Hat er ihr Rendezvous vergessen? Oder kommt er absichtlich nicht?
Die Schmetterlinge im Bauch lösen sich irgendwann auf. Es gibt sie offenbar nur in den Körpern jüngerer Menschen. Liebeskummer, verstanden als die Qual unerwiderter Liebe, nicht als Trennungsschmerz nach dem Ende einer langen Beziehung, ist ein Gefühl, das mit einem bestimmten Alter – in den späten Fünfzigern? In den Sechzigern? – zu verschwinden scheint. In der Öffentlichkeit kommen liebeskranke Senioren, die ihre Umwelt wie Teenager wochen- und monatelang mit ihrer Leidensgeschichte strapazieren, nicht vor. Die Darstellung von Sex im Alter ist zwar spätestens seit Andreas Dresens Film Wolke 9 kein Tabuthema mehr - der Liebeskummer von Menschen über sechzig schon.
Aber stimmt die öffentliche Absenz dieses Gefühls wirklich mit den realen Gegebenheiten überein? Bringen die stark anwachsenden Scheidungsraten, Trennungen nach jahrzehntelanger Ehe oder auch die Möglichkeiten, im Internet einen Partner zu finden, nicht eine Vielzahl von Rentnern und Großeltern hervor, die sich noch einmal unglücklich verlieben? Die das ganze Drama aus Hoffnung, kurzzeitiger Erfüllung und Abweisung durchleiden müssen wie ihre 14-jährigen Enkel? Man muss nur die Internetforen der Frauenzeitschriften oder die Kommentare auf den Online-Dating-Seiten ansehen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie verbreitet diese Geschichten tatsächlich sind. Von Menschen wie Karin, 63, einer ehemaligen Altenpflegerin aus einer Kleinstadt bei Hannover, zweifache Großmutter.
Sie sitzt in ihrer Wohnung in einem Zweifamilienhaus, und die rötlichen Haare leuchten ein wenig in dem von der Herbstsonne nur schwach erhellten Zimmer; es ist dieses Rot mit einem Stich ins Rosé, das beim Färben grauer oder weißer Haare entsteht. Eigentlich freut sich Karin jedes Jahr auf den Herbst, sie mag die Farben: Ihr Sofa im Wohnzimmer ist mit einem dunkelroten Überwurf dekoriert, die beiden kleinen Teppichläufer sind orange-rot gestreift, auf dem Couchtisch steht eine Vase mit gelben Astern. Doch in diesem Jahr hat sie keinen Blick für die Schönheiten der Jahreszeit. Sie kann nicht aufhören, an diesen einen Tag im August zu denken, als sie ihn an der Haltestelle der Regionalbahn zum ersten Mal traf.
Sie hat nächtelang geweint, weil der Mann, den sie über das Internet kennengelernt hatte, nach zwei Treffen nichts mehr von sich hören ließ. Karin, eine 63-jährige ehemalige Altenpflegerin und zweifache Großmutter, leidet unter Liebeskummer – ein Gefühl, von dem viele glauben, dass es bei Menschen ihres Alters nicht mehr vorkommt.
Es ist die erste Begegnung mit einem Mann, den Karin über die Internet-Community 50plus-Treff kennengelernt hat. Als sie ihn die Rolltreppe heraufkommen sah, erzählt sie, »traf es mich wie ein Schlag«. Die beiden gehen ins nächstbeste Café. Sie nimmt seine Hand, sagt: »Spürst du, wie ich zittere?« Er sagt, ihm gehe es genauso, es sei Wahnsinn, was da gerade passiere. Doch die Wirkung dieses magischen Moments hält nur eine halbe Stunde lang an. Denn als Karin erwähnt, dass sie bald wieder nach Hause fahren müsse, weil ihre beiden Enkelsöhne warten, für die sie vorübergehend die Pflegschaft übernommen hat, erkaltet sein Interesse deutlich. Sie verabreden sich noch ein-, zweimal, beim letzten Telefonat sagt er: »Mach dir keine Sorgen«, aber sie hört nichts mehr von ihm. Seitdem kreisen Karins Gedanken, kreist sie selbst nur noch um ihr Handy, stundenlang, Abend für Abend. Kein Anruf, keine SMS. »Er sagte doch bei unserem ersten Treffen: Ich verzehre mich nach dir«, erinnert sich Karin. Den Beweis blieb er ihr schuldig.
