SZ-Magazin: Herr Nedopil, vor Ihnen sitzen Vergewaltiger, Bankräuber, Sadisten, Kindsmörderinnen und Bombenleger. Geben Sie denen die Hand?
Norbert Nedopil: Ja, ich gebe allen die Hand. Aber ich kläre sie sofort auf: Nichts von dem, was Sie jetzt sagen, kann ich für mich behalten. In meinem Beruf gilt die ärztliche Schweigepflicht nicht. Wer zu mir kommt, ist kein Patient, sondern Proband. Es ist nicht meine Aufgabe, die Leute zu heilen. Ich will mir nur ein Bild von ihnen machen.
Wie beginnen Sie ein Gespräch?
Das ist nicht so schwer. Ich behandle die Menschen voller Wertschätzung. Der des Mordes beschuldigte Arzt bleibt bei mir natürlich der Herr Kollege. Aber auch einem Bankräuber gebe ich das Gefühl, dass ich ihn als Profi auf seinem Gebiet schätze.
Haben Sie nie Angst?
Nein. Manchmal werden die Menschen, die ich begutachten soll, von Polizisten gebracht. Die Beamten müssen vor der Tür warten. Manchmal tragen die Probanden auch Handschellen, aber die werden ihnen bei mir abgenommen. Und dann hat man ja auch Erfahrung. Sehen Sie diesen Stuhl hier zwischen Schreibtisch und Tür?
Ein ganz normaler Stuhl.
Er steht nicht umsonst da. Ich könnte ihn umwerfen, dann versperrt er den Probanden den Weg. Dadurch würde ich Zeit gewinnen, um zur Tür zu kommen. Aber ich musste noch nie fliehen.
Viele Ihrer Probanden wurden ja schon von Polizisten verhört – was machen Sie anders?
Die Polizei will herausfinden, ob jemand ein Mörder ist oder nur ein Totschläger. Das ist mir nicht so wichtig. Mich interessiert: Ist der Täter gestört? Hat die Störung was zu tun mit der Tat? Dafür muss ich die Motive des Täters kennen.
Vor Kurzem hatten Sie den »Maskenmann« zu begutachten, der jahrelang durch Schullandheime schlich, Kinder missbrauchte und drei Jungen tötete. Eindeutig ein Pädophiler, oder?
Aber für mich ist er ein normaler, schuldfähiger Täter. Beim Maskenmann war die Tötung der drei Jungen eine Verdeckungstat. Der Mann ist zwar pädophil, aber er hat die Jungen getötet, weil er Angst davor hatte, dass seine Taten auffliegen.
Sind Sie nie im Zweifel?
Beim Maskenmann nicht. Auch nicht bei dem Koch, der einen Kollegen getötet und zerteilt hat – der ist in den Medien gleich pervers. Ich stelle eine andere Frage: Vielleicht ist ein einzelnes Bein einfach leichter zu transportieren als ein ganzer Körper? Der Mann muss nicht gestört sein.
Reden Menschen anders, wenn sie wirklich krank sind? Oder nur eine Tat verdecken wollen?
Ich hatte den Fall eines Lastwagenfahrers, der mindestens sechs Prostituierte getötet hat. Er hat sie gefesselt und dann erdrosselt. Die Taten wurden immer ausgefeilter. Erst hat er nur in ihren Haaren gewühlt, später auch Haare abgeschnitten und in seiner Fahrerkabine aufbewahrt. Am Ende hat er Videos gedreht vom Todeskampf der Frauen. Als der Mann hier bei mir saß, bekam er leuchtende Augen, als er erzählt hat, wie er die Prostituierten langsam erdrosselt hat. Er hat mit Erregung erzählt, mit trockenem Mund. Da empört sich jetzt der Laie: So gestört ist der! Für mich aber bedeutet es: Ich bin auf der richtigen Fährte!
In diesem Moment bekommt Norbert Nedopil selbst ganz glänzende Augen. Der Fall des Lastwagenfahrers Volker E. ist inzwischen für forensische Psychiater weltweit ein Musterbeispiel für sadistischen Fetischismus. Nedopil hat mehrere Fachaufsätze über ihn geschrieben.
Überkommt Sie nicht Abscheu? Volker E. hat sich am Todeskampf der Frauen erregt.
