Der Sommer bringt manches zum Vorschein, was den Rest des Jahres über eher verborgen bleibt. Neben nackter Haut auch die Furcht vor derselben, genauer: die Furcht vor dem männlichen Fuß. Wehe dem Mann, der es den Frauen gleichtut, zu Beginn des Sommers die Sandalen aus dem Schrank holt und seine Zehen hinaus ins Freie lässt! Am Strand oder Badesee mag er noch toleriert werden, im Büro ist ihm die Ächtung gewiss.
Viele Kleidungsvorschriften, denen der Mann früher zu folgen hatte, gelten heute allenfalls in Anwaltskanzleien und Vorstandsetagen. Nicht so das Fußverhüllungsgebot, das sogar regelmäßig in der Presse untermauert wird, mit deftiger Abschreckungsprosa, deren Zweck es ist, die wenigen Männer, die vielleicht doch die Entblößung ihrer Füße erwägen, von dieser Tat abzuhalten. Denn wer will schon Körperteile herzeigen, die wie »schuppige Fische« (Stern) aussehen, »Hornhaut, wie geschaffen für Fakire und Feuerläufer« (Bunte) oder gar »üppig behaarte Hobbit-Zehen mit gelben, sich bereits im Kringel-Stadium befindenden Fußnägeln« (Welt)? Auch auf sz-magazin.de war schon zu lesen, dass »haarige Zehen und verhornte Fersen« nur derjenige gern zur Schau stelle, der »ästhetisch noch im Mittelalter« lebe.
Ja, diese Art von Füßen sollte vielleicht wirklich verborgen bleiben. Aber warum dürfen auch Männer, die ihre Füße pflegen, diese nicht herzeigen? Und was ist mit weniger ansehnlichen Damenfüßen? Deren Anblick mag manchem nicht gefallen, dennoch hat ihre Inhaberin nicht zu fürchten, sozial ins Abseits gestellt zu werden. Wie viele Bräuche und gesellschaftliche Normen folgt auch die Scheu vor dem Männerfuß nicht unbedingt einer Logik, und die Scheu wird aufrechterhalten, obwohl bezweifelt werden darf, dass die Gründe, die es einmal für sie gegeben haben mag, im Jahr 2019 noch gelten.
Ruth Trenkler, Präsidentin des Deutschen Verbandes für Podologie, also medizinische Fußpflege, betreibt seit 25 Jahren eine eigene Praxis in Regensburg und hat in dieser Zeit beobachtet, dass Männer genauso häufig zur Fußpflege gehen wie Frauen – und dass sich die männliche Körperhygiene generell stark verbessert hat. »Männer achten sehr auf gepflegte Füße«, sagt sie. »Und die Zeiten, wo man einmal die Woche gebadet hat, sind lange vorbei.«
Dieses Bild wird von Studien zur Fußgesundheit bestätigt – welche auch enthüllen, dass geschlechterübergreifend achtzig Prozent der Menschen in den Industrieländern an einer Fußdeformation leiden, wozu Hühneraugen und Plattfüße gehören, der Fersensporn, der Donald Trump einst vor dem Militärdienst bewahrte, Knick- und Spreizfüße, Schwielen, Hammer- und Krallenzehen. Besonders berüchtigt, weil schmerzhaft und schwer zu verbergen: der Hallux valgus, auch Ballenzeh genannt. Hierbei handelt es sich um eine durch falsches Schuhwerk begünstigte Fehlstellung des großen Zehs, bei der dieser in Richtung der anderen Zehen gedrückt wird und an der Innenseite des Fußes ein knochiger Knubbel entsteht. 13 Prozent der Männer leiden am Hallux valgus, aber mehr als doppelt so viele Frauen – dreißig Prozent, fast ein Drittel. Viele dieser Frauen hindert ihr auffälliger Fußknubbel keineswegs daran, im Sommer Sandalen zu tragen.