Karin leidet unter Liebeskummer. Sie hat zwar zwei Scheidungen hinter sich, eine schwere Krebserkrankung, ist Mutter zweier erwachsener Kinder, aber dennoch ist sie seit diesem letzten Telefonat, wie sie sagt, »total neben der Spur, wie erschlagen«. Sie kann mit niemandem reden, weint nächtelang. Sie betrauert nicht unbedingt den Mann selbst, sondern den Verlust dieses »intensiven Gefühls«. In der Vorstellung vieler Menschen sind solche Gefühle schwer mit einer Generation von Frauen in Verbindung zu bringen, die man noch bis vor Kurzem als gesetzte, erotisch neutrale Großmütter wahrgenommen hat, die mit den Enkeln spazieren gehen und am Sonntag einen Kuchen backen. Liebeskummer ist ein Gefühl, das den Jungen und Wankelmütigen gehört, und ein Blick in die einschlägigen Ratgeber für unglücklich verliebte Teenager verrät, warum sich diese Anschauung so hartnäckig hält. Denn der Tumult der Empfindungen wird hier an die Unfertigkeit des Körpers gekoppelt. »In der Pubertät spielen die Hormone verrückt«, schreibt Silvia Fauck, eine bekannte Liebeskummer-Expertin, in ihrem Buch SOS Herzschmerz, »und dieser bunte Cocktail lässt die eigenen Gefühle noch stärker kochen.« Das Drama um den unerreichbaren Schwarm aus der Parallelklasse ist also nur das Vehikel oder der Verstärker für ein Chaos, das sich ohnehin gerade im Innenleben abspielt. Genau diese Verschränkung von Biochemie und Biografie aber macht den Liebeskummer im Alter zu einem prekären, fast peinlichen Gefühl. Denn die Körper der Rentner und Großeltern sollten sich hormonell nicht nur längst konsolidiert haben, sondern bereits in eine Art Abwicklungsphase übergegangen sein. Was ist von einer »Achterbahn der Gefühle« zu halten, wenn die eigenen Emotionen eher dem Takt einer Krinoline folgen sollen?
Die Begrenzung der verbleibenden Lebenszeit macht den Kummer radikaler.
Auch Dorothee, 63, hat das Drama der unerfüllten Liebe noch einmal durchlitten, in einem Lebensabschnitt, der in der Vorstellung Jüngerer damit verbunden ist, dass man die Enkel vom Kindergarten abholt und mit ihnen spazieren geht. Sie fuhr, gleich nach den ersten Mails im Onlineforum, quer durch Deutschland zu einem Mann, doch das Wochenende wurde zum Fiasko.
Die Psychologen in den immer beliebter werdenden »Liebeskummerpraxen« der Großstädte machen allerdings ganz andere Erfahrungen. Sie behandeln auch zahlreiche ältere Patienten und haben festgestellt, dass Menschen über sechzig ihren Liebeskummer besonders verzweifelt erleben, weil sie keine Zeit mehr dafür haben, ihre Trauer langfristig zu zelebrieren. Die Begrenzung der verbleibenden Lebenszeit macht den Kummer radikaler.
Karin zückt auf dem Sofa ihres Wohnzimmers irgendwann eine Kamera. Sie ist pink. Auf dem großen Display ist »er« zu sehen, ein gut aussehender Mann mit grauem Topf-Haarschnitt, eine deutsche Ausgabe von James Coburn. Er trägt das blau-rot karierte Holzfällerhemd, in dem Karin bei der ersten Begegnung ihren Kopf versteckte und dessen Geruch sie immer noch in der Nase hat.
»Also, mein Typ ist er ja nicht«, sagt ihre beste Freundin Dorothee, die heute ebenfalls zu Besuch gekommen ist. Sie lächelt ihre Freundin an. Es ist ein nachsichtiges Lächeln, schließlich stand auch Dorothee schon einmal vor einer ähnlichen Situation. Das war vor sieben Jahren. Schon bei den ersten Sätzen, die der Mann ihr in einem Internetforum bei AOL schrieb, wusste die bald 64-Jährige: »Das ist er!« Sie verbrachte ein Wochenende bei ihm in Thüringen. Alles lief perfekt, Dorothee verliebte sich über beide Ohren - bis sie am Sonntagabend merkte, dass die Stimmung kippte. Plötzlich wurde er abweisend und eröffnete ihr, dass er schlechte Erfahrungen mit Fernbeziehungen habe. »Ich liebe dich, aber das wird nix«, sagte er noch. Verzweifelt fuhr Dorothee wieder zurück nach Bremen. Konnte sie nicht diejenige sein, die dazu auserwählt war, seine Beziehungsangst zu knacken? Sie wartete. Und nach einer Weile schrieb er ihr wieder E-Mails. »Es war gleich so wie am Anfang«, sagt sie, »die gleiche Wellenlänge.« Nach einem halben Jahr dann das nächste Treffen, das Dorothees Hoffnung auf ein Happy End endgültig zunichte machte. Sie verbrachte die halbe Nacht auf seinem Schreibtischstuhl im Wohnzimmer, er hatte sich im Schlafzimmer eingeschlossen. Am nächsten Tag wollte er sie nach Göttingen zum Bahnhof bringen, fuhr sie aber bis nach Hause - so lange dauerte es, bis sie aufhören konnte zu weinen.