Nein. Ich muss die Leute in Versuchung führen, sie dazu bringen, ihre Pathologie zu zeigen. Und wenn einer das dann tut, wie Volker E., dann spricht das für eine starke Störung. Bei abartig veranlagten Kranken nimmt die Perversion mit der Zeit noch zu. Volker E. hat seine Taten immer mehr ausgeschmückt. Und er sagte dann auch zu mir: »Wenn ich jetzt nicht gefasst worden wäre, dann wäre schon noch was dazugekommen.«
Was denken Sie, wenn Ihnen einer so was erzählt?
Ich denke: Jetzt hab ich ihn erwischt. Mich treibt menschenkundliche Neugier.
Lügen die Leute Sie an?
Dauernd. Und ich muss die Leute ja auch zum Lügen verleiten. Ich darf sie nicht gleich mit den Widersprüchen konfrontieren und sagen: In den Akten steht doch das und das. Sonst komme ich nicht drauf, wie viel einer lügt. Jeder Mensch lügt ja am Tag 30 Mal. Schon wenn man gefragt wird, ob es einem gut geht.
Woran könnten wir merken, dass Sie uns anlügen: wenn Sie den Blick senken, uns nicht anschauen können?
Nein, es ist ganz anders. Gerade mit starrem Blick in die Augen des anderen kann man am besten lügen. Denn der Lügner weiß ja, was er erzählen will – und muss sehen, wie sein Gesprächspartner reagiert. Er muss das Misstrauen des Gegenübers beobachten. Ich gehe anders vor, um den Leuten auf die Schliche zu kommen: Ich spreche oft drei Tage lang mit meinen Probanden. Die reden und merken sich nicht alles. Ich schon. Außerdem kenne ich die Akten und sehe die Widersprüche: Wenn Menschen mit unbewegter Miene über hochdramatische Ereignisse berichten, dann weiß ich, da stimmt was nicht.
Wenn Menschen über ihre Taten reden, welche Wörter benutzen sie dann?
Das Wort Mord gibt es nicht. Die Leute sagen eher Sachen wie: Den hab ich weggemacht. Oder beseitigt. Das wird sehr stark versachlicht. Und die Leute sagen nicht Vergewaltigung, sondern: Wir haben Sex gemacht. Das ist schrecklich unkonkret, aber wird genau deshalb so oft verwendet, auch von der Staatsanwaltschaft und der Polizei.
Bei Ihnen saß auch Mehmet A., der im Allgäu die dreijährige Tochter seiner Lebensgefährtin, Karolina, zu Tode gefoltert hat. Müssen Sie sich da zusammenreißen?
Sicher, es gibt Menschen, die mich fordern. Karolina war sicher das gequälteste Wesen, das ich je mitgekriegt habe. Aber daran kann ich nicht festmachen, ob der Täter krank oder schuldfähig ist. Der Mann wäre in den USA zum Tode verurteilt worden und auch in Großbritannien wäre er voll schuldfähig gewesen. Aber man darf an der Schrecklichkeit der Tat nicht die Schuldfähigkeit festmachen – da kommen wir in Teufels Küche. Dieser Täter war krank. Der war vorher schon zehnmal zwangsweise in der Psychiatrie, damit seine Aggressionen behandelt werden.
Können Sie die Bilder wegschieben, die Sie sehen? Sie sprachen im Fall von Karolina selbst von mittelalterlichen Foltermethoden.
Ich schaue mir die Bilder von der Tat oft gar nicht an, wenn ich über die Schuldfähigkeit des Täters befinden soll. Der Mehmet A. ist halt so, seit seiner Jugend. Der wird sich nicht ändern. Als Fall ist der nicht interessant.
Was ist denn für Sie interessant?
So einer wie Franz Fuchs.
Der rechtsradikale Bombenleger aus Österreich, der in den Neunzigerjahren vier Menschen mit seinen Bomben getötet hat. Und der sich bei einem Selbstmordversuch beide Hände abgesprengt hat, als die Polizei anrückte. Wie treten Sie so einem gegenüber?
Bei dem hatte ich Lampenfieber, so einen Fall hatte ich noch nie erlebt. Ich kam mit der Diskrepanz dieses Mannes nicht zurecht. Einerseits hatte der eine ordentliche berufliche Laufbahn als Vermessungstechniker, andererseits war der völlig fanatisch. Und er schrie ja die ganze Zeit.
Und wie haben Sie ihn dann gekriegt?
