Marcella Hansch kommt gerade aus den vom diesjährigen Hochwasser betroffenen Gebieten um Einruhr bei Aachen zurück. Spontan ist sie mit ihrem Team eingesprungen und hat dem Wasserverband Eifel-Rur eines ihrer CollectiX-Boote zur Verfügung gestellt. Mit diesen Spezialbooten, an deren Bug sich eine Förderrampe ins Wasser senkt, kann man an der Oberfläche treibenden Müll und Holz aus Gewässern fischen. Bis zu 20 Tonnen am Tag schafft das ozeanblaue Schiff, das Hanschs gemeinnützige Organisation Everwave gemeinsam mit dem niedersächsischen Bootsbauer Berky entwickelt hat. Vier Wochen lang wird das Boot nun in den dortigen Gewässern im Einsatz sein.
Seit einem Urlaub auf den Kapverden im Jahr 2012 beschäftigt sich Hansch mit der Reinigung von Gewässern. Beim Tauchen dachte sie damals zuerst, ein Fisch habe sie angestupst. Dann merkte sie, dass es eine Plastiktüte war. Als sie sich umschaute, wurde ihr klar, dass um sie herum mehr Tüten als Fische schwammen. »Das hat mich nicht mehr losgelassen«, erzählt sie via Zoom aus ihrem Aachener Büro. »Ich sah das Plastikproblem plötzlich überall: auf der Straße, in der Kantine, im Supermarkt, in meiner eigenen Küche. Ich konnte es nicht mehr ausblenden.« Und damit ließ sie auch die Frage nicht mehr los: »Wo kann ich was verändern?«
Ursprünglich wollte Hansch die Verschmutzung der Weltmeere angehen und den »Great Pacific Garbage Patch« aufräumen, also den gigantischen Müllteppich im Pazifik, der vier Mal so groß ist wie Deutschland. Als Abschlussarbeit ihres Architekturstudiums an der RWTH Aachen entwarf sie deshalb kein Gebäude, sondern ein spektakuläres, 400 Meter breites schwimmendes Konstrukt mit Lamellen, die 35 Meter tief ins Wasser reichen. Wie die Zähne eines Rechens sollten die Lamellen das Wasser durchkämmen und Plastikmüll aufsammeln, der gleich an Bord eingeschmolzen worden wäre; die daraus gewonnene Energie wäre für den Betrieb der Plattform genutzt worden. Für diese Idee gewann Hansch 2016 unter anderem den Bundespreis Ecodesign.
Aber bald stellte sich heraus, dass allein die Machbarkeitsstudie fünf bis sechs Millionen Euro kosten würde. Hinzu kam, dass Umweltschützer die Grundidee kritisierten, ähnlich wie beim Ocean Cleanup Projekt des Niederländers Boyan Slat. Zum einen weil man bei einer solche Reiningungsmethode immer auch Mikroorganismen mit aus dem Meer fischt, zum anderen weil gut 90 Prozent des Mülls in den Meeren längst nach unten gesunken und nicht mehr greifbar ist. »Experten haben gesagt, wenn ihr wirklich einen Unterschied machen wollt, ist es im Ozean im Grunde zu spät«, erklärt Hansch. »Bei einem Wasserschaden dreht man ja auch zuerst den Wasserhahn zu, bevor man den Boden wischt.«
Als selbsterklärter »sauerländischer Dickkopf« gab die lebhafte Architektin aber nicht so schnell auf – und fand schnell heraus, wo sie den größten Effekt erzielen könnte: bei den Flüssen. »Etwa 80 Prozent des Abfalls im Ozean wird aus den großen Flüssen zugeführt. Das sind im Grunde die Wasserleitungen, die den Müll in die Weltmeere schwemmen.« Bis vor kurzem gingen Forscher davon aus, dass nur zehn Flüsse weltweit den Großteil des Plastiks in die Ozeane tragen. »Inzwischen weiß man, dass es eher 1500 sind«, korrigiert Hansch.
Zusammen mit dem Biologen Tilman Peter Flöhr, der bereits Müllteppiche im Jangtse und im Ganges studiert hat, und dem Moderator Clemens Feigl gründete Hansch 2018 das Start-up Everwave, um innovative Lösungen zu entwickeln, wie Müll aus Flüssen und Binnengewässern gefischt werden kann, bevor er das offene Meer erreicht. Als erstes entwickelte das Team die erwähnten CollectiX-Müllsammelboote, die nach lokalen Tests auf der Ems ihre ersten großen Einsätze am Ruzin-Damm in der Slowakei und am Drina-Staudamm in Bosnien-Herzegowina hatten, wo ein großer Müllteppiche teilweise sogar die Wasserkraftwerke blockierte. »Gerade in Grenzgebieten fühlt sich niemand verantwortlich für den Müll«, hat Hansch gelernt. Auch auf der Donau waren die CollectiX-Boote schon unterwegs, innerhalb von zehn Tagen holten sie 3200 Kilogramm Plastik aus dem Fluss.
