Bis dass der Tod euch scheidet

An jedem Hochzeitstag schenkte Herbert Bauer seinem Gretchen einen Ring. Nach 57 gemeinsamen Jahren griff er zu seinem Colt und schoss ihr in den Kopf.

1945 kam ich aus dem Krieg – gerade 18 Jahre alt, zu Fuß von Karlsbad über Prag. Alles war zerstört, überall Tod und Elend. Ein Onkel hatte zu mir gesagt: »Wenn du nach Bayern flüchtest, dann geh nach Miesbach.« Er gab mir einen Brief mit, an einen Freund, den er aus dem KZ kannte. »Der hilft dir weiter.« So kam ich nach Oberbayern. Dort habe ich mein Mädchen gefunden. Und dort habe ich sie verloren. Nach dem Krieg war ich bei der GCU, der Graves Concentration Unit. Wir sollten in Deutschland gefallene Engländer einsammeln und sie anständig beerdigen. Den Soldatenfriedhof in Gmund habe ich selbst mit angelegt. Überall holten wir damals die Leichen: von Straßen, Feldern, aus Wald-stücken und Zivilistenfriedhöfen. Wir haben die Körper in Militärdecken eingewickelt, um sie tragen zu können, und später wieder herausgerollt. Die Decken aus langhaariger, wärmender Wolle haben wir verkauft, für eine, manchmal zwei Stangen Zigaretten. Daraus konnte man Mäntel oder Kostüme schneidern. Im Sommer 1946 erzählte mir Anna, die Geliebte meines Kumpels Friedrich, dass sich ein Mädel namens Margarete, die Gretel, für mich interessiere. »Mensch«, dachte ich, »das gibt es doch nicht.« Ich habe damals kaum auf die Frauen geschaut. »Die Gretel geht in die Tanzstunde«, sagte Anna. »Da musst du auch hingehen.« Das habe ich gemacht. So lernte ich mein Gretchen kennen. Sie hatte so schöne Augen! Die haben richtig gestrahlt, damals. Gretel war 16 Jahre alt, ich 19. Ein fescher junger Mann war ich, ganz blond, mit einer Welle im Haar wie der Don Juan. Braun gebrannt vom Scheitel bis zur Sohle, die Füße in meinen ersten weißen Lederschuhen. Mit dem Friedrich und der Anne sind wir oft zu viert ausgegangen. Gretel war blond, die Anne hatte rabenschwarzes Haar. Eine tolle Bande waren wir!

Anna Schmidt, heute 85, damals die beste Freundin von Margarete Bauer: »Mein Friedrich hat den Herbert einmal am Klavier begleitet, als er der Margarete ein Ständchen im Café gesungen hat. Er hatte das Lied selbst geschrieben. Es hieß ›Gretchen, Gretchen‹. Die beiden waren ein wundervolles Paar. Wir haben so viel gelacht.«

