»Nicht zu sehr zu drängen, aber auch nicht wegsehen«

Was tun, wenn eine Freundin oder ein Nachbar in einer missbräuchlichen Beziehung feststeckt? Vier Fachleute erklären, wie man Sorgen anspricht, warum es sinnvoll sein kann, nach einem Päckchen Butter zu fragen und wann man die Polizei rufen sollte.

Foto: PixelVista

Jede vierte Frau in Deutschland erfährt in ihrem Leben Partnerschaftsgewalt. »Zählen Sie mal durch bei sich im Büro: Eins, zwei, drei, vier, eins, zwei, drei, vier – da wird Ihnen angst und bange«, sagt Iris Brand. Sie hat selbst Partnerschaftsgewalt erlebt und ist Gründerin der Aufklärungsinitiative #DieNächste. Die meisten Opfer von Partnerschaftsgewalt sind weiblich, die meisten Täter männlich. Häufig ist die Rede von je 80 Prozent. Was dabei oft übersehen wird: Einige Täter stellen taktische Gegenanzeigen, wenn ihre Partnerinnen sich wehren. Diese Anzeigen fließen in die Statistik ein und können sie verwässern. Außerdem kommen Frauen häufiger mit schweren Verletzungen und psychischen Schäden in Kliniken als Männer. Hohe Dunkelziffern, insbesondere, was queere Betroffene und Täter*innen angeht, machen es umso schwieriger, verlässliche Zahlen zu nennen.

Vielen Angehörigen von Gewaltopfern fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden, und sie sind sich unsicher, wie sie helfen können. Das SZ-Magazin hat Iris Brand und drei weitere Fachleute getrennt voneinander um Rat gefragt und die Antworten zusammengetragen: Psychologe Björn Süfke, Sozialwissenschaftlerin Claudia Igney und Ben, systemischer Berater bei Strong!, der bayerischen Fachstelle für queere Menschen, die Gewalt oder Diskriminierung erfahren haben. Aufgrund von Bedrohungen hat die Fachstelle beschlossen, dass ihre Angestellten nur unter Vornamen öffentlich auftreten. Ein Foto veröffentlicht die Redaktion aus selbigem Grund nicht. Bens voller Name ist der Redaktion bekannt.

Björn Süfke ist Psychologe und arbeitet unter anderem beim Hilfetelefon Gewalt an Männern.

Foto: Alexander Bentheim

Claudia Igney ist Sozialwissenschaftlerin und Referentin der Geschäftsstelle des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe.

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Iris Brand hat Partnerschaftsgewalt erlebt und daraufhin mit Sarah Bora und Anna Sophie Herken die Initiative #DieNächste gegründet. Sie ist Managerin bei einem Großkonzern.

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Woran erkenne ich, dass jemand in seiner Partnerschaft Gewalt erfährt – gibt es Muster, die sich ähneln?
Claudia Igney, Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe: Es gibt kein Patentrezept. Aber wenn ich merke, dass eine Person vermehrt Verabredungen absagt, häufig krank ist, Verletzungen hat oder müde, erschöpft und verängstigt wirkt, sollte ich mir Gedanken machen. Warnzeichen sind außerdem, wenn ihr Partner immer wissen will, wo er oder sie ist, verbietet, sich mit anderen zu treffen, oder die Person abwertet und die beiden ihre Konflikte nicht auf Augenhöhe austragen.

Iris Brand, #DieNächste: Ich habe inzwischen mit hunderten betroffenen Frauen gesprochen, und alle berichten das Gleiche: Die Gewalt schleicht sich nahezu unbemerkt ein. Eine Gewaltbeziehung beginnt nicht mit dem Schlag auf die Neun, sondern mit Liebe. Bei mir war es genauso. Erst dachte ich, mein Partner sei ein Geschenk des Himmels. Er wollte jeden Moment mit mir verbringen, was zu Beginn einer neuen Beziehung häufig normal ist. Anfangs war die Beziehung pures Glück. Seine Neckereien wirkten zunächst freundlich, seine Eifersucht tarnte er als Kompliment: Ich sei so schön, da müsse er sich Sorgen machen. Eine Ortungsapp installierten wir mit der Begründung, dann wisse immer jemand, wo ich sei. Nach ein paar Monaten begann er, mich permanent anzurufen und zu stalken – jedoch getarnt als Zuneigung und Sorge um mich. Er zeigte zunächst nicht, dass es ihm um Kontrolle ging. Wenn ich mit einer Freundin essen war, wollte er Fotos – »weil er mich vermisste«; wenn ich beruflich nach Berlin musste, flog er mir nach und saß abends in der Hotellobby – »um mich zu überraschen«. Schließlich hatte er die ersten verbalen Ausraster, warf mit Gegenständen um sich – aber auch da dachte ich noch, er sei eben sehr emotional, zumal er sich immer entschuldigte. Wenn jemand behauptet, er wäre beim ersten Anzeichen gegangen, sage ich: Blödsinn! Gewalt kann jeder Frau passieren und hat nie etwas mit den Opfern zu tun, immer nur mit den Tätern.

