SZ-Magazin: Herr Eco, ist Schönheit langweiliger als Hässlichkeit?
Umberto Eco: Viel langweiliger. Sie dürften sogar sagen: Die Hässlichkeit ist schöner als die Schönheit.
Warum macht es mehr Spaß, ein Buch über die Hässlichkeit zu schreiben als eines über die Schönheit?
Es war viel aufregender, weil es kaum Literatur zum Thema gibt und auch weniger obligatorische Bilder: Wer über die Schönheit nachdenkt, wird Raffael und Leonardo schwerlich entkommen. Aber die kennt man zur Genüge. Bei der Hässlichkeit sind dagegen sehr viel mehr interessante, überraschende Entdeckungen zu machen. Das Hässliche ist ja meistens nur als Gegensatz zum Schönen gedacht worden, fast nie wurde es für sich betrachtet. Fällt es nicht jedem Schriftsteller viel schwerer, Schönheit zu beschreiben als Hässlichkeit?
Wenn Sie an die Sonette Petrarcas denken oder Dantes Beschreibung von Beatrices Augen, ja. Aber der Roman des 19. Jahrhunderts malt das Bild der Schönheit immer gleich: schmaler Mund, schöne Augen, weißes Gesicht, alles nicht sehr aufregend. Da muss man bei der Hässlichkeit schon fantasievoller vorgehen.
Ein Beispiel, bitte.
So erfindungsreich wie Robert Burton, der im 17. Jahrhundert schrieb: »Denn es ist kein Liebender, der die Geliebte nicht vergöttert, sie sei so schief, wie sie will, so krumm, wie sie kann; ein talgiges Galgengesicht oder eine runde, platte Schießscheibe, oder dumm, dürr, dürftig, schief und schäbig wie eine Vogelscheuche, hohläugig, hühneräugig, schielt wie ein Huhn in der Sonne und blinzelt wie eine Katze vorm Ofen; Titten wie Quitten oder gar keine. Ums kurz zu machen: ein Kuhfladen im Backofen.« Und das ist nur ein kurzer Auszug. Burton war einfach ein Genie.
Kann man denn jemanden lieben und ihn dennoch hässlich finden?
Reden Sie jetzt von Sex oder von der Liebe? Selbst in der Liebe ist der ästhetische Aspekt doch nur einer unter vielen. Und dann gibt es Männer, die einer Frau zuerst auf die Beine schauen, andere wiederum in die Augen oder auf den Hintern. Ein Freund von mir, ein Psychoanalytiker, meinte auch einmal, Gott sei Dank verliebten wir Männer uns meist in das Ebenbild unserer Mutter, wie sollten sonst all die Frauen mit Damenbart einen Mann finden?
Sie kennen Männer, die Damen mit Bart lieben?
Rembrandts Frau trug einen rich-tigen Schnauzer, er hat sie ja oft genug gemalt. Was wir für hässlich und schön halten, verändert sich eben von Kultur zu Kultur. Sie kennen sicher auch das Beispiel von den abgebundenen, verkrüppelten Frauenfüßen, die in China lange Zeit als Schönheitsideal galten.
Fällt ein gemeinsames Urteil leichter darüber, was hässlich ist, als darüber, was schön ist?
Nein, denn in gewisser Weise besitzen wir Standardideen davon, was Schönheit ist. Zum Beispiel die klassischen Proportionen, auch wenn die niemals absolute Gültigkeit besaßen. Die gotischen Proportionen etwa galten in der Renaissance schon als hässlich. Aber grundsätzlich spielten Proportionen in der Geschichte der Schönheit immer eine Rolle.
Sie meinen, es gibt für die Hässlichkeit kein Maß wie den Goldenen Schnitt?
Die Phänomenologie des Hässlichen ist viel größer, das Material unüberschaubarer. Da gibt es keine Regeln. Deswegen war das Buch über die Hässlichkeit auch schwieriger zu recherchieren.
Haben Sie das Buch hier in Ihrem Landhaus in der Emilia-Romagna geschrieben?
Ja, auch das ist ein Grund, warum mir persönlich das Arbeiten am Buch über die Hässlichkeit besser gefallen hat als an dem über die Schönheit. Ich habe nämlich beinahe die gesamte Recherche weitestgehend allein hier am Computer erledigt. Und mittags konnte ich in den Pool steigen. Den hat meine Tochter erst im Frühjahr gebaut.
Wenn es nach Ihrer Theorie ginge, müsste es irgendwo auch jemanden geben, der Ihr Haus nicht schön findet.
Gab es eine ganze Menge Leute vor dreißig Jahren. Sonst hätte ich das Haus niemals so günstig kaufen können. Ästhetische Urteile gelten niemals absolut.
Fällt ein Urteil über ein hässliches Haus oder Bild vielleicht leichter als über ein schönes?