Offiziell besuchte ich damals die Polizeischule, aber in Wahrheit habe ich mein Geld im Schwarzhandel verdient: Ich habe Lampenschirme bemalt, Holzschuhe verkauft und nebenbei Theater gespielt. Margaretes Vater mochte mich nicht. Für ihn zählte nur das Geld. Er war ein Autohändler. Seine Tochter sollte einen Geschäftsmann heiraten. Ich aber hatte nichts, war nichts; nur ein Flüchtling aus Karlsbad. Einmal sollte unsere Theatertruppe in Miesbach auftreten. Da habe ich gesagt: »Oh, da kann ich nicht mitspielen, da wohnt meine Liebste und ihre Eltern dürfen nicht wissen, dass ich beim Theater bin.« Also schob ich nur die Kulissen. Am großen Tag habe ich hinter der Bühne hervorgespäht, ob ich Margarete entdecke. Sie saß wirklich dort – zwischen Vater und Mutter. Im ersten Akt sang der Buffo auf der Bühne: »Ich hab kein Auto, ich hab kein Rittergut, das Einzige, was ich hab, sind sieben Mark.« Ich habe geschaut, ob Gretel das Liedchen gefällt, mich gegen die Kulisse gelehnt und – wums – mit einem lauten Krach ist die umgefallen! Da stand ich plötzlich doch im Rampenlicht. Ich sprang in die hinterste Ecke und alle haben gelacht. Die Miesbacher haben mich allesamt erkannt, bis auf Margaretes Eltern. Mein Gott, das war ein Schock. Der Vater hätte mich aus dem Haus gejagt. Ein Theaterspieler als Schwiegersohn? Ja, wo sind wir denn? Am 11. September 1948 haben wir trotzdem geheiratet. Kurz danach kam unser Sohn Peter zur Welt. Seit dem ersten Hochzeitstag schenkte ich meiner Frau jedes Jahr einen Ring. In den ersten Ehejahren waren wir oft getrennt. Aber so war halt das Flüchtlingsleben, eine zerrissene Zeit. 1951 habe ich in Wanne-Eickel im Bergbau gearbeitet. Gretel zog erst ein Jahr später mit dem kleinen Peter nach. 1953 kam unsere Tochter Sylvia zur Welt.

Meistgelesen diese Woche:

Brief an Margarete: »Weißt Du Gretchen, am liebsten wäre es mir, wenn ich Dich hier wohnen wüsste. In der größten Einsamkeit könnte ich mit Dir das schönste Leben führen, wäre der glücklichste aller Glücklichen. Du sagtest einmal, ich solle Dir nichts schenken, ich solle Dir mein Herz ganz geben. Gretchen, Du hast mein Herz schon lange und noch viel mehr.«

Unsere nächste Station war Bodelsberg bei Kempten. Margarete und ich wohnten mit den Kindern zu viert in zwei Zimmern. Sie hat damals gebügelt, ich habe in einer Möbelschreinerei mitgearbeitet. Dabei verlor ich den linken Zeigefinger. Das war aber nicht so schlimm. 1955 hatte ich den ersten Herzmuskelschaden. Aber auch da habe ich nicht viel Aufhebens darum gemacht. Viel schlimmer war, dass ich in Kempten, Pforzheim und Landsberg arbeiten musste. Wenn ich am Wochenende nach Hause kam, herrschte Friede und Freude. Bekam der Peter zum Beispiel einen blauen Brief, hat mir meine Frau den gar nicht erst gezeigt. Ich habe es mir nicht eingestanden, aber Gretchen war stärker als ich, damals. 1960 sind wir nach Türkenfeld gezogen, unser Sohn ist zum Studieren nach München gegangen, die Tochter auch. Es ging bergauf. Gretel und ich hatten endlich Zeit für uns. Ich habe den Führerschein gemacht und wir sind an den Chiemsee gefahren, den Wolfgangsee, den Ammersee oder mal nach Wien und Paris. Aber 1963 kam das Unglück über uns. Margarete saß auf einmal nur da und hat geschwiegen. Nicht geklagt, nicht gejammert, nur traurig geschaut aus ihren schönen Augen. Wir haben alles gebremst, sind nicht mehr so viel gereist. Nach drei Monaten war es vorbei, wie ein böser Spuk, und unser Leben ging ganz normal weiter. Aber nicht lange. Zuerst kamen die Depressionen im Abstand von einem Jahr, dann waren es sechs Monate, dann drei, dann ein Monat, dann wöchentlich. 1966 musste die Ärztin sie erstmals einweisen, in die psychiatrische Klinik von Haar.

