Etwas ist gewiss: dass »Charisma« aus dem Griechischen kommt und sich als »Gnadengabe« übersetzen, aber wertfrei nicht bestimmen lässt. Adolf Hitler oder Benito Mussolini oder Josef Stalin waren charismatische Politiker, doch »gottgesandt, vorbildlich und übermenschlich«, so die Definition von Charisma, waren sie zweifellos nicht. Die Macht autoritärer Führer ist nicht von Gott ver-, sondern vom Teufel geliehen. Dämonische Verführer wie jenes Trio Infernal sind schon aus Prinzip in ihren Prinzipien unmoralisch. Alle Mittel heiligt ihnen der Zweck, Herrschaft zu erringen und mordend um jeden Preis die Macht zu erhalten. Das scheinbar unwiderstehlich Übernatürliche solcher Despoten, zu deren Art ebenso eine Heerschar afrikanischer Schlächter der Idi-Amin-Sorte zählt, wirkt aber nur so lange verführerisch, wie sie abliefern, was sie versprochen haben. Das kann Arbeit fürs Volk sein, kann aber auch der Besitz derer, die sie enteigneten, verjagten, ermordeten, kann als blutiger Siegespokal fürs Volksempfinden die Eroberung anderer Länder und Unterdrückung anderer Nationen sein.
Wäre Hitler schon nach dem Bau der Autobahnen vom Teufel geholt worden, würden viele seiner Landsleute wahrscheinlich heute noch sein Charisma erwähnen, weil er qua Geburt ein Österreicher war. Da er Europa mit Krieg überzog, sechs Millionen Juden vernichten ließ, die freie Welt in ihrer Existenz bedrohte, ist der Verbrecher aus Braunau jedoch ein Deutscher. Die Hölle sind laut Sartre immer die anderen. Hunderttausende, die Hitler in Wien feierten, als er sie heimholte ins Reich, hatten die Rechte selbstredend nicht etwa zum Heil-Gruß erhoben, sondern in Wahrheit »Moment mal!« gerufen und diesen Einspruch händereckend unterstrichen. Nach falschen Propheten kommt bekanntlich die Sintflut, denn ein so verführerisches Charisma ist nicht einfach auf einen nachgeborenen Schurken übertragbar, selbst dann nicht, wenn die tragende Ideologie – Faschismus, Kommunismus, Terrorismus – laufend Kinder der Unvernunft gebiert. Auch aktuelle Reaktionäre und Fanatiker wie Jean-Marie Le Pen oder Silvio Berlusconi oder Christoph Blocher oder Osama bin Laden haben große Anziehungskraft, doch auf die Idee, sie charismatisch zu nennen, käme wohl niemand.
Auf der Strecke bleiben immer die willigen Vollstrecker des ideologischen Wahns. Entweder tatsächlich gefallen in einem der Eroberungskriege oder im übertragenen Sinne bei Gott in Ungnade. Der im vergangenen Jahr verstorbene amerikanische Soziologe Philip Rieff versah sein Buch Charisma deshalb mit der programmatischen Unterzeile »Das Geschenk der Gnade und wie es uns weggenommen worden ist«. Charisma ist demnach beides, göttlich und teuflisch, denn der Satan ist in seinem Reich ein absoluter Herrscher so wie der andere in dem seinen.
Charisma ist jedoch ergänzend zu definieren, frei vom Gottbezug, als eine magische, nicht rational erklärbare Anziehungskraft einzelner Menschen auf andere Menschen, die auch von nur vorübergehendem Glanz sein kann, vergleichbar jenen 15 Minuten Ruhm, die Andy Warhol jedem Normalmenschen zugestand. Charisma trifft zu auf einen genialen Verkäufer, der auf dem Hamburger Fischmarkt jeden Sonntagmorgen mehr Bananen an den Mann bringt als andere.
Charismatisch sein kann Netzer mit einem Steilpass aus der Tiefe des Raumes, können die Tricks des Magiers David Copperfield wirken oder ein bestimmtes Lied von Herbert Grönemeyer, bei dem viele tausend Gläubige ihre Feuerzeuge hochhalten und den Sänger als begnadeten Menscheneinsammler verehren, dem zu folgen sie selbst nach Bochum bereit sind. So wie »Kult« zu einem sinnentleerten Leerwort degradiert wurde, weil mit diesem Begriff inzwischen Masseure, Friseure, Flaneure geschmückt werden, hat Charisma seine göttliche, seine teuflische und damit seine einmalige Kraft eingebüßt. Alles inzwischen also Charisma oder alle mal ein bisschen charismatisch? Nicht alles, nicht alle.
