Hast du schon einmal geküsst?
Angela ist 13, geboren am 6.7. 1974 in Mingir, Sowjetrepublik Moldau, Andrei ist zwei Jahre älter, geboren in Mingir an der Ostkante Europas.
Mit der Zunge musst du küssen, nicht mit deinen Zähnen, kichert das Mädchen.
Sie hat Blutgruppe AB Rh+.
Er hat Blutgruppe B Rh+.
Angela ist die jüngste von drei Geschwistern, Andrei der jüngste von sieben, 5000 Familien im Dorf. Ihr Vater fährt die Traktoren der Kolchose, seiner ist Melker. Wenn Andrei Chitanu die Kühe hütet, legt sich Angela Botezatu heimlich zu ihm. Die Schläge des Vaters nimmt er in Kauf.
Im Sommer Staub, im Winter Schlamm.
Angela, 15, der Schule entkommen, zieht ein Jahr lang zu ihrer Schwester Ala in die Ukraine, wird Pralinenmacherin. Andrei bleibt in Mingir, wartet und arbeitet, wo viele arbeiten, in der Kolchose, Andrei hat langes dunkles Haar, ein schmales Gesicht.
Am Tag, bevor er Rekrut der Roten Armee wird, schenkt er Angela eine blaue Schachtel. Für die Briefe, die ich dir schicken werde, jeden Tag einen.
Sie lacht, Angela glaubt ihm nicht, sie lacht und weint. 1.6.1990, sechs Uhr, Andrei steigt in den Bus. Vier Tage später der erste Brief: Jetzt bin ich kahl wie ein Apfel.
Angela nummeriert Andreis Briefe, legt sie in die blaue Schachtel, 22 Monate lang, 600 Briefe, Nr. 126: I LOV YOU.
Im April 1992 kehrt Andrei ins Dorf zurück, die Sowjetunion ist nicht mehr, er wohnt auf dem Hügel im kleinen weißen Haus der Eltern.
Ohne Arbeit am Ende von Europa.
Andrei Chitanu, 20, und Angela Botezatu, 18, reisen nach Sibirien, Angela legt, bevor sie geht, einen Zettel auf den Tisch: Mama, Papa, ohne Andrei will ich nicht sein.
Sieben Tage im Zug bis Solikamsk, vier Stunden im Boot bis Kicevo.
Andrei ist jetzt Flößer, Angela kocht für ihn, bringt ihm Wasser in den Wald, Brot, Kuchen, Küsse. Angela ist schwanger.
Am 6.9.1992 sind sie wieder in Mingir, Moldau, 28000 russische Rubel im Gepäck.
Am 7.9.1992 schickt Andrei, schmal und mutlos, die Zähne faul, einen Freund zu Angelas Eltern.
Andrei Chitanu bittet Sie um die Hand Ihrer Tochter Angela, er sagt, er liebt Angela wie sich selbst und werde Angela immer lieben und immer für sie sorgen.
Heirat in Weiß, 25.10.1992.
(Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite: "Ich kann dir helfen, du bist jung und gesund, 3000 Dollar für eine Niere.")
Sechs Tage später das Fest, zuerst bei ihren Eltern, dann bei seinen, im Garten steht ein Zelt, darin drei Reihen von Tischen, Andrei hat ein Schwein gekauft, hat es schlachten lassen, was verbraucht ist, ist verbraucht, fast täglich verliert das Geld an Wert.
Mit sechs anderen aus dem Dorf Mingir fährt Andrei nach Swerdlowsk, Russland, wird Stallknecht, Angela, 18 und schwanger, bleibt bei ihrer Mutter, füllt die blaue Schachtel.Zwei Monate später ist Andrei zurück, 7500 Rubel.
Am 15.3.1993 kommt ein Sohn zur Welt, sieben Wochen zu früh, 1400 Gramm, Angela gebärt im Krankenzimmer von Carpineni, einem Nachbardorf, ihr Kind ist zu schwach, sie bringt es in die Hauptstadt Chisinau, wacht an seinem Bett.
Ein drittes Mal reist Andrei nach Russland, 6000 Kilometer weit, wird Feuerwehrmann auf einer Ölbohrstation in Surgut.
Angela und ihr Sohn Ion leben bei Angelas Mutter. Andreis Eltern begreifen nicht, dass das Kind nach Angelas Vater heißt, nicht, wie es Brauch ist, nach dem Vater des Vaters. Er gehorcht ihr, flüstern sie, wie ein feiger Hund.
