Dass ich ein Sockenproblem habe, merke ich, als die Schublade nicht mehr zugeht. Es sind Wollsocken darin. Blaue, schwarze, rote, gestreifte, alle selbst gestrickt von Tanten, Freundinnen, meiner Frau, meiner Mutter. Ich habe gern warme Füße und mag Wollsocken sehr. Trotzdem kann ich mich nur schwerlich gegen die Erkenntnis wehren, dass es wohl doch zu viele sind.
Um mir einen Überblick zu verschaffen, schmeiße ich alle Socken auf einen Haufen. Hoppla, fast 40 Paar! Ich starre auf den Sockenberg und versuche, mir darüber klar zu werden, was genau da eigentlich vor mir liegt. Zum einen sehe ich Kleidungsstücke, die das Gegenteil der umweltschädlichen, ausbeuterischen Wegwerfmode sind, die so viel Schaden in unserer Gesellschaft anrichtet. Bei selbst gestrickten Wollsocken handelt es sich um ein sehr langlebiges Ökoprodukt. Die Strümpfe sind außerdem keine Massenware, sondern unverwechselbare Einzelstücke. Zwar haben die Tanten, das könnte man bemängeln, von mir keine Bezahlung erhalten. Sie saßen aber auch nicht in Sweatshops in Bangladesch und strickten um ihr Leben, sondern beschäftigten sich in ihren Wohnzimmern im Schwäbischen mit etwas, das ihnen Freude bereitete.
Wegschmeißen? Das ist leichter gesagt als getan
Andererseits steht der Sockenberg auch für Maßlosigkeit, Überfluss und den in unserer Konsumgesellschaft verankerten Glauben, dass schöne Dinge dem Leben Sinn geben – und noch mehr schöne Dinge noch mehr Sinn. Beim Blick auf die Socken erkenne ich, wie mächtig diese kulturelle Prägung ist und wie sehr ich den Drang, immer mehr Dinge anzuhäufen, selbst verinnerlicht habe. Ich hätte ja sagen können: Es sind jetzt genug Socken, bitte schenkt mir keine mehr. Auf einen solchen Gedanken bin ich aber nicht gekommen. Sich mit immer mehr Sachen zu umgeben ist quasi die Default-Option, die Grundeinstellung unserer Konsumwelt – wenn man sich nicht dagegen wehrt, passiert es einfach. Und plötzlich sitzt man mit 40 Paar Wollsocken da und kriegt die Schublade nicht mehr zu.
Was also tun? Einige Paar wegschmeißen? Das ist leichter gesagt als getan. Wie schwer es fällt, sich von seinen Sachen zu trennen, sieht man an der unheimlichen Nachfrage nach Hilfe in diesem Bereich. Wegschmeiß-Gurus und Aufräum-Expertinnen schreiben Bestseller und produzieren Erfolgsserien, in denen sie den von der Last ihrer Besitztümer Niedergedrückten erklären, wie sie diese in die Tonne treten können. Das Versprechen: Mit der Wohnung wird quasi auch die Seele gereinigt und entrümpelt.
Die befreiende Wirkung des Wegschmeißens kenne ich, und auch mit dem Gedanken, dass man in der zweiten Lebenshälfte loswerden muss, was man in der ersten angesammelt hat, kann ich mich anfreunden. Aber gilt das auch für meine schönen Wollsocken? Ich hänge, das merke ich jetzt, weniger an den Socken selbst als an den Gefühlen und Erinnerungen, die in ihnen stecken und die mir tiefer und wertvoller vorkommen als beim Pullover von der Stange. Etwa dieses schwarze Paar mit drei bunten Ringeln kurz unterhalb des Bündchens. Die sind fast dreißig Jahre alt, meine Mutter hat sie mir gestrickt, als ich Anfang der Neunziger in Berlin-Kreuzberg in einer Wohnung mit Ofenheizung hauste und jeden Winter jämmerlich fror. Als ich sie nun in den Händen halte, bin ich so gerührt, dass ich sie gleich überziehe. Ist das die Lösung für mein Dilemma? Die Wollsocken nicht wegwerfen oder verschenken, sondern regelmäßig tragen?
Ich gehe in den Keller und drehe die Heizung runter.