2007
Ihr Leben lang hat sich Cilli Leitner eine Straße gewünscht. Eine, wie sie heute jeder hat vor seiner Tür, eine, auf der man fahren kann, vor allem, wenn man dringend Hilfe braucht. Cilli Leitner ist 78, Bäuerin und die älteste Bewohnerin des Kaisertals in Tirol. An diesem Samstag im April fühlt sie sich nicht gut, sie ist erkältet, legt sich nach dem Frühstück noch mal hin. Plötzlich bekommt sie keine Luft mehr. Und Angst. Anderswo in Österreich, ja überall in Europa, könnte sie jetzt einfach einen Arzt rufen. Es wäre kein großes Drama. Im Kaisertal schon. Hier können solche Zwischenfälle tödlich enden. Obwohl das Tal nur auf etwa 900 Meter Seehöhe liegt, ist es von der Außenwelt abgeschnitten. Rauf kommt man nur zu Fuß, Kaisertaler wie Gäste. Kein Auto, kein Fahrrad, kein Motorrad kann die paar Kilometer zwischen der Tiroler Stadt Kufstein und dem Tal überwinden. Nach oben führt nur eine steile Treppe durch den Wald mit 298 Stufen. Bis ein Arzt kommt, kann es zu spät sein. Nie hatte Cilli Leitner eine Straße nötiger als jetzt.
2003
»Rettet das Kaisertal! Den Kaiser haben nicht nur die Münchner Bergfreunde ob seiner harmonischen Mischung aus Natur- und Kulturlandschaft in ihr Herz geschlossen. Fahren Sie ins Kaisertal, sprechen Sie mit den Einheimischen. Machen Sie Ihnen klar, dass Sie nicht mehr kommen, wenn eine Straße heraufführt.«
Boykottaufruf des Deutschen Alpenvereins an alle Mitglieder.
2013
Seit fünf Jahren gibt es sie nun, die Straße ins Kaisertal: zwei Kilometer lang, asphaltiert, 800 Meter davon in einem Tunnel. Fragt man die 35 Bewohner, was sich in ihrem Leben seither verändert hat, hört man zwei Antworten. »Alles!« Und: »Eigentlich gar nicht so viel.« »Alles«, das bedeutet zum Beispiel: Schulkinder müssen nicht mehr zu Fuß hinauf und hinunter. Morgens bei Dunkelheit los, mit Stirnlampen auf dem Kopf.
Sie müssen nicht mehr im Winter über Schnee und Eis hinunterrutschen, immer Ersatzkleidung im Rucksack, falls ein Regenguss kommt. Handwerker, Elektriker, Ärzte, Feuerwehrleute können bei Notfällen einfach ins Tal fahren oder umgekehrt, auf den Berg, Verletzte und Kranke werden mit Rettungswagen, statt mit Hubschraubern abgeholt. Die Wirte können ihre Höfe endlich ohne Umstände renovieren und zum Einkaufen fahren, wann sie wollen. Und erst die Sache mit den Autos – man muss wissen, dass es im Kaisertal schon welche gab, bevor die Straße kam. Fast jeder oben hatte zwei: eines für den normalen Straßenverkehr, unten in Kufstein, am Fuß der Stiege, das andere, ohne Nummernschild, stand am oberen Ende der Stufen.
Dazwischen: Fußweg. Oben angekommen, ratterten die Bewohner mit ausrangierten Geländefahrzeugen über die geschotterten Wege im Kaisertal zu ihren Häusern. Doch dazu mussten die Autos erst mal hochgezogen werden, mit Seilwinden über die Stufen, das dauerte Stunden. Das ist jetzt alles vorbei. »Zum Glück«, sagt Hilda Schwaighofer, 77, Wirtin vom »Pfandlhof«. Sie lebt seit mehr als 50 Jahren im Kaisertal. 50 Jahre über die Stufen steigen, zweimal sogar hochschwanger, in den Wehen. Keine zwei Stunden später waren die Kinder da. Das war normal. Und heute? Sie fährt zum Arzt oder zum Friseur. Aber niemals einfach so, zum Vergnügen. »Extra runterfahren, das würde ich nicht machen.«
Für die 2000 Besucher, die an schönen Tagen ins Tal wandern, hat sich nichts verändert. Sie müssen immer noch über die Stiege. Die meisten kommen aus Deutschland: Von München aus dauert es nicht einmal eine Stunde. Sie mögen das Tal, weil es so abgeschieden ist. Sie finden hier etwas, was es kaum noch gibt: Ruhe, Idylle, Bergromantik. Naturschützer und Alpenvereine haben deshalb jahrzehntelang gegen die Straße gekämpft. Es gab Proteste, wütende Briefe. Eine Straßenverbindung würde den Charakter des Tals zerstören. Das Kaisertal wäre dann nur mehr ein Hochtal wie jedes andere.