»Eine Gewaltbeziehung beginnt nicht mit dem Schlag auf die Neun, sondern mit Liebe«

Björn Süfke, Hilfetelefon Gewalt an Männern: Bei Gewalt denken wir schnell an ein blaues Auge, aber oft sehen wir keine Verletzungen, weil der Täter das Opfer dazu bringt, diese zu vertuschen. Deswegen ist Rückzug ein wichtiger Hinweis. Bei männlichen Betroffenen kommt hinzu, dass wir manche Warnzeichen nicht als solche erkennen, weil sie andere sind als bei Frauen. Manche legen zum Beispiel ein hohes Risikoverhalten an den Tag, sie nehmen Drogen oder fahren zu schnell. Gerade bei jungen Männern wird sowas schnell als jugendlicher Leichtsinn abgetan, aber dahinter kann auch passive Suizidalität stecken.

Ben, Fachstelle Strong!: Klassische Rollenbilder und patriarchale Machtverhältnisse greifen in queeren Beziehungen weniger oder anders, als in heterosexuellen Beziehungen. Aber ein Machtgefälle kann auch entlang anderer Faktoren entstehen, etwa am finanziellen Status, dem Aufenthaltsstatus oder geschlechtlicher oder sexueller Identität. Bisexuellen Menschen zum Beispiel wird oft unterstellt, dass sie promiskuitiv seien; das verwenden Täter*innen als Legitimation dafür, sie zu kontrollieren. Wer noch nicht geoutet ist, für den ist womöglich ein Zwangsouting eine Bedrohung. Die Mechanismen, die hinter der Gewalt stecken, können also andere sein, aber die Anzeichen decken sich: Rückzug, Kontrolle, manchmal auch sichtbare Verletzungen.

Wie spreche ich meine Sorgen um die betroffene Person am besten an?
Igney: Man sollte nicht direkt mit dem Holzhammer loslegen. Wenn man sagt: »Ich glaube, du bist in einer missbräuchlichen Beziehung, da musst du was machen«, führt das eher zu Abwehr. Bei einer Freundin kann man stattdessen vorsichtig den Eindruck teilen, es gehe ihr nicht gut, und fragen, ob sie erzählen mag. Es kann ja auch sein, dass etwas ganz anderes dahintersteckt, ein Todesfall in der Familie oder Stress auf der Arbeit. Die Nachbarin trifft man vielleicht mal auf der Treppe, dann kann man versuchen, ein unverbindliches Gespräch zu beginnen und so eine Gelegenheit zu schaffen, seine Sorgen anzusprechen.

Ben: Wenn ich die Beziehungsperson nur runtermache, wird die betroffene Person sich kaum öffnen. Stattdessen kann ich so etwas sagen wie: »Hey, ich beobachte diese und jene Dynamik bei dir in der Beziehung, und für mich ist das gewaltvoll. Wie erlebst du das? Ich mache mir Sorgen und bin für dich da, wenn du darüber sprechen willst.« Gewalt in queeren Beziehungen wird tabuisiert, auch in der Community, nach dem Motto: Bei uns gibt es sowas nicht. Deswegen ist es wichtig, der Person zu zeigen: Das kann auch in deiner Beziehung passieren, und ich glaube dir, wenn du davon erzählst.

