Künstliches Leben

Jede Minute gelangt eine Lastwagenladung Plastik in die Weltmeere. Die Französin Manon Lanjouère macht aus Müll, der an den Strand gespült wird, Kunst.

Die Algenart Emiliania Huxleyi findet sich in allen Meeren mit Ausnahme der Äquatorialzone. Hier zu sehen eine Nachbildung aus Duschsieben.

Vier Wochen auf dem französischen Expedi­tionsschiff »Tara«, und die Welt von Manon Lanjouère war eine andere. Jene Zeit, die sie im Herbst 2021 auf dem Atlantik zwischen Salvador de Bahia und Rio de Janeiro mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterwegs war, all die Mikroorganismen aus dem Meer unter dem Mikroskop inspizierte und ihre Formen bewunderte, beschreibt sie heute als Offenbarung, als Magie. Plötzlich konnte sie Lebewesen sehen, die nur wenige Mikrometer – ein Mikro­meter entspricht einem Tausendstel Millimeter – groß waren.

Manon Lanjouère ist keine Meeresbiologin. Sie ist Künstlerin. Die heute 32-Jährige studierte Kunstgeschichte in Paris und wandte sich dann der Fotografie und Videografie zu. Für den Forschungsaufenthalt auf dem Schiff bewarb sie sich, weil sie sich dafür interessierte, wie der Mensch die Umwelt beeinflusst – vor allem die Ozeane. Zu ihrer Arbeit als Künstlerin gehört es schließlich auch, Unsichtbares sichtbar zu machen. Indem sie mit Plastik Meeresorganismen nachbaut, etwa Algen, Nesseltiere oder Plankton, will Lanjouère die Aufmerksamkeit der Menschen auf die Verschmutzung der Meere lenken. Das ist seit ihrem Aufenthalt auf dem Schiff ihr Anliegen.

Manon Lanjouère, 32, ist für ihre Kunst ans Meer gezogen – und für ihr Leben.

Foto: Jérémie Bôle du Chaumont

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Von all dem Müll, der in den Meeren landet, ist Plastik das größte Problem. Im Schnitt gelangt jede Minute eine volle Lastwagenladung Plastik in die Weltmeere. Vor allem für Seevögel, Meeresschild­kröten, Wale, Delfine und Robben ist der Abfall eine große Be­drohung. Sie können sich in ihm verfangen, an ihm ersticken oder durch innere Verletzungen sterben. Laut dem Naturschutzbund Deutschland kostet Plastik jedes Jahr bis zu 135 000 Meeressäugern und eine Million Meeresvögel das Leben. Aber das ist nur das offenkundigste Problem mit dem Plastikmüll im Meer.

Apolemia lanosa

Sie gehört zu den Staatsquallen und kann bis zu 40 Meter lang werden. Damit zählt sie zu den längsten Tieren der Welt.

Nachbildung aus einer Weihnachtsgirlande.

Ein Großteil davon treibt nicht an der Oberfläche, sondern sinkt in die Tiefe. Einer Studie der australischen Wissenschaftsbehörde Csiro und der Universität von Toronto zufolge liegen mittlerweile zwischen drei und elf Millionen Tonnen Plastikmüll auf dem Grund der Ozeane. Zwar zerbröselt er mit der Zeit in sogenanntes Mikro- und Nano­plastik – in Partikel, weniger als fünf Millimeter groß. Aber die meisten Kunststoffe sind biologisch nicht abbaubar. Und so wandern die winzigen, wasserunlöslichen Kunststoffpartikel sogar in Kleinstlebewesen wie Plankton. Und auch uns sind sie oft viel näher, als wir es wahrhaben wollen. Bei seiner Zersetzung kann Plastik giftige Zusatzstoffe wie Weichmacher, Flammschutzmittel und UV-Filter ins Meer abgeben – und auch an den Organismus, der sie aufnimmt. So können die Partikel in die Nahrungskette der Meerestiere ge­langen und damit über Meeresfrüchte oder Fische auch in unsere Körper.

Discosphaera tubifera

Die Algenart kommt üblicherweise in nährstoffarmen Gewässern vor. Durch ihre Rolle beim CO₂-Recycling ist sie unverzichtbar für die Regulierung des Klimas.

Nachbildung aus Ballonstäben.

In Manon Lanjouère wuchs durch die Arbeit auf dem Expeditionsschiff der Wunsch, durch Kunst ein Bewusstsein zu schaffen für die Leistung der Lebewesen in den Weltmeeren – und für deren Zerstörung. »Es reicht mir nicht, einfach nur hübsche Stücke zu kreieren«, sagt sie heute. »Ich habe erkannt, dass Kunst politisch ist.« Die Arbeit auf dem Expeditionsschiff krempelte ihr Leben auch im Privaten um. Direkt nach ihrem Aufenthalt auf dem Forschungsschiff zog sie aus Paris nach Saint-Malo, einer Hafenstadt in der Bretagne. »Ich wollte in der Nähe des Ozeans sein, in der Nähe der Wissenschaftler.«

Tubularia indivisa

Die Polypenart lebt in kleinen Kolonien und kann bis zu 15 Zentimeter groß werden. Mit ihrem röhrenförmigen Stiel und dem blütenartigen Kopf erinnert sie an eine Blume.

Nachbildung aus Trinkhalmen.

An Stränden begann Lanjouère, Plastikmüll für ihr Projekt zu sammeln. Sie stocherte in Abfalleimern nach Trinkhalmen, Duschsieben und Wattestäbchen. Wenn sie die gewünschten Gegenstände nicht fand, ließ sie sie mit einem 3D-Drucker herstellen. Allerdings nicht aus Plastik, sondern aus Maisstärke – um die Produktion von Plastik nicht auch noch zu unterstützen.

Tomopteris helgolandica

Dieser transparente Borstenwurm ist
holoplanktonisch, das heißt, er verbringt seinen gesamten
Lebenszyklus im Wasser schwebend.

Nachbildung aus Haarbürsten.

Mithilfe der Cyanotypie, eines der ältesten fotografischen Druckverfahren, bildet Lanjouère ihre Plastiknachbauten auch auf Papier ab. So wie Meeresorganismen das Sonnenlicht für die Fotosynthese brauchen, so braucht es dieses spezielle Verfahren für die Belichtung des Negativs. Außerdem erzeugt es blaue Bilder und gibt die Farbe des Meeres besonders gut wieder. Auf den ersten Blick hält man Manon Lanjouères Bilder so für echte Meeresorganismen. Erst bei genauerem Hinsehen wird klar, dass es Nachbauten aus Plastik sind. Müll, aus dem Kunst geworden ist. Kunst, die auf den Müll aufmerksam macht.

Asterionellopsis glacialis

Die mikroskopisch kleine Braunalge ist weit verbreitet, ihre Blüte kann im Winter und Frühjahr oft an der bretonischen Küste beobachtet werden.

Nachbildung aus Wattestäbchen.