Aus der Krankenakte der Margarete Bauer, psychiatrische Anamnese (Vorgeschichte): »Erste depressive Episode 1964, lt. Patientin fast durchgehend bis 1966, damals stationärer Aufenthalt im Hause, Nervenklinik in Gauting. Ebenso vierzehntägiger Aufenthalt im Bezirkskrankenhaus Haar …«

Ich habe Margarete jeden Tag besucht. Nach zwei Wochen durfte ich sie das erste Mal mit nach Hause nehmen. Von da an hat sich alles daheim abgespielt. Wenn die Anfälle kamen, konnte Gretchen keine Hausarbeit machen. Und wenn ich gefragt habe: »Wie geht es dir?«, hat sie gesagt: »Es geht schon wieder.« Wir haben uns halt so durchgeschwindelt. Die Leute aus dem Dorf konnten mit den Depressionen nicht umgehen. »Die spinnt doch«, hieß es. »Sie schauen doch gut aus, so hübsch.« Und: »Das wird schon wieder.« Von wegen. Die Kinder und ich blieben bei ihr, haben mitgefühlt, mitgelitten, mitgejammert, mitgeschimpft, damit der Alltag nicht aus dem Gleichgewicht geriet. Dann wurde ihr Körper krank: Unten an den großen Zehen hat ein Überbein herausgestanden. Gretchen musste immer offene Schuhe tragen, auch wenn das Wetter schlecht war. Aber damit konnte sie auch nicht gehen. Wir kauften orthopädische Schuhe, aber darin wurden die Füße wund. Gretchen konnte nur noch sitzen. Manchmal versuchte sie, ohne meine Hilfe aufzustehen. Dann stand sie im Gang oder saß im Sessel und zitterte und bebte. Wir konnten nicht mal mehr Schnitzel essen gehen. Ein Auf und Ab – jahrelang. Wir haben Enkel bekommen, aber die Oma konnte nicht mit ihnen spielen. Ich habe ihre Verbände gewechselt, sie gewaschen und angezogen. Meine Frau wollte nicht, dass das ein Fremder macht. Jaja, mein Spatz. Der Hausarzt dosierte die Tabletten schon so hoch, dass sie nur unter Aufsicht welche nehmen durfte. Im Klartext heißt das: Er hatte sie abgeschrieben. Unbemerkt habe ich meinen Herzfehler mitgeschleppt; jeden Tag nur Nitro gespritzt. Nitrolingual öffnet die Adern, damit der Herzinfarkt nicht eintritt. Nur so konnte ich das alles durchhalten. Und immer wieder habe ich Margarete über diese Scheißkurvenstraße nach Gauting in die Psychiatrie gebracht. Nur Rennfahrer auf der Straße! Und wenn ein Lastwagen gekommen ist, musste ich aufpassen, dass er mich nicht erwischt. Am 17. Juni 1988 kam der erste Herzinfarkt. Vor dem Fernseher, beim Fußballspiel Deutschland gegen Spanien. Vier Bypässe haben mir die Ärzte in Augsburg gelegt. Danach war ich im Krankenstand, wurde erwerbsunfähig. Margarete konnten die Ärzte nicht helfen. Ich habe getobt und geschimpft, aber das bringt ja nichts. Im Gegenteil, wenn man einen Doktor mal schief anredet, kriegt man eine patzige Antwort zurück. In den Neunzigern war nichts Frohes mehr an meinem Gretchen: Osteoporose, Bandscheiben kaputt, geschwollene Füße, die Medikamente, die Nebenwirkungen. Die Haut schälte sich auf ihrer Brust. Jede Nacht habe ich nur gelauscht: Schläft sie? Schläft sie nicht? Weint sie? Weint sie nicht? Vor der Autoimmunkrankheit hatte meine Frau die größte Angst. Das ist eine Krankheit, bei der das Immunsystem Antikörper gegen körpereigene Stoffe bildet. Gretchen fürchtete, dass sie ein Pflegefall wird. Dabei wollte sie mir nicht zur Last fallen.