Oktober, Andrei kommt aus Russland.
Besser, wir wären in Sibirien geblieben, klagt Angela.
Andrei ist Tagelöhner, Maurer, Stallknecht, Holzfäller, Straßenbauer, Weinbauer, Gänsehirt, Traktorfahrer, Fabrikarbeiter, Kuhhirt. Die Geburt von Vasile, 8.10.1995. Andrei, 23, leiht sich Seife von seinen Eltern.
Wenn sie nicht weiter weiß, zündet Angela in der Kirche eine Kerze an und schämt sich, dass sie die Kerze nicht bezahlt.
Angela und Andrei ziehen in das kleine weiße Haus seiner Eltern an einer Straße ohne Namen, kein Wasser darin, kein Strom, die Toilette im Garten, belagert von Hühnern. Es geht den anderen nicht anders, sagt er, alle hier sind arm.
Alle außer Nina, denkt Angela.
Von Nina U. heißt es, sie sei reich geworden, weil sie eine ihrer Nieren verkaufte, Oktober 1998.
Ich kann dir helfen, du bist jung und gesund, 3000 Dollar für eine Niere, eine Woche bist du fort, eine kurze Woche in Istanbul, hast keine Schmerzen, viel Geld.
Tu’s nicht, sagt Andrei.
Ich will, sagt Angela. Ohne Grund hat der Mensch nicht zwei Nieren. Eine zu viel.
Wenn Andrei mich nicht fahren lässt, denkt sie, fahre ich heimlich.
Angela übergibt Nina U. ihren Personalausweis, Tage später hat sie ihren Reisepass, A1486930, Augenfarbe graugrün, Größe 155 cm.
Nina U. sagt: In vier Wochen geht’s los, in fünf bist du wieder hier.
Tu’s nicht!, bittet Andrei.
Und Angela wird schwanger.
(Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite: "Drei Stunden lang liegt Andrei Chitanu in einem Zimmer, Schläuche im Arm, dann schieben sie sein Bett in einen hellen Saal.")
Schwangere nehmen wir nicht, sagt Nina U. Dann treibe ich ab.
Womit? Du hast kein Geld.
Und wenn du es mir vorschießt vom Lohn für meine Niere?, bettelt Angela Chitanu, 24 Jahre alt.
Ich bin keine Bank.
Es geht den anderen nicht anders, sagt Andrei, hier sind alle arm und leben doch.
Kein Geld für Butter.
Angela, wütend, verbrennt seine 600 Briefe, Nr. 126 will nicht brennen, I LOV YOU.
Im April 1999 bietet Andrei, an Angelas Stelle, Nina U. eine Niere an. Angela sagt: Tu’s nicht, wahrscheinlich hast du recht, irgendwann wird alles besser.
Manchmal arbeitet Angela drei oder vier Stunden lang in der Konservenfabrik von Mingir, Geld für eine Glühbirne in der Küche, für einen Spiegel im Schlafzimmer.
Tu’s nicht.
Am 25.6.1999, Freitagnachmittag, fährt Nina U. im Auto vor.
Andrei, in einer halben Stunde brechen wir auf, komm zum Dorfplatz.
Andrei legt Angela, die in der Konservenfabrik ist, einen Zettel auf den Tisch: Bin zur Arbeit gegangen!
In den Kleidern, die er am Leib hat seit einer Woche, steigt Andrei Chitanu ins Auto von Nina U., sie fahren nach Krivoy Rog in der Ukraine, bleiben drei Tage in einem Hotel, fahren nach Zaporojie, fliegen nach Istanbul, zwei Stunden weit, 29.6.1999, Ankunft um 13:05.
In Istanbul bringen sie Andrei in eine Wohnung, er soll viel trinken, seine Nieren spülen. Ein Arzt misst Andrei den Puls, nimmt ihm Blut, Blutgruppe B Rh+, hört Herz und Lunge ab. Am nächsten Morgen führen sie Andrei, 27, in ein Hotel, das er nicht verlassen darf, nachts schaffen sie ihn in ein Krankenhaus, nehmen wieder Blut, bringen ihn zurück.
Angela ahnt, wo Andrei ist, nachts stellt sie eine Kerze ans Fenster des kleinen weißen Hauses. Euer Papa hat eine Arbeit gefunden, erzählt sie den Söhnen, in ein paar Tagen ist er zurück.
Andrei hat eine Arbeit gefunden, sagt sie ihrer Mutter.
