Faules Stück

Lebt sich das Leben leichter, wenn man es komplett im Schlafanzug verbringt? Ein Selbstversuch.

Im Schlafanzug wird jede Sekunde im Freien zur Mutprobe: der Autor am Hamburger U-Bahnhof Landungsbrücken.

Foto: Robin Hinsch

Da liegt er. Ausgebreitet, faltenfrei, bereit für mich. Bin ich auch bereit für ihn? Und falls sich das bejahen ließe, was ist dann mit der Welt da draußen, wird sie mich akzeptieren? Ich halte inne. Dann steige ich, es ist Montag, acht Uhr, in meinen Schlafanzug.

Ich betrachte mein neues Ich im Spiegel. Ich habe einen grauen Zweiteiler von HOM gekauft, nicht weil ich die Marke kennen würde, sondern weil in die Brusttasche ein H eingestickt war, von dem ich fortan behaupten kann, es stünde für meinen Nachnamen. Auch wirkt er durchaus alltagstauglich, mit der nadelstreifenähnlichen Optik und dem schmalen Kragen. Er scheint mir den Modellen der aktuellen Kampagne von Dolce & Gabbana zu ähneln, aber ohne das Florale, Verspielte.

Eine Woche will ich in diesem Schlafanzug verbringen, den Alltag. Ich will ihn testen, aber in ihm auch mich. Lässt sich die Gemütlichkeit der Nacht in den Tag tragen, wenn ich die Garderobe der Nacht bei Tag trage? Wie lange hält dieses Gefühl an? Und wie halte ich das aus? Die Blicke, von denen ich mir sicher bin, dass sie kommen werden, auch wenn ich noch nicht weiß, ob aus Bewunderung oder Verachtung. Ich bin ein scheuer Mensch. Aus dem Schlafanzug will ich Selbstbewusstsein schöpfen. Diese lässige Egalhaltung, die Männern im Schlafanzug wie Julian Schnabel oder Marc Jacobs zu eigen ist, soll meine werden. Ich will sein wie der Franzose aus der Gauloises-Werbung, der im Pyjama durch Paris spaziert. Liberté toujours!

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Nebenan telefoniert meine Freundin. Sie sagt, sie verstehe, dass ich den Schlafanzug tragen müsse. Aber lieber wäre ihr, ich trüge ihn nicht. Ich schicke einem Freund ein Foto von mir. Er ruft an und sagt: »Du siehst aus, als wärst du aus einer Anstalt entlaufen.«

Dann will ich auf die Straße gehen, ich muss ja. Im Supermarkt sehe ich in die Augen der anderen, erst vor Erstaunen geweitet, dann schnell angestrengt weg­guckend. Als dürfe einer wie ich nicht da sein. Wenigstens der Mann, der an der Theke in der Marktmitte seine Makis rollt, nickt mir anerkennend zu. Glaube ich. Die Kassiererin wirft das Wechselgeld neben meine Hand, so skeptisch begutachtet sie mich währenddessen. Es ist wie bei Des Kaisers neue Kleider. Ich bin nackt in meinem Schlafanzug.

Trüge ich ihn nicht durch Hamburg-Altona, sondern über die Flure von Condé Nast, bestimmt würde niemand starren. Von der Mode ist der Pyjama als It-Piece geadelt. Schon 2015 beschrieb die britische Vogue diesen Trend, sie verwies auf Entwürfe von Asceno, Stella McCartney, Anya Hindmarch. Ein Jahr später druckte die britische Elle eine Anleitung, wie der Pyjama tagsüber zu tragen sei. Über dem Text stand: »Yes, it is socially acceptable«.

Und warum sollte es das auch nicht sein, immerhin ist der Pyjama ursprünglich Kleidung für den Tag gewesen, aus dem Persischen kommend, wo »pay-jameh« eine lose Hose bezeichnete, die von einer Schnur am Bund zusammengehalten wurde. Die Inder trugen sie gern, unter den Augen der britischen Kolonialherren, die den Pyjama dann nach Europa brachten. Dort erst wurde er ins Private verbannt, im Schlafzimmer kaserniert. Wer ihn nun daraus befreit, so wie ich, macht sich unmöglich.

Ich sitze mit meiner Tochter bei der Kinderärztin, ihr Entwicklungsfortschritt soll festgehalten werden. Aber die Ärztin studiert vor allem mich. »Alles in Ordnung?«, fragt sie langsam. Ich nicke und hoffe, dass sie, die über krank oder gesund urteilt, nicht das Jugendamt ruft. Die Tochter liege entwicklungstechnisch absolut im Soll, sagt die Ärztin. Ihr Blick sagt: Das kann man vom Vater wohl nicht behaupten.