Stichpunkte aus dem Protokoll eines Gesprächs vom 9. August 2005, Krankenakte Margarete Bauer: »Krisenintervention nach Suizidversuch am Wochenende mit Novalgin-Tropfen. Zustand der Patientin: Ist sichtlich verzweifelt, hoffnungslos … sie fühle sich nur gut, wenn ihr Mann käme, bei dem sie Geborgenheit spüre … Grund des Suizidversuches: Sie habe erkannt, dass es weder in der Klinik noch zu Hause so wie momentan weitergehe. ›Besser, es gibt mich nicht.‹«

Die letzten neun Wochen vor ihrem Tod verbrachte Gretchen in der Psychiatrie. »Papsch, was geschieht mit uns?«, fragte sie. »Ich mag nicht mehr, kann nicht mehr, habe nur noch Schmerzen.« Auch ich spürte schon den nächsten Herzinfarkt nahen. »Papsch, ich möchte sterben«, sagte sie immer wieder. Mitte September 2005 hatte ich nicht mehr die Kraft, ihr zu widersprechen. »Ja, ich komme mit in den Tod«, sagte ich zu ihr. Da hat sie seit langer Zeit wieder gelächelt: »Papsch, wir gehen miteinander bis zum Schluss.« Aber wir wussten nicht, wie. Eine Überdosis Medikamente? Gift? Alles nicht zuverlässig. Nur die Pistole war todsicher. Aus dem Italienurlaub hatte ich mal einen amerikanischen Western-Colt mit Elfenbeingriff mitgebracht. Wir haben alles zusammen vorbereitet. Zum Schluss besorgte ich Munition und Zündhütchen. Am Samstag sind wir zu den Kindern gefahren, um noch einmal die Enkel zu sehen. Unsere Tochter hat Gretel die Haare gemacht. Aber wir haben niemandem gesagt, was wir planten. Wir wären einfach so aus dieser Welt verschwunden. Sonntag, der 25. September 2005, war ein herrlicher Spätsommertag. Der Himmel ganz blau, die Sonne schien, die Vögel haben gezwitschert. »Ein Tag zum Sterben«, habe ich gesagt. Margarete trug ihre rosa Bluse. »Zieh doch die schöne Jacke an, damit wir zusammenpassen«, sagte sie. Da habe ich extra meine beige Strickjacke aus dem Schrank geholt. Wir sind ins Auto gestiegen und herumgefahren, auf allerlei Parkplätze. Leider waren dort immer so viele Leute. Bei Schöngeising bin ich von der B 471 in den Wald abgebogen und hielt an. Ich habe an gar nichts mehr gedacht. Gretchen saß hinten rechts im Auto. Ich bin ausgestiegen, habe mich neben sie gesetzt. Wir haben uns angeschaut und geküsst. »Papsch, befrei mich«, hat sie noch einmal gesagt. Da habe ich ein Kissen genommen, es an ihren Kopf gehalten und von rechts die Pistole mit der Mündung dagegengedrückt. Ich war nur von dem einen Gedanken besessen, sie vom Schmerz zu befreien. Als ich den Schuss hörte, ist etwas in mir zerbrochen. Die Pistole war so heiß – ich habe sie weggeworfen. Jetzt ist es so weit, Gretchen. Lebe wohl! Ihre Augen waren tot, leer. Dieses große Loch in ihrem Kopf jagte mir Angst ein. Ich bin auf die Straße gerannt und habe »Hilfe! Hilfe!« gerufen. So was Unlogisches. Immer wieder »Hilfe!«. Auf einmal war alles ganz still. In zehn Minuten waren sie da: Polizei und Sanitäter. Die Kugel fanden sie nicht, so war die zerquetscht. Mein Gretchen, mein Engel, was habe ich getan? Jetzt bist du im Himmel. Und ich werde durch das Fegefeuer gehen.