Süfke: Männern fehlen oft intensive Freundschaften, in denen sie über Gefühle reden. Das macht es umso schwieriger, ins Gespräch zu kommen. Gerade deshalb würde ich nicht so schnell lockerlassen. Ich würde zunächst schildern, was mir aufgefallen ist, und dann aktiv nachfragen: Ist es was in der Partnerschaft? Geschieht da Gewalt? Dadurch helfe ich meinem Gegenüber, diese Hürde zu überwinden. Über die Sachebene einzusteigen, funktioniert bei Männern oft gut. Wie sie sich fühlen, kann ich später fragen.

Brand: Lange Zeit wollte ich gar nicht, dass jemand nachfragt, und hätte vermutlich gelogen. Ich liebte meinen Partner ja. Generell denke ich: Sätze wie: »Geht’s dir in letzter Zeit nicht gut? Du schaust erschöpft aus, und das meine ich nicht böse – ich mache mir Sorgen« sind die richtigen.

Was, wenn mein Gegenüber abblockt?
Süfke: Angehörige müssen lernen, mit der eigenen Hilflosigkeit umzugehen. Wir empören uns schnell und sagen: »Das geht gar nicht, das musst du anzeigen!« Aber dadurch bauen wir Druck auf. Viele Menschen, die Partnerschaftsgewalt erleben, wollen nicht, dass der Partner oder die Partnerin in den Knast geht. Die wollen, dass er oder sie aufhört zu schlagen.

Brand: Man sollte signalisieren, dass man nicht verurteilt und seiner Freundin immer zur Seite steht. Man kann zum Beispiel sagen: »Ich möchte, dass du weißt, dass du mich immer anrufen kannst, wenn irgendetwas ist.« Was man wissen muss: Wenn man als Betroffene mit einer Freundin über die erfahrene Gewalt spricht, hat man das Gefühl, seinen Partner zu verraten. Eine Gewaltbeziehung zu verlassen, ist unglaublich schwierig.

»Wenn man als Betroffene mit einer Freundin über die erfahrene Gewalt spricht, hat man das Gefühl, seinen Partner zu verraten«

Igney: Als Unterstützerin sollte man immer respektieren, dass die Betroffenen selbst entscheiden, wie sie handeln. Nicht zu sehr zu drängen, aber auch nicht wegzusehen, ist ein Balanceakt.

Ben: Für queere Menschen ist die Beziehung oft ein Schutzraum vor einer Gesellschaft, in der sie Diskriminierung erfahren. Und Partnerschaftsgewalt passt insbesondere nicht in die Utopie friedlicher Beziehungen zwischen Frauen. Das erschwert, sich einzugestehen, dass man Gewalt erfährt – und erhöht das Risiko, dass einem nicht geglaubt wird, wenn man darüber spricht. Zugleich schweigen viele Betroffene bezüglich der Gewalt, die sie erfahren, weil sie nichts Negatives über Menschen sagen wollen, die ohnehin schon Feindseligkeiten erfahren. Als Angehörige sollte man vermitteln, dass man versteht, dass die betroffene Person unterschiedliche Gefühle fühlt und selbst entscheidet, wie sie handelt.

Welche Hilfe kann ich anbieten?
Brand: Das Wichtigste ist, wirklich da zu sein und nicht nur mit Worten, sondern mit Taten zu helfen. Man kann zum Beispiel anbieten, bei der Suche nach einer Wohnung oder einem Therapeuten zu unterstützen, kleine Erledigungen übernehmen und immer ein offenes Ohr haben, wenn die Freundin über ihr Trauma sprechen möchte. Wichtig ist auch, die betroffene Freundin immer wieder zu ermutigen, sich zu treffen und gemeinsam Dinge zu unternehmen. Das sind oft die einzigen Momente der Normalität, die Gewaltbetroffene haben – und schafft Möglichkeiten, dass sie sich anvertrauen.

Igney: Informieren Sie sich, welche Fachberatungsstellen es gibt. Vielleicht geben Sie der betroffenen Person einen Flyer oder bieten an, einen Termin für sie zu vereinbaren und sie zu begleiten oder währenddessen auf ihre Kinder aufzupassen. Eine weitere Möglichkeit ist, kleine Alltagsaufgaben zu übernehmen – mal eine Suppe zu kochen zum Beispiel. Aber letztlich ist total unterschiedlich, was Betroffene brauchen und auch, was man selbst leisten kann. Deshalb fragt man am besten nach und überlegt gemeinsam. Man darf auf seine Grenzen achten und muss auch nicht alles selbst machen: Vielleicht kann ein weiterer Freund kochen, während man mit der Betroffenen bei der Beratung ist.