Auch Dorothee hat viele Schicksalsschläge in ihrem Leben durchgemacht; sie war schwer krank und leidet an den Folgen eines Schlaganfalls. Zurück zu Hause versucht sie, sich den Liebeskummer richtiggehend auszutreiben. Sie lädt das Foto des Mannes aus dem Forum, vergrößert es auf die Fläche des Bildschirms, stellt Peter Maffay auf volle Lautstärke und setzt sich stundenlang vor den Computer, bis sie das Gesicht nicht mehr sehen kann.
Karins junger James Coburn hat sein Profil auf 50plus-Treff inzwischen gelöscht. Sie selbst ist seit Jahren bei der Internet-Community registriert. 150 000 Mitglieder zählt diese Seite; das erforderliche Mindestalter liegt bei 45 Jahren. Bei der Anmeldung muss man nicht allzu viel von sich preisgeben; obligatorisch sind aber Geschlecht und Alter. Unter der Rubrik »Freundschaft« hat Karin damals das Feld »egal« angekreuzt. Sie will einfach nur Kontakte knüpfen, auch zu Frauen, mit denen sie sich austauschen kann. Aber natürlich klicken auch Männer auf ihr Profil. »Traumfee« heißt Karin beim 50plus-Treff.
Die Soziologin Eva Illouz hat sich in ihrem gefeierten Buch Warum Liebe weh tut gerade mit dem Wandel der Partnerfindung in Zeiten des Internets beschäftigt. Wo seit dem Siegeszug der romantischen Liebe vor zweihundert Jahren stets das Moment der Intuition die Menschen geleitet hat, das Vertrauen, den »Richtigen« in den Strömen der Bekannten und Passanten zu finden, haben die Singlebörsen im Internet diese Wahl vollständig rationalisiert. Infrage kommende Partner werden durch Raster von Körpermerkmalen, Interessen und Charakterzügen so lange eingekreist, bis sich der Traummann oder die Traumfrau von selbst herausfiltert. Was Illouz in ihren Analysen erstaunlicherweise nicht zum Thema macht, ist aber die Konsequenz, die dieser neue, inzwischen geläufigste Weg der Partnerfindung für ältere Menschen bedeutet. Denn gerade jener Generation, der nach dem Ende des Arbeitslebens weniger soziale Kontakte bleiben, bietet das Internet eine verheißungsvolle Quelle neuer Begegnungen.
Der »Graue_Wolf57« hat nach 35 Jahren seine Jugendliebe getroffen
Karin und Dorothee sind nur zwei Vertreterinnen einer Bevölkerungsgruppe, der die größten Partnerbörsen aufwendige Analysen widmen. Die »Parship Single und Partner Studie« von 2008 etwa hat ermittelt, dass 43 Prozent der »Silver Surfer«, also der älteren Nutzer des Internets, online einen Partner suchen. Dieses amouröse Roulette im Internet fordert seine Opfer, wie vor allem die Liebeskummer-Psychologen wissen. Daniela van Santen, die in Hamburg eine solche Praxis betreibt, erzählt von einer etwa 70-jährigen Klientin, die zu einer Sitzung neulich ihren Computer mit in den Raum schleppte und sie bat, ihn zu vernichten. »Irgendwie muss er da noch drin sein«, sagte die Frau. Ihre große Liebe hat sie persönlich nie kennengelernt, sie existiert nur im Netz.
Für ein Interview hat Daniela van Santen eigentlich keine Zeit. Denn auch außerhalb ihrer Sprechzeiten sitzt sie an Telefon und Computer und beantwortet Fragen ihrer Klienten; Beziehungen werden auffallend oft am Freitag- oder Samstagabend beendet. Daniela van Santens genaue Berufsbezeichnung lautet »Systemischer Coach«. Sie ist eine Dienstleisterin für Menschen, die über das Internet Liebe gefunden und wieder verloren haben. Es ist meistens die Frau, sagt sie, die sich verliebt, wenn ein Mann ihr liebevolle Worte schreibt, ihr Komplimente macht. Reißt der Kontakt dann plötzlich ab, ist bei älteren Frauen die »Resignation immens groß«. Und sie schämen sich. Nur ganz wenige Frauen reden deshalb so unbefangen über ihre Erfahrungen wie Karin oder Dorothee. Van Santens Klientinnen würden am liebsten eine Tarnkappe aufsetzen, wenn sie zu ihr in die Praxis kommen. Sie rät den Frauen dann immer, nicht zu sehr auf die Hilfe gleichaltriger Freundinnen zu setzen, es sei denn, diese haben ähnliche Erfahrungen im Internet gemacht. Hilfreicher kann die eigene Tochter sein, überhaupt eine jüngere Frau, für die Liebeskummer noch kein Makel ist. Und obwohl der Ursprung des Leids oft dem Internet entstammt, sollten die Frauen auf keinen Fall den Computer rigoros meiden, denn dieses Medium ist für viele der einzige Kontakt zur Außenwelt.