Gemeinsame Presseerklärung der Staatsanwaltschaft München 2 und der Polizeidirektion Fürstenfeldbruck: »Familiendrama. Am 25.09.2005 erschoss ein 79-jähriger Rentner aus dem Landkreis Fürstenfeldbruck seine 75-jährige depressive Ehefrau. Zuerst wollten sie gemeinsam Suizid begehen. Nach der Schussabgabe auf seine Frau war der Rentner eigenen Angaben nach jedoch nicht mehr in der Lage, auch an sich einen Suizid zu verüben, sodass er von dem Vorhaben abließ. Nachdem der Mann die Polizei verständigte, wurde er anschließend vorläufig festgenommen.«

Dieser Gefängniston war so hart, so unpersönlich: »Da, geh da hinein! Stell dich da hin!« Am Abend ist zum Glück mein Schwiegersohn gekommen. Er hat mich umarmt: »Wir wissen, was du gemacht hast, wir wissen, wie die Oma gelitten hat.« Ich wusste, jetzt geht es nach Stadelheim. Ich wollte nicht mehr leben und dachte, wenn ich nicht esse, dann sterbe ich schon. Drei, vier Tage später war ich krank: Darmverschlingung, Magengeschwüre, Gicht, Wasser in der Lunge und Nierenversagen. Dann kam der zweite Herzinfarkt. Man brachte mich auf die Intensivstation des Krankenhauses München-Harlaching. Dort haben sie mich ans Bett gebunden und einen Sicherheitsmann vor die Tür gesetzt. Als ob ich in der Lage gewesen wäre zu fliehen! In zehn Tagen habe ich zwölf Kilo abgenommen. Ich hatte dünne Arme wie ein KZler. Die Ärzte wollten mir einen Herzkatheter legen, aber ich habe abgelehnt. Warum sollte ich denn noch leben, ohne mein Gretchen? Doch es gab diesen Wachposten, einen älteren Mann aus der Münchner Vorstadt. Der hat gesagt: »Herr Bauer, ich bete für Sie. Denken Sie an Ihre Enkel, machen Sie den Katheter, dann geht es Ihnen besser. Dann vergehen die schlimmen Gedanken.« Das hat mich sehr gerührt. Also habe ich eingewilligt. Nach der Operation verschwanden meine Herzschmerzen. Fünf Monate saß ich in U-Haft, mit zwei Mördern auf dem Zimmer: Ludwig und Fritz. Der eine hatte seine Frau erstochen, der andere seine erstickt. Ich habe meine Frau erschossen. Fünf Monate lang haben wir von morgens bis abends über nichts anderes gesprochen. Von Gretchens Beerdigung habe ich nichts erfahren.

Trauerkarte für Margarete Bauer: *12.4.1930 †25.9.2005 Ach, Du hast jetzt überwunden Manche schwere, harte Stunden. Manchen Tag und manche Nacht Hast Du in Schmerzen zugebracht. Standhaft hast Du sie ertragen. Deine Schmerzen, Deine Plagen, bis der Tod Dein Auge bricht – doch vergessen wir Dich nicht.

Nach fünf Monaten hatte ich einen Haftprüfungstermin mit Rechtsanwalt, Richter, Schreiberin und Wachposten. Ich erzählte denen die ganze Wahrheit. Die Sicherheitsleute und die Schreiberin bekamen feuchte Augen. Auch ich musste weinen. Alles habe ich denen erzählt. Aus tiefstem Herzen. Zwei Tage später hat mir der Wachposten einen Zettel gebracht. Darauf stand: »Außer Vollzug.« Ich durfte bis zur Verhandlung das Gefängnis verlassen. Mörder dürfen das nicht. Am 8. Februar holte mich mein Schwiegersohn nach Hause. Es war sein Geburtstag, die Kinder und Enkel waren alle da: Michaela, Tom. Die Diana und der Günther. Der Peter, die Karla, der Tino. Und die haben gestaunt, wer da sitzt: der Opa! Ich konnte nichts sagen, ich war immer noch so erschrocken. Wir haben alles schön und gesund geredet, aber ich habe gar nicht richtig zugehört. Am 21. März begann die Verhandlung.