Süfke: Bei Männern geht es oft darum, ihnen die innere Hürde zu nehmen, es überhaupt zu probieren. Viele vierzig-, fünfzigjährige Männer haben noch nie im Leben ein psychosoziales Hilfsangebot genutzt. Es passt nicht in das gesellschaftliche Bild vom starken Mann.

Ben: Queere Personen hadern oft mit der Polizei oder Beratungsstellen, weil sie befürchten, hier nur auf Verständnis für und Wissen über heterosexuelle Beziehungen zu treffen oder mit einem konservativen Weltbild konfrontiert zu werden. Das macht das informelle Hilfesysteme, also Freundinnen, umso wichtiger.

Igney: Nach einer akuten Gewaltsituation brauchen manche Betroffene Kontakt und Umarmungen, andere müssen erst einmal für sich sein. Es ist wichtig, das zu respektieren und nicht zu sagen: Das ist das Beste für dich, das mache ich jetzt einfach.

Wann sollte ich andere informieren oder mich sogar an die Polizei wenden?
Igney: Auch hier gibt es kein Patentrezept. Wenn man in der Nachbarwohnung etwas hört und sich nicht sicher ist, was los ist, kann man zum Beispiel klingeln und nach einem Päckchen Butter fragen. Wenn man mitbekommt, wie jemand bedroht oder geschlagen wird, sollte man die 110 wählen und sich nicht selbst in Gefahr bringen. Die Polizei ist dafür da, gefährliche Situationen zu unterbrechen, und kann den Täter der Wohnung verweisen. Außerdem kann sie ein Kontakt- und Näherungsverbot aussprechen. Wenn es in der Familie Kinder gibt und ich vermute, dass es denen nicht gut geht, kann ich das Jugendamt informieren. Aber grundsätzlich würde ich raten, das Gespräch mit der Betroffenen zu suchen, Unterstützung anzubieten und auch damit zu leben, wenn sie diese Angebote erst einmal nicht annimmt.

»Wenn man in der Nachbarwohnung etwas hört und sich nicht sicher ist, was los ist, kann man zum Beispiel klingeln und nach einem Päckchen Butter fragen«

Süfke: Grundsätzlich ist immer erst die allerletzte Lösung, hinter dem Rücken des Betroffenen zu agieren – wodurch es für Angehörige oft besonders herausfordernd wird. Daher dürfen auch sie sich an die Hilfetelefone wenden, wenn sie sich unsicher sind, wie mit einer Situation am besten umzugehen ist. Gut ein Drittel der Anrufe, die wir bekommen, sind daher auch von Angehörigen oder Fachkräften, die sich informieren wollen.

Brand: Viele Leute ignorieren Gewalt in ihrem Umfeld. Niemand will glauben, dass in seiner Nachbarschaft tatsächlich ein Mann seine Frau schlägt. Nach dem Motto: Aber er grüßt ja immer so freundlich. Als mein Partner mich zum ersten Mal geschlagen hatte, ging eine Freundin mit mir direkt zur Polizei. Ohne sie wäre ich nicht gegangen, ich hatte viel zu viel Angst. Rückblickend betrachtet, war das gut, denn dadurch wurde die Strafverfolgung angestoßen. Generell sollte natürlich jede betroffene Person selbst entscheiden, ob sie eine Anzeige und ein häufig langwieriges Gerichtsverfahren durchsteht, denn das kann retraumatisierend sein und kostet viel Energie.

