»Stadtplaner wissen zu wenig von den Bedürfnissen der Menschen«

Seit mehr als dreißig Jahren erforscht der US-Soziologe Richard Sennett das urbane Zusammenleben. Im Interview spricht er über die Tücken und Chancen von WGs, seine Zeit in einer Kommune - und darüber, was alle Städte von Neapel lernen können.

Richard Sennett plädiert für mehr Orte der Begegnung in Städten. Da wäre ihm auch das Blechdach einer WG recht.

SZ-Magazin Herr Sennett, Sie pendeln zwischen Ihren Lehrstühlen in New York und London. Leben Sie an einem Ort in einer Wohngemeinschaft?
Richard Sennett: Ich bin völlig ungeeignet für Wohngemeinschaften. Ich muss meinen ersten Kaffee am Morgen allein trinken. Da ertrage ich nicht einmal Familie um mich.

Wie definiert die Soziologie den Unterschied zwischen Familie und Wohngemeinschaft?
Sie haben ihn selbst genannt: Eine Wohngemeinschaft bildet man mit Menschen, die nicht zur Familie gehören.

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Die Miete kann man sich doch auch mit Verwandten teilen.
Ja, aber so eine Kooperation findet in Wohngemeinschaften zwischen Menschen statt, die nicht miteinander blutsverwandt sind. In Familien gibt es weniger Notwendigkeit zu Kooperation. Es fällt schwer, den Cousin auf die Straße zu setzen, der die Miete schuldig bleibt. Man zögert dagegen nicht, das mit jemandem zu tun, mit dem man nicht verwandt ist.

Haben Sie nie in einer WG gewohnt?
Doch, als Student, von 1966 bis 1969, in einer typischen Sechzigerjahre-Kommune. Wir machten alles gemeinsam, kochten zusammen und stritten uns über das Für und Wider der Revolution. Der Streit war nicht lösbar, und so gingen wir schließlich alle auseinander.

Waren Sie damals für oder gegen eine Revolution?

Ich war nicht sonderlich politisch interessiert, aber eher dafür als dagegen. Wir waren drei Musiker in der Kommune, wenn wir nachts übten, konnten die anderen nicht schlafen, sie beschimpften uns drei deswegen als Konterrevolutionäre. Ich mochte unsere WG trotz der politischen Debatten. Für mich war die Zeit in der Kommune allerdings nur eine Episode, für die anderen ein politisches Projekt. Wir waren so um die 12, 14 Leute, alle weiß, und unsere Wohnung lag in 337 Western Avenue, Cambridge, Massachusetts, inmitten einer schwarzen Wohngegend. Unsere Nachbarn konnten mit dem Begriff Kommune überhaupt nichts anfangen, die hielten das für eine Art ausgedehnte Sexparty. Warum leben diese reichen weißen Kinder zusammen? Das konnte nur einen Grund haben: Sex. Und Drogen. Dabei waren die Sechzigerjahre in den USA viel zu puritanisch für Gruppensex.

Was halten Sie als Soziologe von Wohngemeinschaften?
Für ältere Menschen könnte das gemeinsame Zusammenleben eine große Errungenschaft darstellen. Es gibt ein vielversprechendes Experiment in East London, wo alte Menschen mit Studenten und Behinderten zusammenleben. Mich interessieren diese Art von Wohngemeinschaften, weil ich selbst alt bin. Ich möchte in 15 Jahren nicht im Altersheim landen. Ich wünsche mir, dass junge Leute bei mir einziehen und mir Zigaretten und all das besorgen, was man in einem normalen Altersheim nicht bekommt. Das gemeinschaftliche Wohnen ist eine große Innovation und wird in England zunehmend praktiziert. Natürlich geht diese Entwicklung einher mit der Vergreisung der Gesellschaft.

Die Versorgung alter Menschen ist doch die klassische Aufgabe der Familien?
In China hat man gerade ein Gesetz verabschiedet, das es zum Verbrechen erklärt, sich nicht um seine alten Eltern zu kümmern. Wie konnte es dazu kommen? In Shanghai etwa sind in den letzten zwanzig Jahren viele Wohnheime mit kleinen Apartments gebaut worden, die Bewohner haben mit der Tradition gebrochen und ihre Eltern vergessen. Dabei haben sich die Leute diesen Lebensstil gar nicht selbst ausgesucht. Sie vermissen das Leben in ihren alten Innenhöfen. Aber die Stadtplanung hat das Sozialleben der Bewohner einfach den Verbesserungen im sanitären Bereich geopfert. Das ist ja auch verständlich. In Russland mussten sich die Bewohner von kommunalen Wohnungen sogar Bad und Küche teilen. Nicht umsonst verbindet man den Begriff Wohngemeinschaft mit Armut. Politisch belastet ist er auch.