»Das arme Kind«, zischt eine ältere Dame, als ich mit meiner Tochter durchs Einkaufscenter gehe. Während wir uns die Reptilien­ausstellung im Erdgeschoss anschauen, umkreist uns ein Security-Mann. Er versucht, unbeteiligt zu wirken, aber ich sehe ihn, im Terrarium der Bartagame-Echse gespiegelt, grübeln, ob das Tragen eines Schlafanzugs bereits ein Verstoß gegen die Hausordnung sein könnte, für den er uns des Centers verweisen darf. In unserem Viertel wechseln manche die Straßenseite. Ich werde im Bus von Jugendlichen fotografiert, und sie sehen nicht wie Modeblogger aus. Zwei alte Bekannte grüßen mich am Abend nicht in der Fußballkneipe. Als ich einen Mann nach der Uhrzeit frage, tut er, als hätte er nichts gehört, und eilt weiter.

Im Schlafanzug bin ich für den Tag zu müde, für die Nacht zu wach

Der Freund hatte recht. Im Pyjama bin ich ein Entlaufener, dem Gehege flüchtig, das absteckt, was gesellschaftlich akzeptabel ist. Die Menschen haben Angst. Ich bin eine Provokation, weil ich aussehe wie ein Leistungsgesellschaftsverweigerer, ein Testimonial der Faulheit.

Man schämt sich für mich, und ich schäme mich mit. Denn auch das merke ich schnell: Mir fehlt das Selbst­bewusstsein, um die permanenten Ausgrenzungen zu verwinden. Die Hoffnung, die Lässigkeit des Schlafanzugs werde mich schützen, erweist sich als trügerisch. Statt­dessen habe ich in ihm das Gefühl, den Menschen ein Geheimnis anvertraut zu haben, das sie überhaupt nichts angeht. Ich komme mir so verletzlich vor, als hätte ich ganz Hamburg-Altona in mein Schlafzimmer geladen. Der Businessanzug mag ein Schutzanzug sein, der Schlafanzug ist ein Schutzlosanzug. Ich bin eben nicht Julian Schnabel, sondern Wilhelm Buschs armer Onkel Fritz. Der Schlafanzug fühlt sich wie ein Streich an, den ich mir selbst gespielt habe.

Noch dazu scheint vom ihm eine narkotisierende Wirkung auszugehen. Einmal, es ist Donnerstag, bin ich sogar verkatert. Dabei habe ich am Mittwoch nichts getrunken. Das Outfit wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Ich brauche Mittagsschlaf, wo ich mich sonst zum Mittag­essen verabredet hätte. Es fällt mir schwer, Gedanken zu Ende zu denken, ich schaffe es kaum, irgendetwas zu schaffen. Groteskerweise werde ich in dem Schlafanzug nach und nach zu dem, den die Menschen in mir sehen, zum tagträumenden Hänger, einem unproduktiven Glied der Bruttosozialproduktskette. Wie viel Schaffenskraft man offenbar allein aus dem Vorgang des Anziehens zieht: Das Ablegen des Schlafanzugs und das Anziehen von Jeans und Hemd als der Moment, der den Tag konstituiert und in dem sich ausdrückt, hurra, heute wird ein Werk vollbracht. Eigentlich endet die Nacht nicht mit dem Sonnenaufgang, sondern mit dem Nachdenken darüber, was anzuziehen ist, welche Erwartungen der Tag an einen stellt und in welcher Garderobe man ihnen am ehesten entspricht. All das habe ich nicht mehr. Ich bin gefangen im Dazwischen, für den Tag zu müde, für die Nacht zu wach.

Ein Türklingeln holt mich zurück in die Gegenwart. Zwölf Uhr am Mittag, ich öffne dem Hermes-Boten.

Oh, Tschuldigung, brummt er.

Bitte?

Ich wollte Sie nicht wecken.

Hä? Ach so, nein, ich habe nicht geschlafen. Wissen Sie, ich bin im Schlafanzug, weil …

Aber da ist der Hermes-Bote schon wieder die Treppe hinabgestürmt, ich höre ihn was von ganz eng getakteter Tour rufen. Ich kann also nicht sagen, was ich ihm gerne gesagt hätte, nämlich dass ich keine modische Absonderlichkeit bin, sondern historisch exakt in der Tradition des Textils stehe, dass das ein Experiment ist, eines über Toleranz auch, und dass es damit ja wohl nicht weit her sei in Deutschland, der Heimat des Gemütlichen, wo Tennis­socken in Sandalen zu akzeptieren sind, der Tagesschlafanzug aber nicht, und dass ich, es geht jetzt richtig mit mir durch im Hausflur, vielleicht nicht dafür gemacht sei, Schlafanzug bei Tag zu tragen, dass aber vielleicht auch niemand dafür gemacht sei, nicht mal Julian Schnabel und Marc Jacobs, weil das Leben eben kein gemütliches Schlafzimmer sei, sondern ein kalter Tagebau, in dem man täglich kloppen muss für sein kleines Stück vom Glück.

Überhaupt, mir reicht es jetzt. Ich laufe ins Schlafzimmer und ziehe den Schlafanzug aus, am fünften Tag. Ich kann nicht mehr. Ich bin frei. Wenigstens bis zum Abend, wenn ich zum Schlafen wieder in den Schlafanzug steige.