Weitere Infos und Hilfe für Betroffene, Angehörige und gewaltausübende Personen 
- Bundesweites Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 116 016 (kostenlos); hilfetelefon.de
- Adressen von Fachberatungsstellen bundesweit auf der Website des bff: https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/hilfe-vor-ort.html
- Bundesweite Frauenhaus-Suche: frauenhaus-suche.de
- Fachstelle Strong!: 0800 00 112 03 (kostenlos); strong-community.de
- Beratungsstelle für Frauen*, Lesben, Trans* und queere Menschen gewaltfreileben: gewaltfreileben.org
- Hilfetelefon Gewalt an Männern: 0800 1239900 (kostenlos); maennerhilfetelefon.de
- Adressen von Beratungsstellen für gewaltausübende Personen: Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt e.V.: www.bag-taeterarbeit.de/beratungsstellen

Was, wenn ich den Impuls habe, den Täter zur Rede zu stellen?
Igney: Das ist heikel, denn womöglich eskaliere ich die Situation dadurch und bringe die betroffene Person erst recht in Gefahr. Wenn der Täter allerdings ein Freund ist, kann ich es in einem ruhigen Moment vorsichtig versuchen. Besonders zwischen Männern kann es funktionieren, wenn einer den anderen beiseitenimmt und sagt: »Du, was ich da gesehen habe, finde ich nicht in Ordnung.« Man sollte dann aber auch einen Sicherheitsplan machen und zum Beispiel darauf achten, dass die Freundin nicht allein zuhause ist, wenn ihr Partner nach dem Gespräch nach Hause kommt. Grundsätzlich finde ich es besser, sich mit der Betroffenen abzusprechen.

Was tue ich, wenn der oder die Betroffene sich trennen will?Igney: Für Betroffene, denen über längere Zeit Partnerschaftsgewalt angetan wurde, ist die Trennung häufig der gefährlichste Moment. 2023 haben 155 Frauen ihr Leben durch einen Partner oder Ex-Partner verloren. Wenn er sagt: »Ich bringe dich um, wenn du mich verlässt«, ist das ernstzunehmen. Dann hilft ein Notfallplan. Einen solchen können die Kolleginnen und Kollegen der Fachberatungsstellen oder Frauenhäuser mit den Betroffenen erarbeiten. Wann kann ich am besten aus der Wohnung? Wo kann ich hin? Auch ein Notfallkoffer mit den wichtigsten Dokumenten und ein paar Klamotten gehört dazu. Als Freundin kann ich kurzfristig einen Schlafplatz anbieten.

Ben: Es ist ganz wichtig, dass Betroffene überhaupt einen Ausweg haben, und man diesen mit ihnen plant und organisiert.

Und wie reagiere ich, wenn sie die Beziehung nicht verlassen?
Brand: Im Schnitt dauert es sieben Jahre, bis eine Frau eine Gewaltbeziehung beendet. Auch ich habe mehrere Anläufe gebraucht. Man liebt das intensive Gefühl der Anfangszeit und denkt, man müsse nur selbst irgendwas anders machen, damit die Beziehung wieder so toll wird. Täter manipulieren ihre Opfer und reden ihnen genau dies ein. Es gibt viele unterschiedliche Gründe, wieso Frauen ihren gewalttätigen Partner nicht verlassen. Scham, Angst und Abhängigkeit beispielsweise. Frauen schweigen, weil sie sich schämen, Opfer zu sein, und Angst vor den Reaktionen ihres Umfelds haben. Viele Frauen sind finanziell von ihren Männern abhängig und verlieren durch eine Trennung ihre soziale Stellung. Außerdem drohen Männer auch damit, den Frauen die Kinder zu nehmen, oder mit dem Tod. Ich hätte mir mehr Verständnis gewünscht: Mir wurde beispielsweise gesagt, ich sei selbst schuld, weil ich meinem Expartner mehrfach verzieh. Das ist anmaßend und eine Täter-Opfer-Umkehr. Einige Freunde drohten außerdem, mir die Freundschaft zu kündigen, wenn ich nicht gehe oder ihm erneut verzeihen würde. Vermutlich waren sie verzweifelt, und Druck aufzubauen war der einzige Hebel, den sie sahen. Aber das ist für Betroffene das Schlimmste, was man tun kann. Außerdem bringt es nichts: Die Betroffenen treffen den Täter weiter, verschweigen es aber, um ihre Freunde nicht zu verlieren. Diese Lügen aufrechtzuerhalten, raubt ihnen noch mehr Kraft.

