Alt zu werden ist ein Privileg, das nicht jedem vergönnt ist. Man hat also allen Grund, sich darüber zu freuen, wenn man es bis zum 60. Lebensjahr geschafft hat. Umso mehr, wenn man in den Jahrzehnten davor eine Karriere machen konnte, die einem Wohlstand und Ruhm eingebracht hat. Wenn man sagen kann, etwas bewegt zu haben in dieser Welt und vielen Menschen ein Vorbild gewesen zu sein.
Und dennoch kann man in den letzten Wochen beobachten, wie schwierig es mitunter zu sein scheint, der eigenen Bedeutsamkeit den Ruhestand zu gönnen, sich damit abzufinden, in den aktuellen Debatten nicht mehr an vorderster Front mitzumischen. Es ist der Sommer der Meinungszombies – plötzlich sieht und hört man wieder überall die Stimmen derer, die ihren großen geschichtlichen Moment eigentlich hinter sich haben und sich auf ihren Meriten ausruhen könnten. Stattdessen aber geben sie Interviews.
Harald Schmidt zum Beispiel, dessen Late-Night-Show in den späten Neunzigerjahren stilbildend und der für eine ganze Generation von Menschen, die mit Humor ihr Geld verdienen, eine Lichtgestalt war. Der Beweis, dass es in der Humorwüste Deutschland so etwas wie intelligente Comedy geben kann. Sogar die rassistischen Polenwitze und der offene Sexismus wurden von den meisten noch als ironisches Spiel mit Tabus verziehen. Und jetzt, anstatt es sich einfach weiter auf dem Traumschiff gemütlich zu machen, gibt Schmidt dem ORF ein Interview, in dem er sich über Political Correctness und den angeblichen »linksliberalen Mainstream« beklagt. In dem er Väter, die sich um ihre Kinder kümmern, als »Daddy-Weichei« und »Familientrottel« bezeichnet und die »Ehe für alle« nur gut findet, »weil man sich sonst unbeliebt macht«.
Ähnlich macht es Alice Schwarzer, eine ruhmreiche feministische Ikone, die sich auf ihrem Lebenswerk ausruhen könnte. Stattdessen gibt sie ein Interview, in dem sie Feministinnen, die ihre Ansichten etwa zum Kopftuch oder zur Prostitution nicht teilen, des Neids bezichtigt, ihnen ein Bedürfnis nach Muttermord unterstellt und mutmaßt, die jungen Frauen würden in Wahrheit von mächtigen Männern gelenkt. Dass ausgerechnet Schwarzer den uralten sexistischen Topos vom »Neid unter Frauen« bedient, dass sie den Feminismus als eine Art Erbmonarchie begreift, in dem sie die unfehlbare und unkritisierbare Königin ist, wird es ihr sicherlich schwerer machen, von den »jungen Frauen« endlich die Anerkennung zu bekommen, nach der sie sich offenbar so heftig sehnt.
Ein Zeugnis echter Altersweisheit könnte ja sein, den Moment zu erkennen, in dem es ratsam ist, anderen die Bühne zu überlassen und nicht mehr überall mitquatschen zu wollen
Es gibt nunmal keinen Anspruch darauf, als altersweise Stimme der Vernunft gesehen zu werden, zumal, wenn man diese Position nur dann einnehmen möchte, wenn es einem gerade passt. Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder zum Beispiel würde mit seinen aktuellen Äußerungen, er halte das ganze Gewese um das Thema Klimaschutz für übertrieben, sicherlich glaubwürdiger rüberkommen, hätte er sich nicht nach dem Ende seines politischen Lebens für einen gut dotierten Posten in einem russischen Energiekonzern entschieden. Auch die SPD scheint auf seine Tipps und Empfehlungen gern zu verzichten, war es doch unter anderem Schröder, dessen Agendapolitik es der SPD heute so schwer macht, sich noch als soziale Partei zu verkaufen.
Auch Joachim Gauck, Bürgerrechtler und einst Bundespräsident mit dem Spezialthema »Freiheit«, macht gerade von sich reden, weil er eine »erweiterte Toleranz in Richtung rechts« fordert und die Weigerung einer Mehrheit der Bundestagsabgeordneten, einen AfD-Kandidaten in das Amt eines Vizeparlamentsvorsitzenden zu wählen, für kleinlich hält. Und das ausgerechnet zu einer Zeit, in der sich die AfD zunehmend weiter radikalisert und rechtsradikale Untergrundgruppen im großen Stil rassistische und politische Morde planen.
Wie schmerzhaft es sein kann, wenn die Helden von früher den Zeitpunkt zum Rückzug verpassen, spüren aktuell auch viele Fans der britischen Band The Smiths, deren Sänger Morrissey einer ganzen Generation melancholischer Teenager aus der düster-unverstandenen Seele gesungen hat. Anstatt einfach weiter Musik zu machen und ansonsten die Öffentlichkeit zu meiden, verstört Morrissey in Interviews und bei Auftritten mit rechtsradikalen und rassistischen Ansichten. Das ist hart für alle, die anders denken und sich in einer wichtigen Phase ihres Lebens von seiner Musik getröstet und verstanden gefühlt haben.
Vielleicht liegt es aber auch an unserem Bedürfnis nach Einordnung und Trost, dass wir den einstigen Held*innen und Respektspersonen immer wieder eine Bühne bieten. Weil dem Alter automatisch Weisheit zugesprochen wird, wo manchmal vielleicht nur Starrsinn zu finden ist. Ein Zeugnis echter Altersweisheit könnte ja sein, den Moment zu erkennen, in dem es ratsam ist, anderen die Bühne zu überlassen und nicht mehr überall mitquatschen zu wollen. Nostalgie und die schönfärberische Gutmütigkeit des Fan-Gedächnisses sorgen dann dafür, dass man seinen Nimbus als Ikone auch weiterhin behält. Wer das Sommerloch allerdings für Interviews nutzt, nimmt in Kauf, dass noch die treuesten Fans plötzlich erkennen, was für ein reaktionärer und unangenehmer Charakter man möglicherweise schon immer gewesen ist.