Ich habe Zuwachs bekommen. Mal wieder. Am Morgen, nachdem alle Sektflaschen geleert und meine Freunde in die Nacht verschwunden waren, blieben drei Beutel zurück. Einer vom Kochhaus, einer von einem Förderverein und einer von Penny, darauf der Satz: »Ein großer Schritt nach vorne: zurück zur Natur«. Ich öffne meine Beutelkiste, falte die Beutel hinein, will den Deckel überstülpen, er schließt nicht mehr. Zurück wollen die Freunde ihre Beutel nicht. Ihre Kisten, Schubladen und Spülunterschränke seien genauso voll wie die meinen.
Begonnen hat das alles mit der Fairtradefirma Gepa. Die fing Ende der Siebzigerjahre an, Beutel zu verkaufen, auf denen »Jute statt Plastik« stand. Die waren tatsächlich aus Jute, müffelten ein wenig und wurden zum Kultobjekt der ersten Ökowelle. Aber in den markengetriebenen Neunzigern galt die Tasche als Stilsünde. 2007 wiederum machte ein britischer Supermarkt den Beutel, diesmal aus Baumwolle, wieder straßentauglich. Slogan: »I am not a plastic bag«. Die Beutel wurden später für jeweils bis zu 200 Pfund auf Ebay gehandelt; der Jutebeutel, der keiner mehr war, wurde wieder zum Distinktionsmerkmal. Avantgardisten trugen Baumwolltaschen vom Museum of Modern Art in New York spazieren, Modemädchen entschieden sich für »Some day I’ll be a Louis Vuitton«. Meinen ersten Beutel kaufte ich bei H&M, eine Kooperation mit Unicef. Er war sand-farben und bedruckt mit dem Bild eines Mädchens mit Leopard. Noch heute erinnern mich die nicht rauswaschbaren Wein- und Ketchupflecken an ein turbulentes Studienjahr. Am meisten hänge ich aber an einem schwarzen Beutel vom Reeperbahnfestival mit psychedelischem Siebdruck, der zu meinen Füßen lag, als ich meinen Freund zum ersten Mal küsste.
Inzwischen ist der Beutel vor allem die wiederverwendbare Alternative zu einem Wegwerfprodukt geworden. Tatsächlich werfe ich keinen Beutel weg, habe aber das Problem, dass ich auch praktisch nie einen wiederverwende. Ich vergesse, zum Einkaufen einen Beutel von zu Hause mitzunehmen, also kaufe ich im Laden wieder einen neuen – und ist das noch im Sinne der Umwelt? Baumwollpflanzen brauchen viel Wasser zum Wachsen und baden oft in Pestiziden. Bis ein Beutel umweltfreundlicher ist als eine Plastiktüte, muss man ihn mindestens 25 Mal tragen. Das britische Umweltministerium berechnete sogar, erst nach 131 Wiederverwendungen übertreffe der Baumwollbeutel die Plastiktüte in der Ökobilanz. Um meine Sammlung zu rechtfertigen, müsste ich meine 23 Beutel 3013 Mal ausführen. Bisher beruhigten die Beutel mein schlechtes Gewissen, nun machen sie mir eins.
Aber wie soll ich mich von ihnen trennen? Ich könnte upcyclen, die Beutel zu Nützlichem umgestalten. Zu Schuhsäcken etwa. Bloß, wer braucht davon 23?
Vielleicht kann jemand anderes meine Beutel gebrauchen. Ich rufe bei einem Unverpackt-Supermarkt, einer Kita und einem Secondhandladen an (ja, ich nehme die Sache wirklich ernst). Alle würden ein paar nehmen. Ich steige auf mein Rad, über der linken Schulter einen Beutel mit Beuteln. Auf dem Rückweg bremse ich am Supermarkt. Meine letzten drei Beutel liegen zu Hause. Ich tippe eine Erinnerung in mein Handy, »Beutel einpacken«, Wiederholung: täglich. Das gute Gewissen braucht Disziplin. Heute muss es auch so gehen. Ich verstaue einige Einkäufe auf dem Gepäckträger, den Rest klemme ich mir unter den Arm. An der Ampel kippt der erste Milchkarton vom Rad, gefolgt von den Bananen. Eine ältere Dame eilt herbei, aus ihrer Tasche zerrt sie einen Sparkassen-Beutel und schenkt ihn mir. Ich bedanke mich überschwänglich. Die Seniorin sieht erleichtert aus.