Das Charisma eines François Mitterrand, eines John F. Kennedy oder eines Willy Brandt passt ins Bild. Sie waren charismatische Verführer des Volkes, weil sie ihre Nation in einem bestimmten Moment der Geschichte über bislang geltende Grenzen führten, ihm einen am Ende des Regenbogens vergrabenen Schatz verheißend. Bei Charismatiker Brandt waren es der verführerische Charme des Wagnisses Demokratie, blauer Himmel über der Ruhr und sein Kniefall in Warschau. Charismatiker bleiben im Gedächtnis ihrer Anhänger für immer Sieger, auch wenn sie entscheidende Schlachten verloren haben. John F. Kennedy und sein Bruder Robert erreichten die Ebene der Unsterblichkeit, weil sie ermordet wurden, ihr früher Tod sie zu Legenden verklärte. Sie konnten sich sogar der damals herrschenden Moral entziehen. Das Charisma der Camelots war stärker als die Moral der Herrschenden. Charismatische Figuren wie die Kennedys, Mitterrand und Brandt verführten aber nicht nur die Wähler, sondern auch die schönsten Frauen, was ihrem Ruf nicht schadete, ja: ihn eher mehrte.
Fehlt jetzt nur noch der Hinweis auf Max Webers idealtypische Unterscheidung der Herrschaftsformen, die er legitim nannte – traditional auf heiliger Ordnung, rational auf der von Menschen geschaffenen Legalität, charismatisch auf dem Glauben an außeralltägliche Qualitäten einer Persönlichkeit beruhend –, um fortan abzuheben auf ein bürgerliches Denkstück unter dem Tiefe verheißenden Motto: Charisma – Segen oder Fluch. Es ließe sich zusätzlich über den kleinen Unterschied zwischen Charismatikern wie Winston Churchill oder Konrad Adenauer, Olof Palme oder Charles de Gaulle sinnieren, man könnte sich im Folgenden auf die Guten beschränken.
Doch will das jemand lesen? Eben.
Da Charisma etwas zu tun hat mit jenem gewissen Prickeln, muss ein Versuch unternommen werden, sich am Beispiel anderer Beispiele etwas Prickelnderes auszudenken. Überraschender dürfte die Suche werden nach Charismatischem in Madonna oder David Beckham, Boris Becker oder Lady Di, Jerome Salinger oder Robbie Williams, Marilyn Monroe oder James Dean etc. – und ob die am Ende gar keine charismatischen Figuren waren oder sind, allenfalls Sehnsüchte in sie projiziert wurden, was reicht, um Filmstars zu Mythen zu erheben. Oder ob sie schlicht einmalig sind, weil sie können, was andere nicht können. Denn auch das gehört zu Charisma: eigene Aura, raumfüllende Ausstrahlung, Emotionen vermittelnd, übertragend, erregend.
Körperliche Attraktivität ist offensichtlich nicht entscheidend. Stephen Hawking hat Charisma, Sky du Mont nicht. Margarete Mitscherlich hat Charisma, Eva Herman ist blond. Bär Knut hat Charisma, Kurt Beck nicht. Der eine wird seines übrigens selbst dann nicht verlieren, wenn er ein Großer geworden ist, weil sich Menschen an den kleinen Charismatiker aus dem Berliner Zoo erinnern, der sie magisch angezogen hat und der es sogar in den Titel einer »Christiansen«-Politshow geschafft hat (»Aufschwung, Sonne, Knut – geht’s uns wirklich wieder gut?«). Der andere ist ein Bär der Sorte Teddy, gibt Laute des Wohlbehagens von sich, wenn eine bestimmte Stelle auf seinem Bauch berührt wird oder die SPD in Umfragen die 30-Prozent-Marke erreicht. Kurt Beck ist nicht berührend im charismatischen Sinne, sondern rührend in seinem Bemühen um Ausstrahlung. Allenfalls ein Charismatiker kann Angela Merkel besiegen, die zwar selbst kein Charisma ausstrahlt, aber Chuzpe bewiesen und sich Fortune verdient hat.
Die amtierende aktuelle deutsche Politikszene ist überhaupt frei von Charismatikern. Da werden »Eckpunkte« wie »Fit statt fett« verankert statt Visionen verkündet. Das müsste Helmut Schmidt freuen, den kühlen Pragmatiker, weil er stets allen, die Visionen hatten, einen Arztbesuch empfahl. Was mit ein Grund dafür ist, dass die Große Koalition aufs Publikum so gar keinen Reiz ausübt, nicht verführerisch wirkt – und erklärbar macht, dass sich bestimmte Alphatiere der Medienmeute als Leitwölfe aufführen, weil es ihnen an Konkurrenten auf dem politischen Jahrmarkt Berlin fehlt.
Lichtgestalten und Lückenbüßer – ob nun Politiker, Journalisten, Autoren, Schauspieler, Manager – sehen, von oben betrachtet, allerdings gleich großrangig aus, ergeben aus dieser Perspektive ein geschlossenes weites Feld. Auch Zwerge, siehe Knut, haben ja mal klein angefangen.