Durch einen Scherz. Wir sind vom Reden ins Scherzen gekommen. Und plötzlich haben wir gelacht. Da war das Eis gebrochen. Seine Bedingung für die Untersuchung: Ich durfte nichts mitschreiben. Auch bei mir ist er dann sehr schnell vom Lachen ins Schreien gekommen, wie in diesen Wochenschauberichten aus der Nachkriegszeit, wo auch alle so geschrien haben. Und das in der engen Zelle. Aber auch das ging schnell wieder vorbei.
Der Mann war überzeugter Rechtsradikaler, er verschickte Bomben. Menschen verloren ihre Hände, ihre Arme. Hatten Sie keine Schwierigkeiten mit ihm?
Wenn ich mit Leuten rede, spielt Moral keine Rolle. Für die Moral ist die Kirche zuständig. Ich habe ihm zum Abschied seine Handstummel gedrückt.
Die größte Angst
Norbert Nedopil schaut bei seiner Arbeit in Abgründe - nicht nur menschliche. Dieses Bild hängt nämlich über dem Stuhl, auf dem seine Probanden sitzen.
Was ist Ihre größte Angst – dass Sie einen Menschen für ungefährlich halten, der später wieder tötet?
Nein. Dass ich mein Gesicht verliere. Dass jemand über mich sagen könnte, der war nicht professionell. Irren kann ich mich natürlich schon. Aber dass einer mir übertriebenen Eifer vorwirft oder dass ich ein Weichei bin, das will ich verhindern. Ich sage meinen Mitarbeitern oft: Ihr könnt die Welt nicht erlösen. Was wäre der Palliativmediziner, der mit seinen Patienten heult, weil sie alle sterben?
Haben Sie das Gefühl, dass Täter manchmal selbst Opfer sind?
Ja. Der Angeklagte ist schuld, er hat etwas gemacht und muss bestraft werden. Aber sechs der zehn wichtigsten Risikofaktoren dafür, später kriminell zu werden, beziehen sich auf die Familie: Verwahrlosung, Drogen, soziale Randständigkeit, vieles davon wird einem in die Wiege gelegt.
Sind die Eltern schuld?
Ja, natürlich auch. Aber die sind wiederum Produkte ihrer Eltern. Und alle zusammen werden wir geprägt von den Verhältnissen. Wir sind inzwischen als Gesellschaft zu so einem windschnittigen Boot geworden, dass jeder, der ein bisschen rausschaut, abrasiert wird, weil der Wind so scharf ist. Da fallen viele ins Abseits und werden kriminell.
Vor dieser wachsenden Aggression haben viele Bürger Angst.
Aber wir werden ja auch alle immer hysterischer. Wir Psychiater strengen uns an und suchen Unterkünfte für entlassene Strafgefangene. Und dann stehen Kamerawagen vor diesen Häusern. Der Heimleiter ist entsetzt, er will seine anderen Bewohner schützen und nimmt unseren Mann nicht mehr auf. Also kommt der wieder in die Klinik zurück, wir suchen ein neues Heim – und wieder das Gleiche! Der Münchner Westparkmörder zum Beispiel: Da haben alle Zeitungen geschrieben, wohin er entlassen wird. Ich brauch aber nicht zu wissen, ob drei Straßen weiter jemand sitzt, der aus dem Knast kommt.
Macht Ihnen das nichts aus, wenn ein ehemaliger Häftling neben Ihnen einzieht?
Nein. Sie gehen auch über die Straße und wissen nicht, wer Ihnen begegnet. Ich vertraue meinen Kollegen, dass sie niemanden rauslassen, der nicht geheilt ist. Da funktioniert das System. Wir haben da auch viel bewegt. Vor 25 Jahren sind die Leute nach einer gewissen Zeit einfach so entlassen worden, ohne große Nachsorge. Die Rückfallraten waren damals hoch: 30 Prozent hatten wieder einen Eintrag im Strafregister, zehn bis 15 Prozent sogar mit gravierenden Delikten. Jetzt sind die Rückfallraten runtergegangen auf zwei bis drei Prozent. Wenn man sich überlegt, Sie könnten die Krebsrate oder Herzinfarkt so stark reduzieren, dann würden Sie den Nobelpreis kriegen. Aber wenn bei uns einer rückfällig wird, stehen wir am Pranger.
Also nimmt man in Kauf, dass der Großteil der Täter in Haft bleibt, obwohl sie niemandem mehr gefährlich werden würden?