Die Boote sammeln aber nicht einfach nur den Müll – sondern auch Informationen. Sie sind mit Kameras und Künstlicher Intelligenz ausgestattet, gemeinsam mit dem Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Oldenburg untersucht das Everwave-Team aus Ingenieuren, Biologen und Umweltwissenschaftlern die Zusammensetzung des eingesammelten Mülls und was davon noch recycelt werden kann; mit dem Ziel, den Müll irgendwann nicht mehr von Hand sortieren zu müssen. Außerdem wird erforscht, wo der Müll eigentlich herkommt und wer die Hauptverursacher sind. »Wir wollen ja nicht ewig Müll sammeln«, erklärt Hansch, »sondern die Löcher stopfen, durch die der Müll überhaupt ins Wasser gelangt. Wir hoffen zum Beispiel, die Anwohner zum Umdenken zu bewegen.« Generell gebe es noch viel zu wenig Wissen über den Müll, sagt Hansch, insbesondere über Plastikmüll.
Bei den Hauptverursachern ergibt sich allerdings bereits ein relativ klares Bild. »Wir holen unheimlich viele Plastikflaschen von den immergleichen Firmen raus«, sagt Hansch. »Wir klagen niemanden an, das ist nicht unser Ding. Aber wenn wir Fotos veröffentlichen, sieht man sehr deutlich, welche Marken das sind. Und die Leute reagieren darauf, wenden sich an Firmen wie Coca-Cola und fordern: Macht doch mal was! Ändert eure Verpackungen!« Einen solchen persönlichen Einsatz hält Hansch für enorm wichtig: »Viele sagen, mein To-go-becher macht keinen Unterschied. Aber wenn die Sachen nicht mehr gekauft werden, werden sie auch nicht mehr nachproduziert. Mir ist wichtig, dass jeder von uns merkt, dass wir als Konsumenten eine unheimliche Macht haben, etwas zu verändern.«
Die Beschäftigung mit dem Thema hat auch Hanschs eigene Lebensweise verändert. Als Mutter eines Kleinkindes schaffe sie zwar »Zero Waste« nicht, aber: »Plastikflaschen kommen uns nicht ins Haus.« Sie und ihr Team gehen auch in Schulen, haben einen Kinderkoffer mit kindgerechten Materialien zum Thema Müll gestaltet.
Everwave bekommt Anfragen aus der ganzen Welt. Aber trotz des großen Interesses hat die die kleine, überwiegend von Spenden getragene Organisation Finanzierungsprobleme und sucht Geldgeber. »Im Müll steckt kein Profit«, sagt Hansch halb sarkastisch. »Auch wenn Nachhaltigkeit in Deutschland groß geschrieben wird, zählt am Ende in der Wirtschaft das Geld.« Wenn es finanziell machbar ist, würde Hansch die CollectiX-Boote als nächstes gerne nach Afrika oder Asien schicken, zum Beispiel nach Malaysia, Indonesien oder Indien. Nicht nur weil dort viel Abfall in die Ozeane gelangt, sondern auch »weil wir dahin viel Müll exportieren«.
Vorher wird Everwave aber noch eine Miniversion von Hanschs Ursprungsidee realisiern: Ab Herbst werden von Tilman Flöhr entworfene, wabenförmige Plattformen namens HiveX zu Wasser gelassen, die – anders als die Boote – langfristig vor Ort bleiben und Müll sammeln können, ohne den Schiffsverkehr zu beeinträchtigen. »Wir bekommen immer wieder die Anfrage, ob wir nicht länger vor Ort bleiben können.« Die Plattformen sind dabei so einfach konstruiert, dass sie auch vor Ort in Afrika, Asien oder Osteuropa gebaut werden könnten, »um die lokale Bevölkerung mit ins Boot zu holen«.
Das ist die Vision: Erst so stark wachsen, dass Everwave möglichst große Wellen schlägt. Und dann überflüssig werden, weil das Problem hoffentlich am Ursprung gelöst wird und alle Müllhähne zugedreht werden.