Bernhard Schlink zweifelt, ob die finanziellen und internationalen Krisen mit den bisherigen Methoden in den Griff zu kriegen sind.
SZ-Magazin: Herr Schlink, die Europäische Union hat massive Probleme, alles droht auseinanderzubrechen. Einerseits steht die deutsche Wirtschaft noch ganz gut da. Zugleich sprechen Skeptiker von baldiger Inflation, Chaos, Armut. Tanzen wir auf dem Vulkan?
Bernhard Schlink: Wir wissen nur nicht, wann der Vulkan ausbricht. Von jedem Experten, mit dem ich rede, höre ich, dass die ökonomische Krise durch das, was die Staaten tun, nicht bewältigt wird. Und was wird, wenn Israel tatsächlich den Iran angreift? Was, wenn die anderen Spannungen im Nahen Osten zu einem Krieg führen? Es gibt derzeit vieles, das nicht stimmt – und es kann passieren, dass alles zusammen eskaliert.
Die Apokalypse?
Nein, ein Vulkanausbruch. Die Apokalypse wäre das Ende, nach dem Vulkanausbruch geht es weiter.
Die meisten Menschen, die heute in Deutschland leben, haben nie Krieg oder echte Not erlebt. Wären wir in der Lage, mit einer richtigen Krise umzugehen?
Bis jetzt hat jede Generation die Krisen bestanden, die sie bestehen musste.
Aber vielleicht sind wir weniger vorbereitet als die Generationen vor uns. Es gab noch nie eine so lange Phase des Friedens und des Wohlstands wie jetzt.
Die letzte vergleichbar lange Phase lag vor dem Ersten Weltkrieg. Zunächst begeistert begrüßt, erschütterte er die Menschen stärker als später der Zweite, der von Anfang an als bedrückend erlebt wurde. Aber die Generation ist mit der Erschütterung fertiggeworden, mit den Schützengräben, dem Sterben, der Inflation und der Armut. Fertig wird man mit Krisen immer. Die Frage ist nur, was in der Krise noch hält. Kämpft jeder gegen jeden? Was bleibt an Verantwortung? Was an Solidarität? Die Krise ist für die Gesellschaft der moralische Testfall.
Die Deutschen scheinen einen Hang zur Apokalypse zu haben. Warum spielen wir so gern mit Untergangsfantasien?
Unser Ursprungsmythos ist das Nibelungenlied, eine Heroisierung von Niederlage und Untergang. Der Historiker Ian Kershaw hat in seinem Buch Das Ende gefragt, warum die Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs noch so lange weitergekämpft haben. Ich meine, die prägende Kraft unseres Ursprungsmythos ist ein wichtiger Teil der Antwort.
Die Deutschen haben immer ein Schreckensszenario, auf das sich alle einigen können. Das war lange Zeit die atomare Bedrohung, der Kalte Krieg. Dann Umweltthemen, der saure Regen. Heute ist es die Finanzkrise. Warum ist das so?
Ein Schreckensszenario schafft Gemeinschaft. Und vielleicht gibt es eine Angst vor der Rache des Schicksals dafür, dass es uns so gut geht, historisch betrachtet wie auch im weltweiten Vergleich.
Im Zuge der Euro-Krise wird in anderen Ländern gelegentlich behauptet, die Deutschen würden jetzt mit wirtschaftlichem Druck den Allmachtsanspruch in Europa durchsetzen, den sie vor 70 Jahren mit kriegerischen Mitteln nicht erfüllen konnten.
Die Erinnerung an das Dritte Reich ist nun mal ein Ansatz für Polemik gegen Deutschland, der billig zu haben ist. Auch ein entsetzliches Stück Geschichte kann zum Versatzstück verkommen, das man spielerisch, karikierend hervorzieht – Prinz Harry als SS-Mann verkleidet auf einem Fest. Das heißt nicht, dass wir nicht Behutsamkeit schuldeten, wenn wir mit anderen europäischen Ländern umgehen. Mir erzählte ein Freund aus dem diplomatischen Dienst, wie es bis Kohl oder sogar Schröder war: Wenn die Deutschen in Europa etwas durchsetzen wollten, haben sie es andere vorschlagen lassen und nur unterstützt. Was für eine kluge Art, mit dem Erbe des Dritten Reichs umzugehen! Man verhält sich so, dass der Eindruck von Großmannsgehabe gar nicht erst auftreten kann.
In griechischen Medien wird Angela Merkel dennoch gern mit Hakenkreuzkleid dargestellt.
Das ist wieder das Dritte Reich als Versatzstück. Zugleich macht die Erinnerung an das Dritte Reich und den Holocaust uns immer noch fassungslos. Das Thema behält traumatisierende Bedeutung – und legitimierende; für den Stand des ethnisch-religiös definierten Staats Israel unter den Demokratien des Westens bleibt die Erinnerung wesentlich.