Das Kaisertal wird aussterben, wenn nicht bald etwas geschieht.
Für Touristen ist der Tunnel eigentlich gesperrt. Manchmal sieht man hier Fahrradfahrer, die das Verbot ignorieren.
2007
Cilli Leitners Leben ist in Gefahr. Ihrer Familie bleiben zwei Möglichkeiten: Sie kann entweder einen Hubschrauber rufen oder es mit dem Tunnel probieren. Der wird allerdings erst in einem Jahr eröffnet. Noch wird daran gebaut, aber die Röhre ist schon seit Wochen fertig. Bernhard Leitner, ihr Sohn, will nicht warten. Er packt seine Mutter in das Auto ohne Nummernschild, fährt die paar Meter hoch zum neuen Tunnelportal, schiebt die Absperrgitter zur Seite und gibt Gas. Es ist stockfinster im Tunnel, die Straße noch nicht asphaltiert, der Wagen rumpelt durch die Röhre. Cilli Leitner und ihr Sohn waren die ersten Kaisertaler, die eine Straße benutzt haben, um aus ihrem Tal zu kommen.
1998
»Ich bin mir sicher, dass eine Menge Menschen alles dafür tun würde, in einem unerschlossenen, natürlichen Alpental leben zu dürfen, mit all den damit verbundenen Problemen. Liebe Kaisertaler, respektiert endlich die naturbedingte Tatsache, dass keine Straße da ist.«
Aus einem Leserbrief an die Kufsteiner Lokalzeitung.
1896
Es gibt Ende des 19. Jahrhunderts viele Hochtäler in den Alpen, die von der Außenwelt abgeschnitten sind. Der Tourismus boomt in Österreich, immer mehr Täler werden erschlossen. Der »Verein zum Bau von Alpenhotels in Tirol« sucht sich das malerische Kaisertal als Ziel aus: Dort sollen Hotels für Touristen entstehen, dorthin braucht es eine Straße. Doch die Felswände zwischen Kufstein und dem Tal sind zu schwer zu überwinden. Der Plan scheitert. Dann, 1905, sollen es Schienen sein: Das k.u.k. Eisenbahnministerium bewilligt eine Eisenbahnstrecke. Und wieder heißt es: zu teuer. 1960 gibt es neue Pläne für eine Straße, eine alternative Route, elf kurze Tunnel statt eines langen Tunnels. Gebaut wird nichts. Mehr als 100 Jahre geht das so: Mal soll es eine Seilbahn sein, dann eine Zahnradbahn, mal Forstwege, mal eine befestigte Straße. Die Kaisertaler leben ihr Leben weiter: Die Toten werden von den Nachbarn in Särgen hinuntergetragen, erst am Fuß der Stiege kommt der Amtsarzt dazu, der den Tod feststellt. Krebskranke werden von den Dorfbewohnern nach Chemotherapien auf einer Trage nach oben getragen. Die Zahl der Menschen, die im Tal wohnen, schrumpft: Ende der Neunzigerjahre sind es noch 30.
2000
Anfang Februar liegt Jakob Leitner, Cillis Ehemann, im Krankenhaus. Er hofft jeden Tag, dass ihn die Ärzte nicht entlassen. Sein Oberschenkelhals ist zertrümmert. Vor zwei Wochen stürzte er, als er die Einkäufe aus der Holzkiste der Materialseilbahn heben wollte. Seit 1956 ist die Seilbahn neben der Stiege die einzige Verbindung des Kaisertals zur Außenwelt. Zweimal die Woche schaltet sie ein Seilbahnwärter der Stadt Kufstein ein, in den Sommermonaten sogar dreimal. Er schichtet unten die Einkäufe in die Holzgondel, oben warten die Kaisertaler, von jeder Familie mindestens einer. Die Gondel ist beladen mit allem, was die Hüttenwirte und Bauern brauchen: Bierfässer, Dieselkanister, Klopapier, Nudeln, Kartoffeln, Zitronen, Kaffee. Wenn einer seine Gästezimmer renoviert, werden Möbel oder Baumaterialen verladen. Früher haben die Kaisertaler sogar Autos in der Materialseilbahn nach oben gebracht.