Die Tradition der Wohngemeinschaften ist doch viel älter. In London gab es schon im frühen 19. Jahrhundert gemeinsame Wohnhäuser für verschiedenste Handwerker.
Die Idee ist sicherlich älter. Aber solche Häuser stellten doch eher eine Ausnahme dar. Der Bedarf an Wohnraum für Wohngemeinschaften nahm erst im späten 19. Jahrhundert merklich zu, mit der Entwicklung zur Kleinfamilie. In der traditionellen Großfamilie teilten sich mehrere Brüder und Schwestern ein Haus. Aber die Wohnform wurde aufgegeben, als sich die Familienform veränderte. Irgendwann wurden die riesigen Wohnflächen in den englischen Wohnhäusern aus dem 18. Jahrhundert in alle möglichen seltsamen Grundrisse unterteilt, für Kleinfamilien und bald auch für Wohngemeinschaften aus Leuten, die keine Kleinfamilie hatten. Wohngemeinschaften entstanden nicht durch eine Änderung im Lebensstil, sondern weil sich die Familienstruktur änderte.

Sie reden jetzt von der englischen Mittelklasse?
In der unteren Mittelklasse, da machte man das. Großfamilien, die sich Hausbesitz gerade eben so leisten konnten.

Wann sind auch arme Menschen aus der Großfamilie geflüchtet?
In New York markiert das New Law Tenement Ende des 19. Jahrhunderts den Wechsel von der Groß- zur Kleinfamilie. Mit dem Gesetz wollte man zum ersten Mal sozialen Wohnungsbau für Arme schaffen. Die entstandenen Wohnungen in der Lower East Side sahen alle gleich aus und besaßen nur zwei kleine Schlafzimmer. Das Problem war, dass Familien einzogen – polnische, chinesische, griechische Einwanderer –, die die Wände herausnahmen und genau das taten, was die Architekten ja vermeiden wollten: Sie schliefen im Wohnzimmer. Aber die Familien waren schlicht zu arm, um in einer Kleinfamilie zu leben. Erst heute, mit der Gentrifizierung der Lower East Side, werden diese Wohnungen in den Originalzustand versetzt und die Wände wieder eingezogen. Die Leute können sich diese Art von Architektur jetzt zum ersten Mal leisten.

Sie schreiben gerade ein Buch über die Geschichte der Stadtentwicklung und Ihr Konzept der offenen Stadt. Was läuft schief in der herkömmlichen Stadtplanung?
1990 war ich in Berlin bei einem Stadtplaner. Er hatte ein riesiges Modell auf dem Tisch. Irgendwann zog er die Decke weg und sagte: Sehen Sie mal, das ist der neue Alexanderplatz, schon alles fertig! Natürlich war sein Plan völlig undemokratisch, er wollte einfach ein fertiges Modell auf den Stadtteil setzen – das funktioniert im modernen Kapitalismus, lässt aber die Betroffenen außen vor. Der Stadtplaner, der glaubt, die Lösung für alle Probleme zu besitzen, ist der Grund allen Übels. Außerdem neigen die Leute in den Behörden dazu, nur das zu bauen, was sie schon kennen. Schulen, die aussehen wie den Sechzigern, als sie selbst zur Schule gingen. Sie können sich keinen Klassenraum mit Bildschirmen vorstellen, in dem der Lehrer nicht vorn vor seinen Schülern steht. Auch viele Architekten sträuben sich, beim Entwurf mit den Bewohnern zusammenzuarbeiten.

»Ich glaube an das Konzept einer offenen Stadt. Sie ist aber ein Langzeitprojekt, ich werde ihre Umsetzung nicht mehr erleben«

Richard Sennett wurde 1943 als Sohn russischer Emigranten in Chicago geboren. Er lehrt Soziologie in London und New York. In seinen Büchern setzt er sich kritisch mit Arbeit, Handwerk und dem Leben in Städten auseinander. Sennett ist mit der Soziologin Saskia Sassen verheiratet und gilt als ausgezeichneter Cellist. Derzeit schreibt er an seinem Buch »Die offene Stadt«.

Wie sieht denn aus der Sicht des Soziologen die perfekte Wohnung aus?
Das ist genau die Frage, die nach einer geschlossenen, festgelegten Antwort verlangt, nach einem fertigen Plan, dabei wäre eine neue Art zu denken viel hilfreicher, ein nichtlineares, offenes Denken mit unfertigen Orten.

Also gut: Was müsste eine gute Wohnung in Ihren Augen besitzen?
Sie besäße eine flexible, unfertige Form mit Platz für mehr oder weniger Begegnung. Die Bewohner sollten die Räume jederzeit verändern können. Die englischen Stadthäuser aus dem 18. Jahrhundert für die Großfamilien sind sehr flexibel, sie gleichen einer Schuhschachtel, die Wände lassen sich einfach versetzen, heute sind die Räume multifunktional. Die Einfachheit der Form erleichtert Flexibilität.

