung irritieren, damit sie stehen bleiben und zu mir blicken. Sie sollen darüber nachdenken, was ich trage. Durch meine Kreationen kommentiere ich die Gesellschaft und die Politik in Nigeria. Es ist schwer, hier als einzelne Person auf der Straße seine Meinung zu äußern. Das kann gefährlich werden. Deshalb übersetze ich meine Ansichten in Textilien und Objekte. Meine Kunst ist visueller Protest.

Weil sich der Künstler oft fühlt, als könne er den großen Er­wartungen der Gesellschaft nicht entsprechen, hat er diese über­dimensionale Jacke angefertigt.

Ich habe zum Beispiel ein Ohr angefertigt, das viel größer ist als mein Kopf. Das Ohr habe ich an einem Eisendraht befestigt, den ich um meinen Kopf gewickelt und dann unter einer Mütze versteckt habe. So bin ich durch mein Viertel gelaufen. Das Ohr sollte ausdrücken, dass der Gesellschaft in Nigeria nicht richtig zugehört wird. Die Menschen demonstrieren immer wieder gegen Korruption oder manipulierte Wahlen. Aber die Politiker reagieren nicht darauf. Ich hoffe, dass so viele Menschen wie möglich über diese Probleme sprechen, nachdem sie mich gesehen haben. Und das nicht nur in Enugu. Jeden meiner Auftritte filmt meine Schwester, und ich lade die Videos auf Instagram und TikTok hoch. Dort habe ich mittlerweile Tausende Follower.

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In meinen Videos zeige ich auch, wie ich meine Kreationen zu Hause anfertige. Ich baue und bastle alles selbst, meistens ver­wende ich dabei Reste, die ich auf der Straße gefunden habe. Karton, Holz, PET-Flaschen. Wenn ich gerade etwas Geld übrig habe, kaufe ich hochwertigere Materialien wie Leder dazu. Das Ohr habe ich aus Stangen geformt und die Konstruktion dann mit Netzen in Blau, Braun, Schwarz und Gelb bedeckt, um ungefähr meinen Hautton zu erzeugen. Mitlerweile studiere ich Kunst, aber ich habe keine Hilfe, ich überlege mir spontan, wie genau ich etwas anfertige.

Manchmal sind die Botschaften von Ian Umeh gleich erkennbar. Das große Smartphone soll den übermäßigen Handykonsum der Gesellschaft kritisieren.

So habe ich auch angefangen. Ich habe nicht geplant, diese Art von Kunst zu machen, es war eine Eingebung. Vor fast zwei Jahren ist mein Vater verstorben. Drei Wochen später sah ich im Haus meiner Eltern seine schicken schwarzen Schuhe im Regal stehen. Ich habe einfach beschlossen, sie groß nachzubauen. So wollte ich die Erinnerung an ihn bewahren. Und es war auch eine gute Möglichkeit, mich während der Trauer zu beschäftigen. Also habe ich Karton zurechtgeschnitten, den ich auf der Straße gefunden hatte. Die großen Kartonschuhe habe ich innen mit Holz stabilisiert und außen mit Leder überzogen. Schließlich habe ich die Schuhe meines Vaters auf der Holzsohle festgenagelt. So konnte ich in der Konstruktion gehen. Ich war ziemlich stolz darauf, habe sie gleich angezogen und bin damit über den Markt in meiner Nachbarschaft gelaufen. Zuerst hat sich das komisch an­gefühlt. Die Leute haben über mich gelacht. Sie haben sich wahrscheinlich gefragt, wer dieser verrückte Typ ist. Aber mir haben die Schuhe Selbstvertrauen gegeben.

Schon damals hat meine Schwester den Auftritt gefilmt. Das Video habe ich geschnitten und auf Instagram veröffentlicht. Es war mein erster viraler Clip. Mittlerweile haben ihn fast 30 Millionen Menschen gesehen. Die Schuhe hatten noch keine Botschaft, die ich vermitteln wollte. Aber durch sie habe ich gemerkt, dass ich mit dieser Arbeit Aufmerksamkeit erregen kann, auf der Straße und im Internet.

Vor Kurzem habe ich ein Kostüm zum nigerianischen Unabhängigkeitstag angefertigt, der war am 1. Oktober. Es besteht aus zwei Teilen, auf der einen Seite ein grauer Anzug, der das Christentum repräsentiert. Auf der anderen Seite verschiedene Tierhäute, die traditionelle Kleidung der Igbo, zu der Ethnie gehöre auch ich. Diese Seite repräsentiert, wen wir verehrt haben, bevor die weißen Männer nach Afrika kamen und uns sagten, unsere Götter seien nicht die richtigen Götter. Seitdem gibt es immer wieder Diskussionen und sogar Kämpfe darum, welche Religion und welcher Gott überlegen sein soll. Ich habe die beiden Seiten zusammengenäht und wollte damit diese Dualität zeigen – und die Möglichkeit von Koexistenz der unterschiedlichen Religionen in Nigeria thematisieren. Als ich damit herumlief, riefen mir viele Leute zu, dass ich weitermachen soll.

Normalerweise herrscht in Nigeria kein großes Interesse an Kunst. Das gilt als etwas, dem man sich nur widmen kann, wenn man sehr viel Geld hat. Die wirtschaftliche Lage ist so schlecht, dass die Leute sich vor allem darum kümmern müssen, satt zu werden. Also herrscht großer Druck, dass man einen ganz bestimmten Weg einschlägt, um Erfolg zu haben: Man arbeitet in einem Büro und zieht sich vernünftig an. 

Ich habe mich durch diese Erwartung oft eingeengt gefühlt. Sie galt auch in meiner Familie. Wir waren nicht arm, wir hatten genug Essen und Kleidung, und meine Eltern konnten mich und meine vier älteren Geschwister in die Schule schicken. Trotzdem haben sie meine Kunst lange als Zeitverschwendung angesehen, weil ich damit am Anfang kein Geld verdient habe. Das hat sich mittlerweile geändert, ich verdiene Geld durch meine Facebook-Seite und Kooperationen mit Marken. Aber leben kann ich davon noch nicht.

Kreativ zu sein ist für mich auch eine Möglichkeit, mich von diesen Erwartungen zu lösen. Ich kann meine Individualität zeigen und beweisen, dass auch Kunst zum Erfolg führen kann. Ich glaube, wenn mein Vater meine Arbeiten heute sähe, wäre er stolz auf mich.

Bald würde ich gern aus Nigeria weg­ziehen, in ein Land, in dem meine Kunst noch mehr wertgeschätzt wird. Aber ich bin dankbar für meine Herkunft. Sie hat mich dazu gebracht, kreativ zu werden. Ich wäre wahrscheinlich nicht auf die Idee gekommen, Reste weiterzuverarbeiten, und hätte nicht den Drang gespürt, Aufmerksamkeit zu erzeugen, wenn ich es nicht gemusst hätte. Viele Menschen außerhalb von Afrika stellen sich unter nigerianischer Kunst immer noch entweder traditionelles Handwerk oder Stammeskunst vor. Ich will zeigen, dass unsere Kreationen innovativ sein können, konzeptuell und sehr persönlich.