Wie kann man kurz nach einer Trennung für die Betroffenen da sein?
Igney: Nach der Trennung stehen viele Frauen vor einem enormen Berg an Herausforderungen. Da kann man zum einen praktisch helfen, zum Beispiel beim Umzug. Denn selbst wenn die Betroffene in der Wohnung bleiben könnte, ist das nicht für alle eine Option: Man muss sich klarmachen, dass das der Tatort war. Auch bei der Sicherheitsplanung kann man helfen: Vielleicht braucht sie noch eine Sperre beim Einwohnermeldeamt, vielleicht ein neues Handy, weil auf dem alten Spyware ist. Wenn jemand durch einen Partner Gewalt erfahren hat, sind gute Freundschaften oder auch nachbarschaftliche Beziehungen außerdem ein wichtiges Gegengewicht, um wieder Vertrauen in andere Menschen fassen zu können. Auch für Kinder, die Gewalt miterlebt haben, sind sichere Bezugspersonen und professionelle Unterstützung sehr wichtig, damit das Erlebte ihren Lebensweg möglichst wenig prägt.

Brand: Indem man präsent ist. Ich habe tolle Freunde: Als ich ging, boten sie mir an, zu ihnen zu kommen, oder halfen mir, meine neue Wohnung einzurichten.

Und wie bietet man langfristig Unterstützung?
Brand: Hören Sie zu. Wenn Betroffene hundertmal über ihre Erfahrungen sprechen möchten, ist das eben so. Dann kann man nicht nach dem fünfzigsten Mal sagen, es reicht. Auch wenn Betroffene die Zähne zusammenbeißen, den Alltag meistern und beruflich erfolgreich sind, können sie schwer traumatisiert sein.

Ben: Ich finde es wichtig, Gesprächsangebote zu machen, indem ich sage: »Ich kann mir vorstellen, dass dir das noch nachhängt, wie geht es dir damit?« Gleichzeitig sollte ich die Grenzen meines Gegenübers wahren. Jeder Mensch geht anders mit potenziell traumatischen Erfahrungen um, zwei Drittel verarbeiten sie gut. Es kann also stimmen, wenn jemand sagt: »Es geht mir voll okay.« Es ist allerdings immer hilfreich, das Erlebte professionell einzuordnen, gerade wenn die Dynamiken so speziell sind wie bei Partnerschaftsgewalt in queeren Beziehungen. Ich würde Betroffene also ermuntern, zu einer Beratung zu gehen.

Süfke: Gerade bei Männern besteht die Gefahr, dass sie das Erlebte totschweigen und als eigenes Versagen verarbeiten. Man sollte ihnen also anbieten, darüber zu sprechen. Auch, um mit ein bisschen Abstand herauszufinden: Welche Anzeichen habe ich vielleicht übersehen? Was kann ich lernen?

Wie kann man Partnerschaftsgewalt gesellschaftlich und politisch begegnen?
Igney: Da sind wir alle gefragt. Wenn ich auf dem Schützenfest einen frauenfeindlichen Witz höre, sollte ich dagegen Stellung beziehen. Insbesondere von Männern wünsche ich mir, dass sie bei sowas einschreiten – sie können viel bewirken. Aber eigentlich geht es schon damit los, das Kinder lernen müssen, wie man Konflikte löst. Und Jugendliche darin unterstützt werden, einvernehmliche Sexualität und gleichberechtigte Beziehungen zu leben. Politisch brauchen wir einen Ausbau das Unterstützungssystems, Fortbildungen für alle, die mit dem Thema in Berührung kommen, etwa bei der Polizei und Justiz, und Reformen beim Sorge- und Umgangsrecht.

Brand: Indem man darüber spricht. Häusliche Gewalt ist kein Wohlfühl-Thema, aber es gehört an jeden Küchentisch und in jede Freundesrunde. Denn nur wenn man über diese Missstände spricht, entsteht Bewusstsein dafür, wie verbreitet häusliche Gewalt ist – sie ist täglich, nebenan. Politisch muss Gewalt gegen Frauen viel entschiedener bekämpft werden. Fakt ist: Ein Femizid, den man nicht rassistisch instrumentalisieren kann, findet kaum politisches Gehör. Nach religiös motivierten Gewalttaten äußern sich Politiker aller Parteien medienwirksam. Was jedoch ist mit den mindestens 23 Frauen, die allein dieses Jahr von ihren Partnern umgebracht wurden? Da ruft niemand den nationalen Notstand aus. Damit lässt sich kein Wahlkampf gewinnen.