Am Freitag, 2.7.1999, ruft Andrei Chitanu einen Nachbarn an, der in der Straße ohne Namen lebt, Mingir, Republik Moldau, ärmstes Land von Europa, und verspricht ihm, am Sonntag wieder anzurufen, am Sonntag um die gleiche Zeit, Angela soll am Sonntag in der Nähe sein, um mit ihm zu reden. Die Arbeit hier läuft bestens, sagt Andrei, man verdient gutes Geld.
Am Samstag darf er nichts essen, kein Wasser trinken vom Hahn.
Am Sonntag, 4.7.1999, holen sie ihn zur Operation, früher Morgen in Istanbul. Drei Stunden lang liegt Andrei Chitanu in einem Zimmer, Schläuche im Arm, dann schieben sie sein Bett in einen hellen Saal. Dort, auf einem Tisch, liegt betäubt eine Frau, Sommersprossen. Jemand beugt sich über ihn und sagt auf Russisch: Zähl bis zehn. Andrei kommt bis vier.
Meine Schuld, dass er gegangen ist, denkt Angela im Haus des Nachbarn, der ein Telefon besitzt.
(Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite: "Ich schicke dir Geld, so viel, wie du noch nie gesehen hast.")
Andrei erwacht und weiß nicht, wo er ist. Man befiehlt ihm zu trinken, zu gehen, jemand besieht sich die Wunde, reinigt und pflegt. Fünf Tage nach der Operation, schaffen sie Andrei in die Wohnung eines Mannes, der nur Türkisch spricht.
Samstag, 10.7.1999, sechs Tage nach der Operation, Andrei Chitanu steigt in den Bus, der Mann, der nur Türkisch spricht, gibt ihm 2900 Dollar, Andrei zählt das Geld und wagt nicht, die fehlenden 100 Dollar zu verlangen. Zwei Tage im Bus von Istanbul nach Bulgarien, nach Rumänien, nach Moldau. Das linke Bein schmerzt, alles schmerzt. Aus Angst, man sähe ihm seinen Reichtum an, steckt Andrei das Geld in die Unterhose.
Angela sitzt vor dem Fernseher, als sie seine Schritte im Garten hört, es ist Nacht. Sie will ihn berühren. Andrei zeigt ihr das Geld. Angela schiebt es weg, umarmt den Mann.
Er sagt: Versteck das, damit es keiner sieht.
Das Bein schmerzt, der Bauch, der Rücken.
Zwei Tage später steht jemand vor dem Haus, bietet Arbeit an, Straßenbau, Andrei Chitanu fragt: Wann?
Sofort.
Andrei geht mit, schaufelt Schotter, wagt nicht, das Hemd auszuziehen.
Waschmaschine, Fernseher, Telefon, Kleider, Schuhe, Wandteppiche, Farbe für den Gartenzaun, grün und weiß, tausend Dollar schicken sie Angelas Schwester Ala, die in der Ukraine lebt und Geld braucht, um gefälschte Papiere zu kaufen für die Reise nach Italien.
23.8.1999, Angela gebärt den dritten Sohn. Schmerzt Andrei der Rücken, legt er sich aufs Bett, Angela massiert.
Kein Geld für einen Arzt.
Staub im Sommer, Schlamm im Winter.
Angela Chitanu arbeitet in der Konservenfabrik, Andrei auf dem Bau, auf dem Feld, im Garten, ein Gewitter zerstört das Gemüse, die Weinreben hinter dem Haus, Sommer 2003.
Manchmal ruft Angelas Schwester Ala aus Italien an, schickt in einem Umschlag 20 Euro.
Ich gehe nach Italien, beschließt Angela. Wozu?, fragt Andrei.
Wozu!, schreit sie, wozu!
Sie kennt einen Mann, Cousin eines Cousins, der Pässe und Visa verkauft, 2100 Euro für die Flucht aus Mingir.
Wozu?
Ich schicke dir Geld, so viel, wie du noch nie gesehen hast.
Aber.
Denk an die Kinder, sagt sie.
Andrei verkauft seine Kuh, das Schwein, drei Hühner, den Kühlschrank.
Anfang November 2003, Angela Chitanu steigt in den Bus, es ist früher Morgen, noch dunkel. In ihrer Tasche ein Foto der Söhne, des Mannes, ein kleines Kreuz, ein rumänischer Pass, Nr. 04827096, Aniko Solaghi, geboren am 31.8.1976 in Satu Mare. Angela lernt auswendig, kommt bis Györ, Ungarn. Handschellen, zwei Wochen Haft, 60 Euro Buße, Aktenzeichen B2309/2003/1.
(Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite: "Bring mir meine Frau nach Hause.")
24.11.2003, Andrei hört im Garten ihre Schritte.
Zwei Tage später ruft er den Cousin ihres Cousins an, verlangt die 2100 Euro zurück, bekommt 1500.
Besser, du bleibst hier, sagt Andrei.
Damit der Schlamm die Schuhe der Söhne nicht füllt, trägt Andrei die Kinder, wenn sie zur Schule müssen, auf seinem Rücken bis zum Fuß des Hügels, auf dem das kleine weiße Haus steht, trägt sie wieder auf den Hügel, wenn sie von der Schule kommen.
11.3.2004, Angela Chitanu steigt in den Bus, Svetlana Boskarkova, Russin, Papier und Reise kosten 2500 Euro. Verhaftung im Flughafen von Istanbul, mit 20 jungen Frauen sitzt Angela in einem Raum, jemand besitzt ein Handy.
Komm nach Hause, bittet Andrei.
Er wartet, hört nichts mehr von Angela, vier Tage lang. Andrei droht dem Cousin ihres Cousins mit der Polizei.
Bring mir meine Frau nach Hause.
Der Cousin fährt im Auto vor und gibt Andrei das Geld zurück, 100 Euro zu viel. Andrei müsse, sagt der Cousin, sofort nach Istanbul reisen, Angelas moldauischen Pass dabei, erst wenn die Türken Angelas echten Pass einsähen, ließen sie Angela frei. Andrei wählt die Nummer des unbekannten Handys, erreicht Angela im Gefängnis.
Nein, befiehlt sie, die wollen dich verarschen, man hielte dich hier für einen Schieber, würde dich sofort verhaften.
25.3.2004, Angela Chitanu ist in Mingir zurück, Nachbarn tuscheln.
Der Cousin des Cousins bietet eine dritte Reise an.
Nein!, schreit Andrei.
30.7.2004, Svetlana Andreeva, 2700 Euro. Im Auto nach Odessa, im Flugzeug nach Wien, nach Mailand. Dutzende von Chinesen sind im Flieger, fast nur Chinesen, Angela denkt, sie sitze im falschen Flugzeug, sie beginnt zu schwitzen und wagt nicht zu fragen. Andrei steht im Haus auf dem Hügel, wartet, dass jemand anruft, die Polizei oder Angela, Ankunft in Mailand um 18:50. Angela Chitanu, 30, fällt in die Arme ihrer älteren Schwester Ala, Angela zittert und schluchzt, kann nicht reden.
Die Schwester sagt: Du siehst aus wie eine Bauernmagd auf Hochzeitsreise.
Ala führt Angela durch die Läden der Stadt, kleidet sie ein. Ala sucht Angela eine Arbeit und findet keine, eine erste Woche lang, eine zweite, eine dritte, Angela leiht sich von Ala 100 Euro und schickt sie Andrei.
Mein erster Lohn, Liebster.
Andrei reist in die Kreisstadt Hincesti, zum ersten Mal in seinem Leben betritt er eine Bank, bittet um ein Konto.
Ala überlässt Angela ihre Stelle, in Vercelli, eine halbe Stunde von Mailand entfernt, pflegt Angela ein altes Ehepaar. Angela kocht, putzt, wäscht, mäht Rasen und schneidet Rosen und Glyzinien, sie jätet, düngt, 800 Euro im Monat, 600 davon schickt sie nach Mingir, Moldau. Angela wohnt im Haus der Herrschaft, denkt nachts an die Straße ohne Namen.
Angela kauft ein Handy.
Verliert der Nussbaum schon sein Laub?
Die Kinder fragen, wann du wiederkommst. Sobald es uns gut geht, sagt Angela Chitanu in Vercelli, Region Piemont.
Vasile, der Mittlere, schickt Angela eine Karte, Blumen darauf und eine Sonne, unterschrieben auch von seinen Brüdern: Wenn Regentropfen an unsere Fenster klopfen, kommen sie uns vor, als wären sie deine Tränen. Wir wünschen dir viel Glück und Gesundheit.
(Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite: "Manchmal, wenn es ihr gut geht, bewegt sie ihren rechten Arm, zehn Zentimeter weit.")
