Ich habe ein Partyspiel erfunden. Es geht so: Man geht auf eine Veranstaltung, auf der man möglichst wenige Leute kennt. Holt sich ein Bier, stellt sich irgendwo hin, wartet, bis noch jemand, der fast niemanden zu kennen scheint, mit einem Bier in der Hand zufällig neben einem steht. Den lächelt man dann freundlich an und fragt irgendwas Harmloses, zum Beispiel: »Und woher kennst du den Gastgeber?« Von diesem Moment an stoppt man die Zeit – und zwar bis zur ersten Gegenfrage. Mein persönlicher Rekord liegt bei zweiundfünfzig Minuten.
Zugegeben, ich habe mir dieses Spiel als kleinen Trost ausgedacht. Seit ich diese betreuten Monologe zur »Challenge« umdeute, deprimieren sie mich nicht mehr so. Denn eine ganze Weile lang war ich mir sicher: Es liegt an mir! Entweder bin ich – berufsbedingt – einfach zu talentiert darin, Menschen glauben zu lassen, ich interessierte mich für das, was sie sagen. Oder ich bin einfach nicht interessant genug, um meine Gesprächspartner auch nur zu minimaler Höflichkeit zu animieren. Denn höflich wäre es ja, nach einem halbstündigen Vortrag mal was zurückzufragen. Irgendwas!
Ich habe drei unterschiedliche Monolog-Typen identifiziert: Den Macher, den Patienten und den Wiederholungstäter. Alle drei existieren natürlich ebenfalls in weiblicher Entsprechung, wenn auch in geringerer Zahl. Beim Macher folgt auf die Eröffnungsfrage »Und woher kennst du den Gastgeber?« eine lange, mit Anekdoten aus der gemeinsamen Studienzeit gespickte Abhandlung, denn natürlich kennt er ihn schon verdammt lang. Hat so manches Abenteuer mit ihm erlebt: Interrail durch Spanien, das überflutete Zweimannzelt bei Rock am Ring, die Zeit im Studium, als man vielleicht ein bisschen zu viel gekifft hat, dann schließlich das gemeinsame erste Business-Projekt, das in die Hose ging. Aber jetzt hat der Macher diese neue App entwickelt und die geht gerade total durch die Decke.
Ich schweige kurz in Erwartung der Frage, woher ICH denn wohl den Gastgeber kenne, da die aber nicht kommt, frage ich weiter: »Ah, eine App, interessant. Was kann die denn, die App?« Es folgt: Eine lange Litanei über die Schwierigkeit, gute Programmierer zu finden, die ganzen Idioten in der Start-up-Szene, die Mühen der Investorensuche, obwohl die Idee für die App ja wirklich super ist, einmalig, noch nie dagewesen. Kein Vergleich zum aktuellen Marktführer, dem jetzt ganz schön der Arsch auf Grundeis geht wegen der drohenden Konkurrenz. Das Ganze ist aber natürlich wirklich sehr zeitintensiv, gerade in der Gründungsphase leidet da natürlich vor allem das Familienleben.
Ich frage: »Ah, Familie, du hast Kinder?« Aber ja! Der Macher ist junger Vater, und zwar ein toller. Zwei Papa-Monate hat er sich freigeschaufelt, für die gemeinsame Weltreise, ist ja klar. Aber Pekip? Diesen Schwachsinn macht er nicht mit. Und die Geburt, echt der Wahnsinn, was für ein Erlebnis! Und ich denke: Ich weiß, mein Freund, been there, done that, könnte dir davon erzählen, aber du fragst mich ja nicht. Sondern beendest deinen Monolog mit den Worten: »So, ich geh mir mal noch ein Bier holen!«, ohne auch nur meinen Vornamen in Erfahrung gebracht zu haben, während ich nun deine komplette Lebensgeschichte kenne.