Aus der Anklageschrift in der Strafsache gegen Bauer, Herbert Josef, vom 19.12.2005: »Der Angeklagte wird beschuldigt, einen Menschen getötet zu haben, ohne Mörder zu sein …«

Viele Leute aus dem Dorf waren zum Prozess gekommen. Einige sagten, sie hätten sogar gewusst, dass es ein schlimmes Ende nehmen würde, mit uns beiden. Im Gerichtssaal ist alles wieder hochgekommen. Ein Waffeningenieur der Kriminalpolizei hat demonstriert, wie mein Colt funktioniert. Er hat ein Zündhütchen eingelegt und abgedrückt. Es hat so laut geknallt, dass sich alle erschrocken haben. Da musste ich wieder weinen. Ein Gerichtsmediziner sagte, Margarete hätte wegen einer Lebererkrankung in den nächsten Wochen, »ohne etwas davon zu bemerken, innerlich verbluten können«. Obwohl die meisten Psychologen Margaretes Todeswunsch als ernst einstuften, behauptete ein Gerichtspsychiater, sie habe »kein ernsthaftes Todesverlangen« gehabt. Sie sei »in ihrer Kritikfähigkeit eingeschränkt« gewesen. Dabei hatte der meine Frau nie zuvor gesehen. Eine Zuschauerin hat immer den Kopf geschüttelt, es war eine Ärztin von Margarete. »Dazu muss ich doch was sagen«, hat sie gerufen. Also hat sie der Richter in den Zeugenstand geholt. »Die Osteoporose hatte fast jeden Wirbel von Margarete Bauer gebrochen, da konnten keine Schmerzmittel mehr helfen«, berichtete sie. Nach ihr sagten noch mehr Ärzte und Psychologen aus, die meine Frau besser kannten – sie konnten den Richter von der Wahrheit überzeugen. Einmal hat er mich gefragt, ob ich die Tat bereue. »Nein«, habe ich geantwortet. »Ich bereue nichts.« Und so ist es auch. Nach dem dritten Verhandlungstag ging selbst der Staatsanwalt von Tötung auf Verlangen aus. Mein Anwalt Jürgen Niemeyer forderte Bewährung, aber der Staatsanwalt wollte mich für zweieinhalb Jahre einsperren lassen.

Urteilsverkündung am 24. März 2006: »Im Namen des Volkes wird folgendes Urteil verkündet: Der Angeklagte Herbert Bauer ist schuldig eines Vergehens der Tötung auf Verlangen. Er wird deswegen zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Der Angeklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Ich bitte Sie, Platz zu nehmen.«

Ich durfte nach Hause. Als Bewährungsauflage musste ich 5000 Euro an das Franziskuswerk in Schönbrunn überweisen. Heute geht es mir nicht schlecht. Es ist ein bisschen langweilig. Bei schönem Wetter gehe ich spazieren – allein. Man muss sich an alles gewöhnen.Im Grunde habe ich keine Lust zu leben. Ich brauche wohl noch Zeit, bis ich zur Ruhe komme. Im Krankenhaus war ich auch schon wieder. Dreimal, wegen dem Herzen. Manchmal sehe ich nachts mein Gretchen. Dann rede ich mit ihr. Aber ich bekomme keine Antwort. Auch abends, wenn ich Lindenstraße schaue, spreche ich mit ihr, so wie früher. Aber dann blinzle ich und ihr Platz ist wieder leer. Das Friedhofgehen habe ich leider etwas vernachlässigt. Weil ich kein Auto habe und zu Fuß ist es mir etwas zu weit. Den Schwiegersohn kann ich auch nicht immer fragen. Aber ich muss auch gar nicht so oft zum Grab gehen. Da sind so viele Menschen. Und ich habe Gretchen am liebsten für mich ganz allein. In Türkenfeld weiß jeder, was ich getan habe. Aber keiner spricht mich an. Dabei müssten sie einfach nur mal sagen: »Mensch Herbert, wie geht es dir denn so allein, ohne Gretel?« – »Naja«, würde ich sagen. »Sie ist da. In meinem Herzen.«