Das Wohnzimmer, Andrei, bekommt einen Boden aus hellem Laminat, Birke, die Wand, links von der Tür, übermauerst du bitte mit Backstein, damit sie aussieht wie ein riesiger Kachelofen, braun, hellbraun, kauf lange Vorhänge, wasche sie bitte, bevor du sie aufhängst, und bügle sie, sonst machen sie Falten. Andrei legt eine Wasserleitung ins Haus, er baut, was Angela wünscht, ein Badezimmer, eine neue Küche mit Herd und Ofen, er reist in die Hauptstadt Chisinau und kauft einen Computer, trägt die Söhne, wenn sie zur Schule müssen, auf seinem Rücken bis zum Fuß des Hügels, trägt sie wieder hinauf, damit der Schlamm ihre Schuhe nicht füllt.
Und neue Fenster, Andrei.
Nachbarn tuscheln.
Angela schickt Blumensamen aus Italien. Die Blumen wachsen nicht.
Der Kleinste, sechs, schläft nachts neben Andrei, 33.
Gestern hat er gefragt, wo er schlafen wird, wenn du wieder hier bist.
Was hast du geantwortet?
Unter dem Bett.
Und dann?
Hat er gelacht, sagt Andrei.
Ich habe Angst, sagt sie.
Wovor?
Dass alles irgendwann aufhört.
Was alles?, fragt er.
Sieben Mal fährt Andrei nach Hincesti und rahmt seine faulen Zähne mit Gold.
Am 10.11.2005, Donnerstag, 6:15, schickt Angela Andrei eine SMS: Hier alles gut, wünsche einen schönen Tag, Kuss.
Angela recht Laub im Garten ihrer Herrschaft, sie schwitzt, zieht die Jacke aus. Gegen neun Uhr abends legt sie sich ins Bett, kann nicht schlafen, sie friert. Kopfschmerzen, Schmerzen wie noch nie. Sie will aufstehen, kann nicht, Angela erbricht, ruft auf dem Handy die Tochter des Ehepaares an, das sie pflegt, und stottert ins Gerät. Angela nimmt wahr, wie man sie auf eine Trage legt, Koma.
Ohne Grund ruft Andrei Angela an, zehn Uhr nachts, 11 Uhr, er versucht es drei oder vier Mal. Am Morgen erreicht er Angelas Schwester, Ala wimmert, Angela habe sich sehr erkältet, bleibe wohl für Wochen im Krankenhaus.
Pavia, Policlinico San Matteo, Viale Golgi 19.Hirnblutungen, subarachnoidal, gleichzeitig epidural, sehr selten. Angela hört zu atmen auf, Luftröhrenschnitt, AB Rh+, Maschine.
Ärzte öffnen Angelas Schädel.
Andrei baut das Badezimmer fertig, die Wanne, wie Angela gesagt hat, an der rechten Wand.
Schlamm.
Koma.
Die Abteilung für öffentliche Sicherheit im italienischen Innenministerium stellt Angela Chitanu eine Aufenthaltsbewilligung aus, L508669, 28.11.2005, Motivo del soggiorno: Cure mediche.
Zwei Tage vor Weihnachten erwacht Angela aus dem Koma, gelähmt an Armen und Beinen. Sie verlangt ein Telefon, spricht mit leiser hoher Stimme.
Ist es warm im Haus?
5.1.2006, Andrei steigt in den Bus nach Bukarest, Rumänien, Brot im Gepäck, Wurst, eine Flasche Wasser. Vor der italienischen Botschaft stellt er sich in die Schlange Wartender, jemand sagt: Du hast ja keine Papiere! Aber eine Einladung!, antwortet Andrei. Der andere lacht. Andrei kauft eine Telefonkarte am Kiosk, ruft die Botschaft an, vor der er steht, sagt, er sei eingeladen vom italienischen Staat, seine gelähmte Frau zu besuchen. Sie holen Andrei ins Haus, geben ihm das Ticket, Abflug noch am gleichen Tag, 16:10, Andrei nimmt ein Taxi, erreicht das Flugzeug nach Milano Malpensa.
Im Gästehaus der italienischen Caritas isst er sein Brot, die Wurst aus Mingir, es ist Nacht.
Sie lächelt und weiß nichts zu reden.
Er streichelt ihren lahmen warmen Arm.
Erzähl von zu Hause, sagt sie.
Alles sauber und neu, sagt er.
Und die Kinder?
Drei Knaben.
Angela lächelt.
Nichts zu machen, flüstern die Ärzte.