»Politik bewältigt nur das, was nicht unbewältigt gelassen werden kann«
Immerhin ein Grund zur Gelassenheit: Auch wenn die Zeiten härter werden sollten – das politische System Deutschlands findet Schlink vertrauenswürdig.
Was dachten Sie, als Günter Grass sein Gedicht über Israel veröffentlichte?
Ich fand es schade. Eine Gesellschaft braucht Menschen mit moralischer Autorität, die sagen können, was sonst niemand sagen mag, und Grass gehörte zu ihnen. Wir haben ihn als moralische Autorität verloren, nicht durch seine SS-Zugehörigkeit, aber weil er von anderen Offenheit im Umgang mit ihrer Vergangenheit forderte und seine eigene lange verschwieg – und jetzt durch sein realitätsfernes, realitätsblindes Einschlagen auf Israel.
Wie beurteilen Sie es, dass wir mit Merkel und Gauck zwei Menschen aus Ostdeutschland an der Spitze des Staats haben?
Ich freue mich darüber, es gehört zur Vollendung der Wiedervereinigung. Natürlich bringen beide ihre ostdeutschen Prägungen mit. Mir scheint, dass Angela Merkel kein wirkliches Verhältnis zu Amerika hat – unserem wichtigsten Verbündeten. Mir scheint auch die Ausschließlichkeit, mit der sie bei den Krisenländern aufs Sparen setzt, damit zu tun zu haben, dass die protestantische Pastorentochter, in der preußisch-sozialistischen DDR aufgewachsen, eine Aversion dagegen hat, dass man ausgibt, was man nicht hat oder bald erwirtschaften wird. Auch der kleine Kreis von Beratern und Vertrauten, mit dem sie sich umgibt, ist DDR-Erbe.
Wer flößt Ihnen in der aktuellen Politik Vertrauen ein?
Unser politisches System selbst. Wenn ich Deutschland mit anderen Ländern vergleiche, denke ich immer wieder, dass es alles in allem verlässlich, sachlich, unideologisch und unkorrupt funktioniert. Die Akteure wollen wirklich tun, was es braucht, damit es dem Land gut oder besser geht. Ich muss keine Angst haben, dass das Gemeininteresse über den Konflikten und Kämpfen der Partikularinteressen aus dem Blick kommt.
Dafür ist es nicht leicht, hier Politiker zu finden, denen man auch viel zutrauen würde.
Das ist leider richtig. Mein Eindruck nach all den Jahren der Beobachtung – gelegentlich auch der beratenden Begleitung – von Politik ist, dass Politik nur das bewältigt, was schlechterdings nicht unbewältigt gelassen werden kann. Sie tut das jeweils Nötigste, das jeweils Nächste. Darüber hinaus geht es nicht.
Gilt das nur für Deutschland?
Nein, für ganz Europa.
Zerbricht Europa gerade?
Da bricht nichts, was wirklich zusammengewachsen wäre. Wo die Länder Europas gemeinsame Interessen haben, kooperieren sie und werden es weiterhin tun. Darüber hinaus hatte die Konstruktion Europas immer etwas Luftiges und darum ja auch Bürgerfernes, und wenn da etwas bricht, zerbricht doch nicht Europa.
Sie leben abwechselnd in Berlin und New York. Mit dem Blick der Distanz: Gibt es überhaupt so etwas wie einen europäischen Gedanken?
Verglichen mit den Amerikanern sind wir Europäer alle Sozialdemokraten. In Europa ist der Staat älter als seine freiheitliche Verfassung, in den USA geht die Freiheit dem Staat voraus. Hier versteht sich, dass der Staat Verantwortung für den Einzelnen trägt, für Ausbildungs- und Arbeitsplätze, Krankheit und Alter, Wissenschaft und Kultur. In den USA wird der verantwortliche Staat leicht als Bedrohung der Freiheit wahrgenommen – deshalb die Gegnerschaft gegen Obamas Gesundheitsreform. Ein anderer Teil des europäischen Gedankens sind Säkularisation und Aufklärung. Die Ausbrüche von Religiosität, Rigorismus und Fundamentalismus, die in den USA immer wieder in die Politik drängen, haben wir in keinem europäischen Land.
Haben Sie das Gefühl, dass wir im Moment in einer geschichtlich bedeutenden Phase leben?
Ja, ich glaube, dass die Welt dabei ist, eine neue Ordnung zu finden. Das geht von den Gewichten der Mächte und ihrem Verhältnis zueinander bis zu den politischen Strukturen, den politischen Ideen.
»Deutschland hat ständig Moraldebatten«
Bernhard Schlink ist ein erfolgreicher Jurist. Einst vertrat er sogar die Bundesregierung von Gerhard Schröder.
Wie verschieben sich die Machtverhältnisse konkret?