Und wie ist es mit den Männern? Ist Liebeskummer im Alter eine rein weibliche Angelegenheit? Leiden Männer weniger, oder haben sie einfach das Glück, wesentlich leichter eine neue, häufig auch jüngere Partnerin zu finden? Tatsächlich sind Beiträge von Männern in den Internetforen eher selten. Aber manche gibt es, die »sich vorkommen wie ein Ertrinkender im Meer, wie ein Fallender mit flehendem Blick, am Felsen seine Hand bettelnd nach ihr ausstreckend«. Diese poetisch ambitionierten Zeilen stammen von einem Mann, der im 50plus-Treff unter dem Namen »Grauer_Wolf57« schreibt. Er hat nach 35 Jahren seine Jugendliebe getroffen und sich sofort wieder verliebt, unerwidert.
Wer der »Graue_Wolf57« ist, der mit seiner Geschichte die Forumsmitglieder tief berührt hat, ist leider nicht zu ermitteln. Vielleicht hätte er einer Frau im 50plus-Treff Trost spenden können, die sich »Haselmaus« nennt, 58 Jahre alt ist und ihren echten Namen nicht verraten will. Vor eineinhalb Jahren lernte sie einen Mann im Internet kennen, der sie gleich zu Hause besuchte, in einem kleinen Ort an der Ostsee. Liebe: sofort. Auch bei ihm hat es gleich gefunkt, das weiß sie sicher. Sie war allein, ihr Mann an Krebs gestorben, und in der vertrauten Umgebung fühlte sie sich mittlerweile so einsam, dass sie mit Sack und Pack zu dem Mann ins Rheinland zog. Doch es funktionierte nicht. Heute lebt sie wieder in ihrem Heimatort an der Ostsee, führt dort ein Geschäft für Brautmoden. Die unglücklich Verliebte hilft Kunden bei der Verwirklichung ihres Glücks. Sie sitzt vor ihrem Laden an der Hauptstraße, eine disziplinierte Geschäftsfrau, die aber ihre Tränen nur schwer zurückhalten kann, wenn die Sprache auf ihre verlorene Liebe aus dem Internet kommt. Noch heute sitzt sie abendelang am Telefon, kontrolliert ständig ihre SMS. Und wenn sie seine Nummer auf dem Display sehen würde, könnten sie noch so viele Freundinnen nicht davon abhalten, dranzugehen.
»Haselmaus«, »Traumfee« und Zehntausende weitere Menschen mit romantischen Profilnamen, die an vergangene Zeiten erinnern. Sie sind verwitwet, frisch geschieden, zu jung, um ihr Leben als Großeltern einfach ausklingen zu lassen. Der Liebeskummer im Alter, das machen ihre Geschichten klar, wird nicht mehr besonders lange ungehört bleiben. In der Öffentlichkeit ist er vermutlich deshalb so konsequent unterdrückt worden, weil er Gefühle von Leidenschaft und Sehnsucht an Paare knüpft, die sich nicht mehr fortpflanzen können. Eine unglücklich verliebte Frau wirkt auf ihre Umgebung offenbar dann ein wenig sonderbar oder übertrieben, wenn sie das Alter erreicht hat, in dem ihre Fähigkeit erlischt, Kinder zu gebären. Andererseits blendet dieser Eindruck aus, dass Senioren und Teenager in Fragen der Liebe womöglich genauso viel vereint wie trennt: Für beide Altersgruppen spielt Familiengründung keine Rolle, beide haben viel Freizeit, um sich in ihr Leid zu vertiefen, kein Berufsleben, das über den Tag zur Ablenkung beitragen würde. Und wenn die besondere Wucht des ersten Liebeskummers darin besteht, dass man noch nicht wissen kann, ob man ihn überlebt, kehrt diese Angst im Alter mit ganz realistischem Hintergrund wieder zurück: Es könnte das letzte Mal sein!
Fotos: Bert Heinzelmeier, Gianni Occhipinti