Doch 1992 stürzte ein Toyota aus der Gondel und hätte beinahe eine Gruppe von Schülern erschlagen, die gerade über die Stiege nach oben unterwegs waren. Seither ist der Autotransport verboten. Wer beim Einkaufen was vergisst, muss drei Tage warten – oder im Notfall mit den anderen tauschen. Jakob Leitner ist beim Ausladen ausgerutscht. Ein Hubschrauber brachte ihn ins Tal. Menschen dürfen nicht mit der Seilbahn transportiert werden, auch nicht in Notfällen. Weil Jakob Leitner darum bittet, behalten ihn die Ärzte länger im Krankenhaus als nötig: Sie ziehen einen eigentlich für später geplanten urologischen Eingriff vor. Ihm bleibt es erspart, mit Krücken über die Stiege nach Hause zu humpeln. Zumindest für einige Tage.
2005
Die Diskussion um die Straße ist nun mehr als 100 Jahre alt. Die Politiker in Ebbs glauben: Das Kaisertal wird aussterben, wenn nicht bald etwas geschieht. Dabei hat sich schon viel getan in den letzten Jahren. Die Kaisertaler haben die Seilbahn bekommen, sie haben fließend Wasser, Telefone, Strom, Internet. Und trotzdem: Die Jungen wandern ab, wer bleibt, hat Probleme, einen Partner zu finden, der bereit ist, ins Tal zu ziehen. 2005 beschließt der Gemeinderat von Ebbs: Die Straße muss kommen. Doch wer bezahlt sie? Die Stadt Kufstein, der größte Grundbesitzer im Tal, weigert sich lange, bei dem Projekt mitzumachen. Am Ende teilen sich die Gemeinde Ebbs und das Land Tirol die Kosten: 7 Millionen Euro – mehr als 200 000 Euro pro Bewohner. Es ist nicht nur die umstrittenste, sondern auch die teuerste Straße Österreichs.
1996
»Ich hatte kein Heimspiel erwartet, aber es war schlimmer, als man befürchten durfte. Von Fairness konnte keine Rede sein. Wir wurden laufend als Arschlöcher und Deppen bezeichnet. Eine Bewohnerin hat mir und meinen Kindern den Krebs gewünscht.«
Herbert Marschitz, Bürgermeister der Stadt Kufstein, in der Kufsteiner Lokalzeitung nach einem Besuch im Kaisertal.
Er kann es nicht glauben, dass von nun an alles anders sein soll.
2013
Der älteste Hof des Kaisertals heißt Hinterkaiser, zum ersten Mal erwähnt wurde das Haus 1280. »Lästern uns die Feinde auch, Treue ist Tiroler Brauch«, steht in weißer Schrift auf der Holzverschalung unter dem Dach. Die Wanderer können hier Rast machen, bei Bier und Käsebrot. »Man kann sich’s schon gar nicht mehr vorstellen ohne Straße«, sagt Barbara Schaffer, die mit ihrem Mann den Hinterkaiser bewohnt und bewirtschaftet. Ihre beiden Töchter pendeln zur Arbeit ins Tal, ihr Enkel Elias ist der erste Kaisertaler, der niemals die 298 Stufen ins Tal gehen muss. Ist das schade? »Pft«, macht Schaffer. »Das muss keiner mitgemacht haben.« Im Gegenteil: Ohne Straße wären die Töchter nicht hiergeblieben. Und Elias wäre in Kufstein oder einer anderen Stadt aufgewachsen.