Alles also nur Schein und kein Charisma weit und breit? Der Schein trügt: Es segnet seine Gläubigen der amtierende Papst Benedikt, sich demütig berufend auf den Charismatiker Jesus, es verneigt sich der charismatische Dalai Lama vor den Menschen, die ihn für ihren Gott halten, es weckt Hugo Chávez Hoffnungen, die er nie erfüllen kann, es besingt Fidel Castro mit alterszittriger Stimme den ewigen Traum von der Revolution. Es lebt aber auch das Charisma der Toten – Mahatma Gandhi und Martin Luther King, Mutter Teresa und Jeanne d’Arc, Wolfgang Amadeus Mozart und John Lennon, Pablo Picasso und Frida Kahlo. Von denen ist kein Widerspruch zu erwarten. Tote schicken keine Gegendarstellungen.
Wer zum Mythos stilisiert wird, hat keine Persönlichkeitsrechte mehr. Gehört allen. Wer dagegen Goldkettchen im Brusthaar baumeln lässt und Naddels anlockt, strahlt nicht etwa eine verführerische Aura aus, sondern verbreitet nur den Duft billigen Parfums. Es ist leider nicht wahr, so schön es auch wäre, dass Dummheit erkennbar hässlich macht. Auch Selbstdarsteller sind begnadet und insofern schwer von denen zu unterscheiden, die das gewisse Etwas haben. Also Karl Lagerfeld von Giorgio Armani, Dieter Bohlen von James Callum, Jörg Pilawa von Günther Jauch, Hera Lind von Herta Müller, Peter Hartz von Wendelin Wiedeking.
Es gibt eine weitere Kategorie: Charismatiker auf Zeit. Boris Becker war spielend von einer Aura umgeben, die ihn einmalig erscheinen ließ. Die Skala der Emotionen, die er auslöste, so oder so, war betörender als die anderer seiner Klasse, ausgenommen Jimmy Connors und John McEnroe. Sein Charisma endete in einer Besenkammer – nicht aus moralischen Gründen. Der Tat-Ort war zu spießig, verglichen mit den Höhepunkten auf dem Rasen von Wimbledon und unwürdig eines Helden.
Madonna hatte eine charismatische Ausstrahlung »like a virgin«. Als sie dann in ihrer spätpubertären Provokationspopphase singend vom Kreuz hing und adoptierend auf Welttournee ging, war sie nur noch eine reiche Popsängerin diesseits von Eden und damit ohne Charisma, reduziert auf Normalsterblichkeit. Um Evita Perón weinten einst nur die Argentinier, doch längst singt die Welt mit, wenn irgendwo Don’t Cry For Me Argentina erklingt. Charismatisch ist dieser Song, mit der Person hat das Lied längst nichts mehr zu tun. Bestimmte Musik, von Schubert über Bruch bis zu den Beatles und den Rolling Stones usw., gehört zur Gattung der charismatischen Verführer.
Immer dann, wenn eine bestimmte Melodie ertönt, erwacht bei Menschen die Erinnerung an den magischen Moment in ihrem Leben, diesen einzigen Augenblick, in dem sie auf andere charismatisch gewirkt haben. Manche nur für eine einzige Nacht, was an der Melodie nichts ändert, manche für ein ganzes Leben.Das Lächeln von Lady Di war schüchtern, kleinmädchenhaft, nett, allenfalls rührend in seiner Verlorenheit. Nach ihrem Unfalltod, der aus der Prinzessin einen Mythos machte, weil ihr Leben ins sentimentale Klischee des gedruckten und gesendeten Boulevards gepresst wurde – gemobbt vom arroganten Königshaus, betrogen vom kalten Gatten, früh zu Tode gejagt –, galt sie als charismatisch.
Jerome D. Salinger ist ein charismatischer Dichter, weil er sich seit dem Fänger im Roggen der Öffentlichkeit verweigerte, sein Roman eh charismatisch wirkte und der geheimnisumwitterte Autor diese Wirkung potenzierte. Robbie Williams hat eine Emotionen auslösende Stimme, aber er verliert seine Aura, sobald er hinter den Mauern einer Entziehungsklinik verschwindet. Die Süchtigen Marilyn Monroe und James Dean, deren Vergöttlichung nach ihrem Tod erst richtig auflebte, bleiben dagegen in ihrem Charisma ungebrochen. Es war nicht ihre Ausstrahlung im Leben, sondern die in ihren Filmen, die sie unsterblich machte.
Charisma ist nicht nur ein human factor, Charisma schafft sogar menschliche Fakten. Im vergangenen Sommer verzauberte Jürgen Klinsmann die Nation. Die Männer – und offenbar auch die Frauen. Neun Monate nach den patriotischen Lustausbrüchen stiegen die Geburtenzahlen um bis zu 18 Prozent. Wofür Ursula von der Leyen Tag für Tag kämpfen muss, schaffte jenes charismatische Ereignis spielerisch, in kurzer Zeit. So einfach ist das mit dem Charisma. Man muss am Ende nur daraufkommen.