Wie sieht die Zukunft des Wohnens aus?
Ich suche nach neuen Wohnformen, nicht Wohngemeinschaften, aber Häusern, die in einem größeren Kontext gemeinsames Wohnen und das Entstehen von öffentlichem Raum erleichtern. Meine Kollegen und ich wollen den urbanen Wohnblock neu erfinden, in dem öffentlicher Raum funktioniert, ohne die Privatsphäre Einzelner zu verletzen. Mit Gemeinschaftsgärten und genügend Platz für Kinder, die von den Nachbarn abwechselnd beaufsichtigt werden. Die Entwicklung zum Alleinwohnen hat sich als schlecht herausgestellt. Wenn man in seinen Zwanzigern steckt, ist es in Ordnung, zur Untermiete zu wohnen. Besser wäre allerdings, wenn Menschen gemeinsam leben können und auch etwas für die Gemeinschaft tun. Und wenn der private wie öffentliche Raum durchlässiger wäre.

Was verstehen Sie unter öffentlichem Raum?
Jeden Platz, an dem sich Menschen begegnen. Solche Orte funktionieren im gängigen sozialen Wohnungsbau nicht. Begegnung findet in der Regel nur mehr am Treppenaufgang statt, der ja eigentlich privater Raum ist, aber dort hängen die Leute rum. Wir überlegen deshalb auch, wie sich Treppenaufgänge freundlicher gestalten lassen. Im Beirut der Neunzigerjahre waren Treppenhäuser der sicherste Ort eines Wohnhauses, die Fassade mit den dahinterliegenden Wohnräumen wurde ja ständig beschossen. Deswegen haben die Menschen im Treppenhaus gekocht und geschlafen. Bei unseren Projekten in London versuchen wir, eine friedlichere Version solcher Treppenhäuser zu schaffen.

Interessieren sich Stadtplaner und Architekten zu wenig für Treppenhäuser?
Wir alle stellen uns bei der Planung nicht allzu geschickt an, weil wir zu wenig von den Bedürfnissen der Menschen wissen. Kein Design kann alle Probleme einer Gesellschaft lösen, kein Design wird Juden und Moslems zu Freunden machen, aber gewisse Dinge sind durchaus machbar. Auch wenn Heidegger meinte, dass keine Stadt so geschaffen sein könne, dass Menschen gut darin leben könnten.

So pessimistisch sind Sie? Sollen wir alle aufs Land fliehen?
Ich bin doch überhaupt nicht pessimistisch, eher im Gegenteil: Ich glaube an das Konzept einer offenen Stadt. Sie ist aber ein Langzeitprojekt, ich werde ihre Umsetzung nicht mehr erleben.

Gibt es keine Stadt, die Ihrem Sinne nach schon heute einigermaßen offen wäre?

Ich spreche lieber von Gemeinden als von ganzen Städten. Eine Gated Community mit Schranke und Wachpersonal wäre das Extrem eines geschlossenen Systems. Orte, die poröser sind und mehr öffentliches Leben erlauben, wären etwa viele Stadtviertel in Istanbul und große Teile von Neapel.

London und München sollten von Neapel lernen?
Natürlich ist diese Stadt das reinste Chaos, aber zumindest funktionieren die öffentlichen Plätze für die Armen dort. Wir sollten uns auch an Bogotá orientieren und unseren Nahverkehr als öffentlichen Raum überdenken: Der Bürgermeister von Bogotá hat Bushaltestellen als Treffpunkt etabliert, wo die Menschen Kaffee trinken und mit Stadtangestellten reden. Die offene Stadt lässt sich mit sehr einfachen Sachen reali-sieren. Teile von Berlin vor dem Ersten Weltkrieg waren ebenfalls gut entworfen und sozial gut durchgemischt. Heute übrigens wieder. Ja, Berlin ist das, was ich unter einer offenen Stadt verstehe. Viel offener als etwa Frankfurt.

Sind Familien im Vergleich zu Wohngemeinschaften nicht auch sehr geschlossen?
Nein, das Konzept von der Kleinfamilie ähnelt vielleicht einer bewachten Wohnanlage, aber mit einer Scheidungsrate von 50 Prozent, mit ganz neuen Familienarten wie etwa der gleichgeschlechtlichen, ist die Familie schon lange kein geschlossenes System mehr.

In Deutschland gibt es inzwischen mehr Einpersonenhaushalte als Kleinfamilien oder Wohngemeinschaften.
Dafür gehen Menschen, die allein wohnen, öfter aus, kaufen ein, gehen in Bars und Restaurants. Die einzigen Singles, die zwangsläufig vereinsamen, sind alte Menschen.

