Die erste Begegnung verläuft immer sehr flüchtig. Sobald eines dieser Gebilde ins Blickfeld gerät, muss alles ganz schnell gehen, ehe es Sekunden später im Rückspiegel wieder verschwindet. Bremsen, runterschalten und sofort die nächste Entscheidung treffen. Erste rechts? Zweite rechts? Oder weiter im Kreis? Welche Wahl man auch trifft, zurück bleibt ein Rätsel: Was war das eben? Eine monströse Büroklammer? Eine kopfstehende Bratwurst? Ein Sekundenspektakel für Ausflügler? Ein Schrei nach Aufmerksamkeit?
Die meisten dieser Rätsel finden sich ein paar Hundert Meter vor den Ortsschildern kleiner Orte, auf Inseln inmitten eines Kreisverkehrs. Kunst im Kreisverkehr nennt sich dieses Phänomen daher, Kenner sprechen von Kreiselkunst.
Ihrem Publikum macht es diese Kunstform ausgesprochen schwer, ihr die üblichen Formen der Bewunderung entgegenzubringen und ihre Botschaften zu entschlüsseln. Fahrer zu zwingen, langsam zu fahren und dabei schnell Kunst zu konsumieren, das ist nicht nur viel verlangt, sondern ein Paradox, das Anerkennung und Stellenwert der Werke nicht fördert. Der Kunstmarkt jedenfalls ignoriert Kreiselkunst bislang und auch die Feuilletons haben noch kaum Nennenswertes beigetragen, Kreiselkunst zu dechiffrieren. So darf man sich nicht wundern, dass die wenigen veröffentlichten Ansichten aus der Umfrage eines Nachrichtenportals stammen: Die Antworten reichen von »Die Künstler müssen ja auch von was leben« über »Farbe und Experimente finde ich immer gut« bis »Blumen wären schöner«.
Kreiselkunst ist in Deutschland ein Phänomen der Provinz. Hochburg ist Baden-Württemberg, 164 Werke zählt die Website kunstimkreisverkehr.de dort, in Hessen 28, in Bayern 15, in Brandenburg nur eines. Große, runde Plätze, in deren Mitte Kunstwerke an historische Momente erinnern, gibt es in Städten natürlich bereits seit Jahrhunderten. Die Kolumbus-Statue auf dem Columbus Circle in New York erinnert an den großen Entdecker, die Siegessäule auf dem Großen Stern in Berlin an einen militärischen Sieg, der Obelisk am Place de la Concorde in Paris feiert die Freundschaft zweier Völker. Kreiselkunst dagegen entsteht überwiegend fernab von Metropolen, an Orten wie Mögglingen, Bochingen oder Lauterbach. Aus Motiven, die nur wenig mit Ruhmestaten zu tun haben.
Die Grundlagen dieser Kunst entstanden Anfang der Neunzigerjahre. Damals setzte sich unter Verkehrsplanern die Überzeugung durch, dass Kreisverkehre gegenüber den bis dahin üblichen Kreuzungen gleich mehrere Vorteile besitzen. Sie halten den Verkehr beständig in Bewegung, drosseln das Tempo, sorgen für weniger Unfälle und sind günstiger in Bau und Unterhalt als die Ampelanlagen. Verkehrsplaner empfehlen Kreisel seither besonders dort, wo Landstraßen in Orte übergehen. Verknüpfungsbereich nennen sie das.
Mitte der Neunzigerjahre stellte sich heraus, dass Kreisverkehre noch ein bisschen sicherer werden, wenn man die Inseln in der Mitte leicht erhöht anlegt. Autofahrer nehmen sie dann früher wahr, bremsen eher und fahren mit niedrigerer Geschwindigkeit ein. Inmitten der Inseln standen nun natürliche Sockel, Bühnen ohne Schauspiel.
Vielerorts wurde das als Gelegenheit und Aufforderung aufgefasst, der Zeige- und Selbstdarstellungslust ungehemmt nachzukommen und für ein Statement am Ortseingang zu sorgen: »Seht her, wir sind nicht die, für die ihr uns haltet. Wir können auch anders!«
Seither müssen Jurys Entscheidungen treffen, ob eher ein stählerner Vogel, ein Windspiel oder ein Granitblock das Selbstverständnis ihres Ortes zum Ausdruck bringt. 30 000 Euro stehen im Schnitt zur Verfügung, die Aufträge werden ausgeschrieben, wer den Platz auf der Insel gestalten will, muss sich bewerben und einem Mehrheitsvotum beugen. Kreiselkunst ist auch Castingkunst. Das erklärt, dass viele Werke so groß und schrill ausfallen.
Umso rätselhafter bleibt häufig ihre Botschaft. Es ist nachvollziehbar, dass eine Treibscheibe an den Kali-Bergbau in Neustadt erinnern soll. Ebenso leicht zu verstehen: Die Kurbelwelle im Kreisverkehr von Wasseralfingen verweist auf das nahe Werk eines weltweit tätigen Herstellers von Schiffsschrauben. Geradezu zwangsläufig erscheint, dass in Dillingen ein Werk von Richard Serra steht: Der amerikanische Bildhauer verwendet für seine Großskulpturen überwiegend Bleche der Dillinger Hütte und ließ viele seiner Werke dort auch fertigen.
Was aber sagt die Skulptur »Seelenknoten« über Landshut? Die »Pusteblume« über Ebersbach an der Fils? Oder ein Werk wie die »Triade« über Wittmund, in dessen Beschreibung es heißt: »Nach jeder drittel Umdrehung um die vertikale Achse kommt die Skulptur mit sich selbst zur Deckung. Die Ecken der drei Quadrate bilden in vier verschiedenen Höhen jeweils ein gleichseitiges Dreieck«? Dass man in Wittmund gern Denksportaufgaben löst?
Sicher, Kunst muss sich nicht erklären. Vermutlich kommt man dem Kern der Werke am nächsten, wenn man sie nicht mit Maßstäben der Kunst misst. Und sie stattdessen aus der Perspektive derer betrachtet, denen sie ihre Existenz verdanken und die sich in ausführlichen Expertisen mit ihren Eigenheiten beschäftigen: die Verkehrsexperten. In ihren Augen handelt es sich bei Kreiselkunst um nichts anderes als »starre Hindernisse«.
Fotos: Robert Voit