Ja, das ist der Missbrauch der Psychiatrie zum Wohle der Bevölkerung.
Kann man eigentlich verhindern, selbst zum Opfer zu werden?
Als Erstes muss man vermeiden, dass es überhaupt zu Gewalt kommt. Wenn eine Situation brenzlig wird, muss man alles tun, damit sie nicht eskaliert. Und wenn man schon Opfer von Gewalt wurde, muss man vermeiden, dass es noch mal passiert. Wer schon mal Opfer war, hat ein größeres Risiko, es wieder zu werden.
Warum?
Sind Sie schon mal vom Hund gebissen worden? Dann gilt für Sie eine höhere Wahrscheinlichkeit, noch mal gebissen zu werden, weil sie Signale setzen, die ein Hund erkennt. Es wird nicht jeder Opfer.
Sie haben selber Kinder. Was haben Sie denen geraten?
Begib dich nicht in den Wald, von dem du weißt, dass da die Räuber sind. Meine Tochter wollte auf eine Party und sollte dafür drei Stunden in der Nacht am Bahnhof warten. Da hab ich sie gefragt: Spielen wir hier »Vergewaltigung üben« oder was? Ich hole dich vom Bahnhof ab. Aber ich verstehe auch meine Tochter und respektiere, wenn sie sagt: Ich lass mir von den Scheißtypen nicht die Freiheit nehmen.
Was kann man denn tun, wenn es schon brenzlig ist?
Ich habe viele Vergewaltiger gefragt: Was hätte das Opfer tun sollen, damit Sie von der Frau ablassen? Die sagten dann: das Gegenteil von dem, was das Opfer letztlich getan hat. Aber es gab keine klare Tendenz. Die einen sagten, das Opfer hätte sich wehren sollen, die anderen, es hätte sich nicht wehren sollen. Unsere Elterngeneration hat ihren Töchtern noch beigebracht: Mach lieber die Beine breit, als dass du tot bist. Aber viele sind auch entkommen, weil sie sich gewehrt haben. Dort wo Menschen sind, kann Schreien sinnvoll sein. Aber wenn man in den Wald verschleppt wird, wo man mutterseelenallein ist, da kann man sich nur noch tot stellen.
Gibt es so etwas wie das Böse im Menschen?
Wissenschaftlich nicht – aber menschlich schon. Einer meiner Probanden hat in Oberschleißheim bei München eine Hotelangestellte umgebracht. Der hat sie 24 Stunden gequält. Und er hatte auch vorher schon eine Frau umgebracht, als 18-Jähriger. Die hat er in den Fluss geworfen und ihr einen Ast in den Hintern gerammt. Dieser Mann war böse. Aber ich suche daneben auch: Gibt es etwas Gutes, etwas, was Mitleid und Empathie verdient? Der Frauenmörder Volker E. hat Lust am Töten gehabt, aber das war nur ein Teilaspekt seiner Persönlichkeit. Er konnte sich auch liebevoll um seine Neffen kümmern.
Finden Sie das Böse faszinierend?
Ich finde die Abgrenzung zwischen »böse« und »gestört« spannend. Um es mit Nietzsche zu sagen: so lange in Abgründe zu schauen, bis der Abgrund zurückschaut. Ich darf Dinge sehen und erfahren, die anderen Menschen verborgen bleiben.
Gibt es mehr Abgründe, als Sie sich das als junger Mann vorgestellt haben?
Ja. Ich habe anfangs noch KZ-Opfer begutachtet. Da habe ich in Abgründe geschaut, die man keinem zumuten kann. Daran habe ich mich erinnert gefühlt, als ich mit Tätern und Opfern aus dem Balkankrieg gesprochen habe. Wie dünn ist das Eis der Zivilisation? Wenn man einen Menschen zwingt, seinem Freund die Hoden abzubeißen – ist das Krieg? Oder schon mehr als das?
Wann empfinden Sie Abscheu?
Ich hatte einen Mann aus der ehemaligen Sowjetunion zu begutachten. Ein Scharfschütze. Er war schon an der chinesischen Grenze eingesetzt und erzählte, wie es ihm Spaß machte, auf Flüchtlinge zu schießen. Dann war er in Afghanistan im Einsatz und hat dort immer wieder Frauen auf dem Weg zum Brunnen vergewaltigt. Ich fragte ihn: Wissen Sie, was mit vergewaltigten Frauen in Afghanistan passiert? Ja, sagte er, die werden gesteinigt. Da habe ich gedacht: Das ist wirklich bös.