Und die Schuhe? Tragen auch sie etwas bei zur Furcht vor dem Männerfuß? Bis in die Neunzigerjahre hinein war es tatsächlich nicht leicht, einigermaßen ansehnliche Herrensandalen zu kaufen. Es gab hauptsächlich altväterliche Modelle, die aussahen, als hätte man aus herkömmlichen Halbschuhen einfach ein paar Streifen Leder herausgeschnitten, sowie die im linken Gesellschaftsspektrum beliebten Jesus-Latschen. Birkenstocks sahen schon aus wie heute, wurden aber ebenfalls überwiegend im Öko-Milieu getragen und vom medizinischen Personal in Krankenhäusern und Arztpraxen. Dann erst verbreiteten sich Flipflops im großen Stil, etwa zur gleichen Zeit kam die Trekking-Sandale aus den USA nach Deutschland, die zwar ästhetisch umstritten, aber derart bequem ist, dass sie im Ausland zum zuverlässigen Signum deutscher Touristen wurde. Heute ist die Sandalen-Auswahl für Herren längst nicht so groß wie für Damen, trotzdem haben Männer kein Problem mehr, stilvolle Modelle zu finden. Selbst im Luxussegment ist die Sandale angekommen.
Wenn es also weder an den Füßen selbst noch am zur Verfügung stehenden Schuhwerk liegt – was könnte dann der tiefere Grund für die abschreckende Wirkung des männlichen Fußes sein? Für die Schweizer Autorin und Therapeutin Rita Fasel hängt es damit zusammen, was Füße über ihre Besitzer verraten. »Die Füße zeigen unsere ganze Lebensgeschichte«, sagt sie. »An ihnen kann man erkennen, wie wir auf unserem Lebensweg vorankommen, welche beruflichen und privaten Probleme uns drücken. Krallenzehen, um nur ein Beispiel zu nennen, sind ein Hinweis darauf, dass jemand sich lethargisch in alles fügt, wenig Rückgrat beweist und generell dem Alltagsdruck schlecht standhalten kann. So etwas möchte natürlich nicht jeder offenbaren – und auch nicht jeder sehen.«
Fasel bezieht sich hier auf eine fernöstliche Lehre, laut der eine energetische Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Regionen der Fußsohle, den Organen des Körpers und der psychischen Verfasstheit besteht. Wissenschaftlich ist das nicht erwiesen, aber dass es durchaus Auswirkungen auf das Gemüt hat, wenn man seinen eingezwängten Füßen etwas Gutes tut, dürften die meisten bereits erlebt haben. Wer kennt nicht das Glücksgefühl, an den Strand zu kommen, die Schuhe abzustreifen und auf blanken Sohlen über den heißen Sand bis hinunter ans Meer zu laufen?
Statt ihren Füßen solche kleine Freiheiten auch an Werktagen zu gönnen, halten die meisten Männer sie in »Dunkelhaft«, wie es die Podologin Ruth Trenkler formuliert. Für immer und ewig? Soziale Normen ändern sich, und vor dreißig Jahren kamen auch Frauen noch nicht mit Sandalen ins Büro. Wird der geschlossene Schuh irgendwann von allein verschwinden, so wie die Krawatte, der Siegelring und das »Sie« unter Kollegen? »Vielleicht müssen nur ein paar Mutige den Anfang machen«, sagt die Therapeutin Rita Fasel.
Was dann zum Vorschein käme, ist jedenfalls bemerkenswert. 26 Knochen, 33 Gelenke, 32 Muskeln und Sehnen und 107 Bänder enthält jeder Fuß, vollends zum Wunderwerk wird er durch das Gewölbe (auch wenn es bei vielen leider eingesunken ist). Kein anderes Erdenwesen verfügt über eine solche anatomische Besonderheit: Das Fußgewölbe war einst die Voraussetzung dafür, dass der Homo Erectus den aufrechten Gang meisterte und die Menschheit sich auf den langen Weg begeben konnte, der sie bis ins Jahr 2019 geführt hat. Den größten Teil dieses Weges ging man barfuß.