Typus Nummer zwei sind die Patienten. Sie sind in der Regel therapieerfahren und daher daran gewöhnt, ihr Innerstes nach außen zu kehren und intensiv über sich und ihre Gefühle zu sprechen. Nach der Eröffnungsfrage »Und woher kennst du den Gastgeber?« wird es schnell sehr persönlich. Der Gastgeber ist ein enger Freund, der besonders wichtig war während der jüngst überstandenen Krankheit/Scheidung/Prüfungsphase. Eine echt harte Zeit, in der man aber auch wirklich viel über sich selber lernt, zum Beispiel, wer die wahren Freunde sind und was einem nicht gut tut. Die toxische Beziehung zur Mutter/zum Chef/zum Ex etwa, daher jetzt auch die familiäre/berufliche Umorientierung. Bei den Patienten muss nach der Eröffnungsfrage gar nicht mehr weiter gefragt werden, es reicht verständnisvolles Kopfnicken oder ein Satz wie »Das muss schwer für dich gewesen sein«, um den Monolog am Laufen zu halten. Am Ende wird der Patient das Gefühl haben, ein wirklich intensives Gespräch geführt zu haben und endlich mal verstanden worden zu sein. Wieder ohne eine einzige Gegenfrage.
Die dritte Gattung sind die Wiederholungstäter, die Macher und Patienten vom letzten Mal. Die mich wiedererkennen als diejenige, mit der man sich so gut unterhalten kann. »Hey, ich hatte dir doch letztes Mal von meinem Projekt/meiner Trennung/der Aussprache mit meinem Vater/meiner Ernährungsumstellung erzählt!« Und die ernsthaft glauben, ich hätte brennendes Interesse an einem Update.
Interessant, dass der Smalltalk so einen schlechten Ruf hat und von vielen Menschen geradezu verachtet wird. Dabei ist er eine nicht zu unterschätzende Kulturtechnik, die offenbar kaum noch jemand beherrscht. Ein zwangloses Gespräch zu beginnen, das aus Fragen und Gegenfragen besteht und das sich dann – je nach Laune und Temperament – zu einem interessanten, tiefgründigen, witzigen, erhellenden, unterhaltsamen Austausch entwickeln kann. Manchmal träume ich von Salons, in denen der geistreiche Smalltalk wie ein Sport betrieben wird: Jeder Satz ein neues Bonmot, flirten einfach um des Flirtens willen, selbst wenn man nicht miteinander ins Bett will. Politische Diskussionen, in denen man unterschiedlicher Meinung sein kann, ohne sich hinterher gegenseitig umbringen zu wollen. Voller Neid blicke ich manchmal auf meine Eltern, Generation 60+, die im Gegensatz zu mir auf Veranstaltungen gehen, wo man einen Tischherrn zugewiesen bekommt, der es als ritterliche Aufgabe begreift, seine Tischdame charmant zu unterhalten. Die ihrerseits Spaß daran hat, eine interessante Gesprächspartnerin zu sein. »Gesprächspartner« – stimmt, es geht ja um Partnerschaft! Wenn gleichberechtigte Partnerschaften das Ideal meiner Generation sein sollen, dann schlägt sich das leider nicht im Smalltalkverhalten nieder. Stattdessen treffe ich immer mehr auf fleischgewordene Instagram-Accounts: Gewohnt, nur um sich selbst zu kreisen, sich darzustellen, sich zu präsentieren, gleichzeitig total dankbar, wenn sich jemand scheinbar wirklich für sie interessiert. Die irritiert sind von der Stille, die aufkommt, wenn ich einfach irgendwann nicht mehr nachfrage. Und dann das Weite suchen, weil sie nicht wissen, womit diese unangenehme Stille zu füllen wäre. Leute, es ist ganz einfach: Wenn ihr nicht Teil meines persönlichen Betreute-Monologe-Highscores werden wollt, merkt euch diesen einen magischen Satz. Haut ihn einfach mal so raus und schaut, was dann passiert. Ihr werdet verblüfft sein. Der Satz lautet: »Und du?«