Zwei Wochen lang ist Andrei in Italien und reist täglich an Angelas Bett. Die Zigaretten, die er kauft, fünf Mal so teuer wie in Mingir, raucht er nur zur Hälfte, löscht sie, raucht die zweite Hälfte später.
Nichts zu machen.
Verlegung ins Centro di Riabilitazione Villa Beretta in Costa Masnaga bei Como, Via N. Sauro 17. Manchmal kommt die Schwester zu Besuch, Ala, manchmal die Tochter des Ehepaars, dem Angela Chitanu gedient hat. Die Kinder schicken Zeichnungen.
Manchmal, wenn es ihr gut geht, bewegt sie ihren rechten Arm, zehn Zentimeter weit. Die linke Hand, verkrümmt zu einer Flosse.
(Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite: "Manchmal schreit Andrei.
Nachts lauscht er, ob Angela noch lebt.")
8.2.2007, zwei italienische Ärzte begleiten Angela Chitanu in einem Ambulanzflugzeug nach Chisinau. Gesandte des moldauischen Gesundheitsministeriums sind am Flughafen und versprechen das Beste. Sie bringen Angela ins Institutul de Neurologie si Neurochirurgie, str. Corolenco 2, blocul 1, Abteilung Reanimation, dort, unter drei Bewusstlosen, bleibt sie zehn Tage lang liegen, hungrig, durstig, ungewaschen. Man schiebt sie auf die Intensivpflegestation, sieben Kranke darin, eine Schwester, die am Computer Karten spielt, es ist dunkel und stickig, wer Angela besuchen will, muss einen Schutzmantel kaufen, eine Haube, Angela liegt auf dünnem Tuch, darunter harter Plastik, niemand, der sie wäscht.
Andrei bringt Brot und Söhne.
Manchmal rufen die italienischen Ärzte an. Alles bestens, sagt die Krankenschwester.
Druckstellen an Rücken und Gesäß.
Sie hat Druckstellen, lärmt Andrei.
Ist normal, sagt die Schwester, nicht unsere Schuld.
Verlegung ins Kreiskrankenhaus von Hincesti, März 2007. Einmal fällt der Strom aus, acht Stunden lang, Angela hat Angst zu ersticken.
Das war, sagt ein Arzt, eine gute Übung, irgendwann musst du ja wieder selber atmen. Es geht mich zwar nichts an, sagt der Arzt zu Andrei, aber, unter Männern gesagt, wenn ich du wäre, sähe ich mich nach einer anderen um.
Lungenentzündung. Andrei geht nicht mehr nach Hause.
Am 21.3.2007 verbreitet das Jurnal de Chisinau das Gerücht, Nachbarn des Ehepaars Chitanu im Dorf Mingir, Landkreis Hincesti, vermuteten, die Lähmung der Frau stamme nicht von spontanen Hirnblutungen, sondern von Schlägen der italienischen Herrschaft, die Angela beim Stehlen erwischten.
Man befiehlt Andrei Chitanu in die Hauptstadt, ein Polizist sagt: Schreib auf, was sie alles gestohlen hat.
Ende April 2007, an einem Samstag, lädt Andrei, 35, Angela, 33, gemagert auf ihr Skelett, in das Auto eines Freundes, er schiebt Kissen in ihren Rücken, legt Decken um, bindet Angela an den Sitz und holt sie nach Mingir, das Loch an ihrem Gesäß, grau-es faules Fleisch, reicht bis zum Knochen, Decubitus. Andrei Chitanu trägt Angela, geborene Botezatu, ins Haus, er legt sie aufs Bett, rechts die langen glatten Vorhänge, links die Wand aus braunem Backstein, am Boden helles Laminat, Birke.
Ein Paradies, sagt sie mit hoher leiser Stimme.
400 Lei Behindertenrente im Monat, 23 Euro.
Manchmal stellt Andrei eine Maschine an und saugt den Schleim aus Angelas Luftröhre. Er streichelt ihren Rücken, wechselt ihre Windeln. Die Söhne waschen die Lumpen und hängen sie hinters Haus.
Manchmal schreit Andrei.
Nachts lauscht er, ob Angela noch lebt.
Eines Morgens, Anfang Juli 2008, liegt sie kalt und blau im Bett.
Andrei, um Angela zu begraben, verkauft die Badewanne.
Der Älteste, Ion, 16, rettet Angelas Kamm unter sein Kissen, daran ihre Haare.
Fotos: Irene Steppan; afp