Als Sigmund Freud 1904 zum ersten Mal vor der Akropolis steht, beginnt er, an sich zu zweifeln: Ist er wirklich hier? Existiert diese Ruine tatsächlich? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass er sich das alles einbildet? Ihm wird schwindelig. In einem Brief berichtet er später seinem Freund Romain Rolland von der »verworrenen und schwer darstellbaren psychischen Situation«, in die sein Athen-Besuch ihn gestürzt habe. Die jahrzehntelang aufgebauten Erwartungen knallten mit der Realität zusammen. Bis ins hohe Alter, das berichtet Freud 32 Jahre später, habe ihn die Erinnerung an diesen Aufenthalt und die seltsame Gemütslage heimgesucht.
Gut 115 Jahre später reisen wir sehr viel öfter und weiter als Freud, doch den Schreck, von dem er da erzählt, können die meisten Menschen immer noch nachvollziehen. Jeder Urlaub trägt das Potenzial der Enttäuschung in sich. Man freut sich wochen- und monatelang auf eine Reise, man malt sie sich in den schönsten Farben aus, man sieht schon die Fotos vor sich, die man in WhatsApp-Gruppen oder auf Instagram posten wird, man sieht so glücklich darauf aus, der Partner auch, und erst die Kinder… Und dann kommt man an, und alles ist anders. Kleiner. Schmutziger. Lauter. Enger. Die Kinder schreien, der Partner meckert. Der wunderschöne Ort, den man sich vorgestellt hat, hört auf zu existieren.
Es ist kein Wunder, dass dieser Effekt in Paris besonders hart ausfällt: Das allgemeine Bild der Stadt ist dermaßen verkitscht und verklärt, kein Fleck der Welt könnte ihm gerecht werden. Und erst recht nicht Paris. Was die Enttäuschung speziell von japanischen Paris-Besuchern betrifft, gibt es sogar einen eigenen Begriff: das »Paris-Syndrom«. Der in Frankreich tätige Psychiater Hiroaki Ota hat die Bezeichnung Ende der Achtzigerjahre erfunden. Die Patienten leiden demnach unter plötzlicher Traurigkeit, sie erleben Panikattacken, Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Einer habe sich tagelang in sein Hotelzimmer eingeschlossen, einer habe sich für den Sonnenkönig Ludwig XIV. gehalten, eine Frau sei davon überzeugt gewesen, sie werde von Mikrowellenstrahlen angegriffen. In vielen Fällen habe die japanische Botschaft in Paris dann Krankentransporte zurück nach Japan organisieren müssen, damit sich der Zustand der Patienten besserte. Japaner kommen aus einer Gesellschaft, die viel Wert auf Höflichkeit und Zurückhaltung legt – kein Wunder, dass sie paralysiert sind von der Unfreundlichkeit der Franzosen.
Das dahinterliegende Problem kennen aber nicht nur Japaner: Weltweit wird Paris als kulturelles Symbol idealisiert, man erwartet eine Stadt wie im Film Die fabelhafte Welt der Amélie, doch Paris ist unübersichtlich und laut, voller Abgase, Autos und Touristen, überall laufen gestresste Menschen herum, aufdringliche Straßenverkäufer, Hütchenspieler, Bettler, und alles riecht so, wie es eben riecht, in der Métro, in den Bussen, in den engen Gassen.
Hiroaki Ota hat mit dem Paris-Syndrom nicht nur ein neues Krankheitsbild erfunden (das es allerdings nicht in den offiziellen WHO-Index ICD geschafft hat), sondern auch eine Geschichte erzählt, die sich weltweit verbreitet hat. Das Paris-Syndrom ist zu einer regelrechten Lieblingskrankheit der Medien geworden. Jedes Jahr erscheinen Zeitungsartikel darüber, Journalisten begleiten japanische Reisegruppen durch Paris, sie befragen Psychologen und Tourismusforscher, und dabei scheinen die Fallzahlen von Jahr zu Jahr zu steigen. Mal sind es angeblich ein paar Fälle pro Jahr, dann ein paar Dutzend, dann gleich mehr als hundert. Die BBC berichtete von einer 24-Stunden-Hotline für Betroffene – die japanische Botschaft dementierte.
Der Entdecker Ota hat bis heute kein Interview über sein angebliches Syndrom gegeben. Vielleicht auch deshalb, weil er dann vor allem abwiegeln müsste: In seiner zweiten Publikation nennt er nämlich Zahlen. Er und sein Team am Sainte-Anne-Krankenhaus, dem einzigen Pariser Krankenhaus mit japanisch sprechendem Personal dank einer Kooperation mit der Botschaft, zählten ganze 63 Paris-Syndrome innerhalb von 16 Jahren. Das sind im Schnitt etwa vier im Jahr. Bei zirka einer Million Paris-Besuchern aus Japan pro Jahr. Hinzu kommt: Viele der beschriebenen Patienten waren schon vor ihrer Reise in psychiatrischer Behandlung gewesen. Es sei durchaus nachvollziehbar, dass bereits vorhandene psychische Probleme während großer Reisen erst so richtig hervorträten, schreiben die Autoren.
Was sie nicht erwähnen: Die gleichen Untersuchungen in London, Peking oder New York hätten wohl ähnliche Ergebnisse gebracht, aber die Geschichte wäre nicht ganz so schön gewesen. Die Faszination für das Paris-Syndrom erzählt uns mehr über unser Paris-Bild als über psychisch instabile Japaner.