SZ-Magazin Herr Mitsidis, Sie befinden sich gerade in Sarajevo. Woher kommen Sie, und wohin reisen Sie als Nächstes?
Harry Mitsidis: Aus Saudi-Arabien, davor war ich in Armenien, der Ukraine, Japan, Korea und Griechenland. Vier Monate am Stück unterwegs, länger als sonst. Jetzt geht es erst mal nach Hause, das ist in Südengland. Ein bisschen auf dem Sofa sitzen, fernsehen, nichts tun.
Und wie lange bleiben Sie dort?
Ein paar Tage, denke ich. Bis ich merke, dass es dort für mich nichts Interessantes zu tun gibt. Dann ist es wieder Zeit zu gehen.
Was sagt Ihre Familie dazu, wenn Sie so schnell wieder weg sind?
Oh, das ist nicht leicht, nicht für sie, nicht für mich. Aber das Leben ist eben ein Kompromiss, und in Beziehungen geht es doch darum, dass man Verständnis füreinander hat, gerade wenn man sehr unterschiedlich ist. Außerdem bin ich am liebsten allein unterwegs, ich mag es nicht, wenn jemand mir in meine Eindrücke reinredet.
Aber zwischendurch in ein warmes Zuhause zu kommen, das brauchen selbst Sie?
Das sind die Momente, in denen ich meine Sehnsucht aktiviere, wieder und wieder. Wenn man so will, ist es ein Sehnsuchts-Kreislauf: Rucksack packen, losziehen, heimkehren, Rucksack auspacken, Socken waschen, feststellen: Ich habe so vieles noch nicht gesehen. Rucksack packen …
In Ihren Reisepässen befinden sich weit über 1300 Stempel, laut verschiedener Ranglisten sind das mutmaßlich mehr, als jeder andere Mensch auf der Welt gesammelt hat. Sie haben alle 193 UN-Länder bereist, viele mehrmals. Wird die Sehnsucht als Vielreisender größer oder kleiner?
Sokrates hat gesagt: Ich weiß, dass ich nichts weiß. So ist es auch mit dem Reisen. Je mehr du gesehen hast, desto eher begreifst du, wie viel da draußen ist, das du noch nicht kennst. Die Sehnsucht wird eher größer. Es ist ein fließender Übergang zur Sucht.
Vielreisende werden oft dafür kritisiert, dass es ihnen nur ums Sammeln der Länder und Stempel gehe und nicht darum, einen Ort wirklich kennenzulernen. Es gibt auch Diskussionen darüber, wann ein Land als bereist gilt: Reicht ein Flughafenaufenthalt? Muss man mindestens eine Nacht dort verbracht haben?
Das ist kompliziert. Einerseits reist jeder anders, auch wenn er als normaler Tourist unterwegs ist. Die einen nennen es Reise, wenn sie in Ägypten in einem umzäunten Clubhotel zwei Wochen am Pool liegen. Die anderen haben Ägypten erst bereist, wenn sie vor jeder Pyramide standen. Andererseits hängt es stark vom Reiseziel ab: Von San Marino können Sie innerhalb von fünf Stunden einen ziemlich guten Eindruck bekommen, allein für Missouri brauchen Sie mehrere Wochen. Für mein Gefühl hat man ein Land bereist, wenn man eine starke Erinnerung mitnimmt. Einen bleibenden Eindruck, das zählt. Ich war heute in Sarajevo in einem Museum über den Krieg, das mich unerwartet heftig bewegt hat. Das werde ich nicht vergessen.
Mit Ihrer Reisegemeinschaft »NomadMania« haben Sie die Welt in 1301 Regionen unterteilt, die man bereisen muss, wenn man alles gesehen haben will. Haben Ihnen die offiziellen Länder nicht mehr gereicht?
Als ich mit den 193 UN-Ländern durch war, war ich 36. Ich dachte: Okay, jetzt war ich angeblich überall, aber eigentlich habe ich von der Welt gar nichts gesehen. Stellen Sie sich vor, ein Amerikaner kommt auf seiner Weltreise in Nürnberg und an Schloss Neuschwanstein vorbei. Hat er dann Deutschland gesehen? Weiß er, wie es an der Nordseeküste aussieht oder im Saarland? Wenn sich ein Nordfriese und ein Niederbayer unterhalten, haben doch selbst die Probleme, einander und ihre Kulturen zu verstehen. Gemeinsam mit einem anderen Vielreisenden aus Polen habe ich deshalb ein System entwickelt, in das die Bevölkerungsgröße, die wirtschaftliche Stärke, die Geografie und unterschiedliche kulturelle Gruppen eines Landes eingeflossen sind. So kamen wir auf diese 1301 Regionen, die unserer Meinung nach einen guten Überblick über die Welt geben.
In wie viele Regionen haben Sie Deutschland unterteilt?
Zwanzig. Wir haben uns weitgehend an die Bundesländer gehalten, aber allein in Bayern gibt es ja große Unterschiede zwischen Norden und Süden.
Sie waren im Herbst in der Ukraine. Warum reist man zum Spaß in ein Land, in dem Krieg herrscht und in dem andere Menschen um ihr Leben fürchten?
Reisen ist nicht immer Spaß. Ich habe auch schon den All-inclusive-Urlaub in der Dominikanischen Republik gebucht und zehn Tage an Cocktails genippt. Aber es gibt eine feine Grenze zwischen Urlaub, in dem es vor allem darum geht, alles so leicht wie möglich zu haben, und dem Reisen, das einem hilft, die Welt besser zu verstehen. In der Ukraine war ich mit einer Gruppe unterwegs, ein Bekannter vor Ort hatte alles für uns organisiert, sodass uns das Risiko minimal erschien. Wir haben ein Dorf sehr weit im Osten besucht, das unter russischer Besatzung komplett zerstört und dann zurückerobert wurde. Die Menschen dort haben uns von ihren Erfahrungen und Sorgen erzählt, wir haben zugehört und ihre Geschichten mitgenommen. Ich würde mich sehr täuschen, wenn diese Leute nicht froh waren, dass da jemand kam und sich für ihr Schicksal interessierte.
Auf einer Reise wurden Sie verhaftet.
In Jemen, aber da war ich auch sehr dumm und habe das Land ohne gültiges Visum betreten. Passiert mir nicht mehr, ich halte mich strikt an die Ortsregeln.
Wohin würden Sie immer wieder reisen?
Das ehemalige Jugoslawien zieht mich besonders an, ich kann gar nicht genau sagen, warum. Vielleicht sind es die Menschen und die wechselhafte Geschichte dort. Ich spreche mittlerweile Kroatisch, keine Ahnung, wie das passiert ist. Aber ich muss alle paar Monate dorthin. Und mindestens einmal im Jahr bin ich in einem afrikanischen Land.
Und ohne was würden Sie nie eine Reise antreten?
Pass, Visum, Laptop, Klamotten für eine Woche, vielleicht meine Kamera, das war’s. Alles andere ist Ballast.