China wird stärker, Russland und Europa werden schwächer, die Bedeutung der Länder Südamerikas und Asiens für die Weltwirtschaft wächst, der pazifische Raum wird wichtiger als der atlantische, die Konflikte zwischen China und den USA nehmen zu – aus alldem entsteht eine neue Ordnung. Vielleicht wird es eine ständig gärende und labile Ordnung – so stabil wie zur Zeit des Kalten Kriegs wird es jedenfalls nicht mehr zugehen. Und meinten wir nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht alle, jetzt hätten unsere mehr oder weniger demokratischen, mehr oder weniger freiheitlichen Ideen und Strukturen gewonnen und würden sich, Kontinent um Kontinent, Land um Land, durchsetzen? Heute wissen wir, dass das ein Irrtum war. Es gibt alte und neue autoritäre, auch religiöse politische Ordnungen, neue Nationalismen, neue Ideologien.
Was für Ideologien zum Beispiel?
In Ungarn begegnet uns ein neuer Nationalismus, im Nahen Osten haben wir den islamischen Fundamentalismus, China scheint gerade dabei zu sein, aus Nationalismus, Kapitalismus und Etatismus eine neue Ideologie zu formen, die den Kommunismus ablösen soll und die über China hinaus attraktiv werden mag. Und auch der Kapitalismus ist zur Ideologie geworden.
Inwiefern?
Während des Kalten Kriegs, in der Konkurrenz der Systeme, musste er zeigen, dass das Soziale und Kulturelle bei ihm besser aufgehoben war als im Sozialismus, dass er für alle mehr Wohlstand erzeugte, dass er gerechter funktionierte. Mit dem Ende des Kalten Kriegs ist die Notwendigkeit weggefallen, den Kapitalismus entsprechend zu balancieren. Globalisierung, Privatisierung, Deregulierung – das ist Kapitalismus ohne Balance. Die schlichte Idee des Markts, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Betroffenen, ist eine Ideologie.
Der Kapitalismus muss sich also verändern. Wie könnte diese Veränderung aussehen?
Es wird wieder mehr Regulierungen geben, Privatisierungen werden zurückgenommen, die Globalisierung wird zurückgefahren werden.
Sie haben mal geschrieben: »Die gegenwärtige Entwicklung, die oft als zwangsläufig und unaufhaltsam beschrieben und erlebt wird, ist auch nur eine historische Entwicklung, die enden und beendet werden kann.« Tun wir genug, um die gegenwärtige Entwicklung zu beenden?
Nein, wir tun nicht genug. Und deshalb, das schließt an den Anfang unseres Gesprächs an, müssen wir den Ausbruch des Vulkans fürchten. Was immer draußen in der Welt passiert, wird auch uns erreichen. Deutschland wird keine zweite Schweiz werden, keine Insel des Friedens in einer Welt der Krisen und Konflikte.
Sie haben sich als Autor und Jurist viel mit Fragen der Moral befasst. Braucht Deutschland eine Moraldebatte?
Deutschland hat ständig Moraldebatten. Die nationalsozialistischen Seilschaften im Auswärtigen Amt der Fünfziger- und Sechzigerjahre, Kontakte zur Staatssicherheit der DDR, Sarrazins Äußerungen über Muslime, Wulffs Eigenheimfinanzierung – alles ist Anlass zur Moraldebatte. Dem investigativen Journalismus in Deutschland, der sich aufs Moralische verlegt hat, sind auch missbrauchte Bonusmeilen und ermäßigte Zinsen nicht zu gering, um eine Moraldebatte anzustoßen.
Aber so etwas muss ja auch diskutiert werden.
Bei politischer Moral geht es eigentlich in erster Linie um Inhalte gegenwärtiger Politik und erst in zweiter um Vergangenheit und den Lebensstil von Politikern. Was die Politik an Regulierung der Banken schuldet, wie mit der Armut bei uns umzugehen ist, wie die sich wandelnde Arbeitswelt zu gestalten ist – dies und mehr hat neben seiner utilitaristischen auch eine moralische Dimension, die mehr diskutiert zu werden verdiente, als es geschieht.
Bernhard Schlink, 67, ist ein erfolgreicher Jurist. Er war Professor in Bonn und Frankfurt und bis 2006 Richter am Verfassungsgericht in Nordrhein-Westfalen. Bis 2009 hielt er den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Berliner Humboldt-Universität. 2005 vertrat er die Bundesregierung von Gerhard Schröder vor dem Bundesverfassungsgericht, als die Rechtmäßigkeit der Auflösung des Bundestages verhandelt wurde. Noch erfolgreicher ist Schlink als Autor: Er schrieb mehrere Romane, Der Vorleser wurde zum internationalen Bestseller und mit Hollywood-Star Kate Winslet verfilmt. Der gebürtige Bielefelder Schlink lebt heute in New York und Berlin.
Fotos: Markus Jans