Funktioniert Stadtplanung auch deshalb nicht, weil gute Nachbarschaft im Kapitalismus keinen Wert darstellt?
Natürlich. Investoren und Fondsgesellschaften wissen in der Regel so gut wie nichts über die Gegend, in der sie bauen. Die Sache wird durch das »Flipping« erschwert: Ein Investor beginnt den Bau und verkauft seine Anteile noch vor der Fertigstellung weiter. Man sollte gesetzlich verfügen, dass jeder Investor seine Anteile an einem Neubau mindestens drei Jahre halten muss, aber allein die Debatte hat die Investoren schon einmal aufschreien lassen: So können wir nicht arbeiten!

Das Konzept der Wohngemeinschaften fußt auch auf dem Ideal guter Gemeinschaft.
Ja, das ist die soziale Seite, aber Wohngemeinschaften sind andererseits ein gutes Geschäft für jeden Vermieter geworden. Und dann gibt es noch die Wohngemeinschaften, die richtig weh tun: die dreißigjährigen Kinder in Italien, die immer noch bei ihren Eltern leben, weil sie sich keine eigene Wohnung leisten können. Ich weiß von meinen italienischen Studenten, wie furchtbar es wird, wenn man 25 ist und Sex haben möchte, ohne dass die Mama der oder dem Geliebten am nächsten Morgen Kaffee macht und Fragen stellt. Wenn ich da an meine Mutter denke, um Himmels willen, nein, lieber nicht.

Gibt es Menschen, mit denen man partout nicht zusammenleben kann?
Die gibt es. Ich bin bei meiner Mutter in einer Sozialsiedlung aufgewachsen, Cabrini Green in Chicago. Da gab es einen Mann, der einfach nicht aufhörte, aus dem Fenster zu pinkeln.

Ließ er nicht mit sich reden?
Oh, Sie sind ein Kind der Aufklärung, ich verstehe. Aber nein, man konnte ihm nicht sagen: Bitte hör auf, aus dem Fenster zu pinkeln. Er war ernsthaft gewalttätig.

Sind Sie ihn losgeworden?
Ja, durch Gruppendruck. Man klopfte an seine Tür, man schrie ihn an, irgendwann gab er auf. Das war sehr hässlich, aber Gruppenzwang war die einzige Möglichkeit. Cabrini Green war eine sehr arme Gegend, die Behörden haben sich nicht um Beschwerden gekümmert. Kooperation zwischen Menschen, die sich nicht mögen, die anders sind und dennoch zusammenleben müssen, ist äußerst schwierig. Wie schafft man es in einer Gemeinde oder Stadt, die Leute davon zu überzeugen, sich mit den Problemen der anderen zu befassen, wenn sie sich nicht mit den anderen befassen wollen? Das ist Londons Problem mit den Muslimen, die nichts mit dem Rest der Stadt zu tun haben wollen. Viele muslimische Gemeinden schotten sich ab. Wie soll man so eine verhärtete Front aufbrechen? Ich glaube, dass ein bestimmtes räumliches Design öffentlicher Plätze verhindern könnte, dass sich einige Leute ständig von ihren Mitbürgern zurückziehen.

Der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin glaubt, das Teilen von Autos, dem Arbeitsplatz, der Wohnung ermögliche eine neue wirtschaftliche wie gesellschaftliche Revolution.
Das denkt er? Wie nett, recht idealistisch und ein bisschen dumm. Die Leute haben sich schon immer Dinge geteilt, wenn sie sich die nicht allein leisten konnten. Das ist eine ganz alte Überlebensstrategie, keine neue Gesellschaftsform.

Glauben Sie nicht daran, dass Wohngemeinschaften große Chancen bieten, Ideen zu entwickeln oder gemeinsame Ideale zu verfolgen?
Das tun doch die wenigsten. Die meisten Menschen wohnen zusammen, weil sie sich das Alleinewohnen nicht leisten können.

Sie sprachen davon, sich später einmal junge Leute in die Wohnung zu holen. Wollen Sie die nicht um sich haben, um in Gesellschaft zu sein?
Natürlich möchte ich Kontakt haben. Aber in erster Linie werde ich Hilfe brauchen. Die Freuden des Teilens gibt es, aber eine Wohngemeinschaft ist nicht allein eine Frage des Lebensstils, sondern ein Werkzeug, um zu überleben.

Mit wem würden Sie im Alter lieber zusammenwohnen: mit Ihrer Familie oder mit fremden jungen Leuten?
Wahrscheinlich mit jungen Leuten. Das ist keine abstrakte Frage für mich: Ich verbringe jedes Wochenende mit meinem Stiefsohn, seiner Partnerin und dem Enkelkind. Ihnen zuliebe würde ich lieber mit fremden Leuten leben.

(Fotos: Roderick Aichinger; Théo Gosselin)