Kein Zufall, dass über dem Stuhl, auf dem sonst die Probanden sitzen, Fotos hängen, auf denen Abgründe abgebildet sind?
Nein, das ist der Maligne Lake in Kanada. Und das hier ist Lake Luise, da war ich mit meiner Familie.
Und mit der sprechen Sie dann über die Abgründe, mit denen Sie zu tun haben?
Das lasse ich im Büro. Meine Familie bekommt davon nichts zu spüren. Wir sind eine recht lustige Familie. Das trägt.
Der Interviewer wird zum Proband
Haben sich Ihre Kinder in der Pubertät nicht furchtbar aufgeregt über Ihre Verhörmethoden?
Ein Sohn hat mal gesagt: Herrschaft, Scheiße, du mit deiner psychiatrischen Trickserei.
Welche Tricks?
Jetzt frage ich Sie mal was, Herr Krause: Bereuen Sie Ihre Fehler?
Manche schon.
Anmerkung Till Krause: Was will er von mir? Nedopil sitzt jetzt ganz aufrecht in seinem Stuhl, leicht nach vorne gebeugt, er lächelt.
Gibt es Fehler, die andere Ihnen vorwerfen, die Sie nicht bereuen?
Bestimmt, ja.
Also Dinge, von denen andere sagen, dass Sie sie bereuen sollten, sind für Sie gar nicht bereuenswert?
Äh.
Noch genauer: Wie viele Wunden haben Sie geschlagen im Laufe Ihrer Entwicklung?
Anmerkung Till Krause: Jetzt wird es seltsam. Was will ich ihm preisgeben, einem Mann, der von sich selbst sagt, dass er sich alles merkt, was Menschen ihm erzählen? Ich versuche es mit einer Gegenfrage.
Welche Art von Wunden meinen Sie?
Sie sind ein junger Mann. Wie viele unglücklich verliebte Frauen haben Sie in Ihrem
Leben zurückgelassen?
Anmerkung Annette Ramelsberger: Jetzt hat er ihn. Wie will sich der Kollege da rauswinden? Jetzt möchte ich nicht in der Haut von Till stecken. Da kommen wir zum Interview, reden über Abgründe von anderen, und plötzlich ist man selbst Proband. Man kann sehen, wie Till sich das Gehirn zermartert und abwägt: Er will als Journalist wissen, wie so ein Verhör funktioniert – aber er will sein Liebesleben nicht mit einem fremden Menschen teilen. Respekt, Herr Professor: So muss es auch den echten Probanden hier gehen. Nur dass für sie die Exploration weitergeht. Schön für mich: So erfährt man mal was vom Seelenleben der Kollegen.
Die eine oder andere.
Wie viele Frauen haben Sie sich genommen, rumgekriegt, weil Sie selbst gekränkt waren?
Keine.
Da haben Sie Glück gehabt, aber denken Sie mal, wie oft das vorkommt. Umgekehrt: Sind Sie schon mal als Trostpflaster gebraucht, also benutzt worden?
Man weiß es oft ja nicht.
Überlegen Sie mal, wie viele Sachen es im menschlichen Leben gibt, die man eigentlich bereuen sollte. Wie viel Kollateralschaden man anrichtet.
Nedopil lächelt und lässt wissen, jetzt könnten wir normal weitermachen im Gespräch. Er hat mal eben gezeigt, was er draufhat.
Das ging ja jetzt ganz schön schnell mit der Exploration.
Ja, auf einmal waren Sie in einer Verteidigungsposition.
Wie lange dauert denn sonst eine Sitzung bei Ihnen?
Es dauert immer lang. Ich würde nicht nach nur einer Stunde eine für Sie wichtige Lebensentscheidung treffen. Keiner soll denken, ich hätte mich gar nicht richtig mit ihm befasst. Ich selbst würde so eine Prozedur übrigens nie über mich ergehen lassen.
Warum nicht?
Das sollten Sie nicht schreiben, wäre ja geschäftsschädigend. Wenn ich etwas getan habe, dann stehe ich dazu und muss mich in die Hände des Gerichts begeben. Aber ich muss nicht auch noch meine Seele vor denen entblättern.
Fotos: Robert Fischer