2007
Als der Tunnel fast fertig ist, stürzen sich die Medien auf das Kaisertal: Das Bayerische Fernsehen dreht einen 45-Minüter, Sat.1 ist da, die BBC, die österreichischen Zeitungen sowieso, sogar die New York Times schickt einen Reporter. Jeder will noch einen letzten Blick werfen auf das unberührte Tal. »Vorher hat sich niemand für uns interessiert«, sagt Ursula Leitner, die Schwiegertochter von Cilli und Jakob. Immer wieder musste ihre Familie die gleichen Geschichten erzählen, immer wieder für die Kamerateams die Treppe rauf- und runtergehen. Nach anderthalb Jahren Bauzeit bricht am 10. März die Baggerschaufel durch die Felswand. Nicht weit entfernt steht der 78 Jahre alte Jakob Leitner und schüttelt den Kopf. 38 Jahre lang ist er jeden Tag nach Kufstein gependelt, um dort als Elektriker zu arbeiten – zu Fuß. Er kann es nicht glauben, dass von nun an alles anders sein soll.
1996
»Für sieben Schulkinder eine Straße zu bauen, die Millionen kostet, ist ein Verbrechen. Die Generationen davor haben mit mehr Kindern das Leben am Berg geschafft – die jetzige ist dazu zu faul. Ihr verdammten Umweltzerstörer habt nur Blödsinn und Scheiße im Kopf.«
Aus einem Brief an die Gemeindeverwaltung von Ebbs, zu der das Kaisertal
gehört.
2013
»Ich habe nie verstehen können, warum es so viel Widerstand gegeben hat«, sagt Jakob Leitner. »Die Straße ist ein Segen.« Auch wenn ausgerechnet sie der Grund ist, dass er nun von seiner Frau Cilli getrennt ist, mit der er seit 60 Jahren verheiratet ist: Vor einem Jahr musste sie ins Pflegeheim ziehen. Statt unten im Tal mit Cilli ein Zimmer zu teilen, hockt er oben allein in der Stube, schaut Richter Alexander Hold im Sat.1-Mittagsprogramm und löst Kreuzworträtsel. Er ist noch »zu gut beieinander«, sagt er, um ins Pflegeheim zu ziehen. Zu ihm kommt einmal in der Woche eine Pflegerin. Auch das dank der Straße.
2001
Anfang März marschieren Cilli Leitner, Barbara Schaffer und die acht anderen Frauen, die ständig im Kaisertal leben, über die Stiege hinunter – ihr Ziel ist Innsbruck. Dort besuchen sie die Umweltlandesrätin, um ihr klarzumachen: Wir brauchen eine Straße! Sechs Wochen später erteilt die Landesrätin dem Wunsch der Kaisertalerinnen eine Absage. Zum Bau der Straße seien zu viele Eingriffe in die Natur nötig, heißt es im Bescheid ihrer Behörde. Barbara Schaffer ist bitter enttäuscht: »Die Entscheidung ist niederschmetternd. Wir Kaisertaler sind von der Wertigkeit her offenbar hinter Pflanzen und Tieren gereiht.«
2013
Eigentlich ist Autofahren im Kaisertal verboten, seit das Tal 1963 zum Naturschutzgebiet erklärt wurde. Jeder, der die Straße benutzen will, braucht zwei Genehmigungen. Eine von der Naturschutzbehörde des Landes Tirol, eine von der Gemeinde als Plakette an der Windschutzscheibe. Jeder Berechtigte erhält einen Chip, der die Schranke am unteren Ende der Straße öffnet. Nur die 35 Kaisertaler, Waldbesitzer und Einsatzkräfte dürfen sie befahren. Der Rollstuhlfahrer aus Tirol, der sogar in offenen Briefen verlangt hat, endlich einmal in seinem Leben ins Kaisertal zu dürfen: abgelehnt. Die Senioren von unten, die die Treppen nicht mehr schaffen und noch ein letztes Mal ins Tal wollen: abgelehnt. Und wann immer einer der Kaisertaler nach unten fährt – zum Einkaufen, zum Kaffeetrinken, auf einen Ausflug: Die Gemeinde registriert seine Fahrt.
Es ist nicht nur die exklusivste, es ist auch die am besten überwachte Straße Österreichs. Eigentlich dürfen die Kaisertaler nicht einmal jemanden im Auto ins Tal mitnehmen, der keine Genehmigung hat. Silvia Huber lacht. »Als würde irgendjemand hier zum Spaß fahren!« Sie betreibt eine Bergsteigerschule und eine Schutzhütte am Ende des Tales. Damals, als sie zum ersten Mal durch den Tunnel gefahren ist, kamen Silvia Huber die Tränen. Heute sagt sie: »Endlich sind wir frei.«