Sehen Sie, damit begehen Sie wiederum den gewöhnlichen Fehler, von Hässlichkeit und Schönheit als einer künstlerischen Kategorie zu sprechen. Ich persönlich würde nicht gern mit einer Rubens-Frau schlafen. Zur Zeit von Rubens galten Frauen mit Zellulite aber als schön. Doch natürlich finde ich selbst heute noch Rubens-Bilder schön, obwohl auch diese Urteile sich mit der Zeit verändern können. Urteile über Hässlichkeit und Schönheit haben erst einmal nichts mit Kunst zu tun. Hässlichkeit bedeutet Ekel. Und laut Charles Darwin finden verschiedene Kulturen unterschiedliche Dinge hässlich. Aber Darwin bemerkt auch, dass die Reaktionen auf Hässlichkeit in der Regel die gleichen sind: Abscheu und Ekel.
Es gibt also nichts für alle Ewigkeit unabänderlich Hässliches?
So ist es, darüber habe ich meine Geschichte der Hässlichkeit geschrieben, wie sich ihre Wahrnehmung im Laufe der Jahrhunderte verändert hat.
Pardon, empfinden und empfanden nicht alle Kulturen gegenüber Fäkalien Abscheu?
Nein, selbst Scheiße wird nicht immer als hässlich und ekelhaft wahrgenommen. Kinder empfinden davor zum Beispiel keinen Ekel. Man muss sie sogar regelrecht erziehen, sie nicht anzufassen. Und ich persönlich ekle mich zwar vor Ihrer Scheiße, aber nicht so sehr vor meiner eigenen. Selbst vergammeltes Essen hat im Mittelalter oder lange danach noch bei Seeleuten eine größere Toleranz erfahren.
Sie schreiben, wir hielten auch Menschen ohne Arme oder Beine für hässlich.
Ja, wir haben Mitleid mit Behinderten, aber wir finden sie unproportioniert und damit grundsätzlich hässlich, das heißt, wir ekeln uns auch erst einmal. Aus dem gleichen Grund ekeln wir uns vor Wunden oder Aas. Das Mittelalter kannte das Kriterium der Integritas, der Ganzheit. Wer nur ein Auge besitzt, gilt als hässlich. Das trifft mit Abstrichen auch heute noch zu. Aber auch dieses Kriterium ist nicht universal: In Gesellschaften, in denen schlechte Zähne die Regel sind, wirkt eine Zahnlücke nur wenig abschreckend.
Was ist der scheußlichste Ort, den Sie kennen?
Wahrscheinlich das »Madonna Inn« in Kalifornien.
Jener Ort, über den Sie einmal schrieben, er sehe aus, als ob Albert Speer wohl eine zu große Dosis LSD geschluckt und sich beim Bau vorgenommen hätte, eine Hochzeitsgrotte für Liza Minnelli zu bauen?
So ähnlich, ja. Die Waschbecken dort sind große Perlmuschelschalen, die Pissoirs sind in Fels gehauene Kamine. Der Grad an Verrücktheit ist kaum zu übertreffen.
Und Sie glauben nicht, dass wenigstens das »Madonna Inn« ein Ort wäre, bei dem sich alle einig werden können, dass er hässlich ist?
Nein, natürlich nicht. Tausende Menschen pilgern immer noch dorthin, um zu heiraten, sie müssen den Ort also sehr schön finden. Kitsch ist aber ein Sonderfall in der Geschichte des Hässlichen.
Wieso? Kitsch finden einige schön, andere hässlich – wenn es nach Ihnen geht, ist das doch bei allen Geschmacksurteilen so.
Mehr als das ästhetische Empfinden beeinflusst die Klasse das Urteil über Kitsch. Das Hässliche ist eben auch ein soziales Phänomen. Die Mitglieder der oberen Gesellschaftsklasse verurteilen die Vorlieben der unteren Schichten als lächerlich. Das ist auch nicht unbedingt eine wirtschaftliche Unterscheidung: Ein reicher Mann kann durchaus einen Unterschichtengeschmack besitzen. Aber sie werden bei Industriellentöchtern auch seltener ein Bauchnabelpiercing entdecken, das gilt als Zeichen der Unter- oder Mittelschicht.
Piercing gilt doch vor allem als Ausdruck von Punk.
Natürlich. Punk ist die Mode der Provokation. Doch auch die ist nicht unbedingt neu.
Wer waren denn die Punks des Mittelalters?
Ich entdeckte sie auf einem Bild von Hieronymus Bosch, das machte mich sehr glücklich: Sehen Sie, ein Pirat mit vielen Nasen- und Ohrringen und Tattoos. Damals hielt man solche Menschen unisono für hässlich. Nasenringe und Tattoos galten als Symbol für Verbrecher. Wenn Sie damals Besuch bekommen hätten von jemandem, der wie ein Punk aussah, hätten Sie Angst bekommen. Heute nicht mehr. Selbst Menschen in der Wirtschaft tragen Tattoos und Ohrringe. Heute herrscht eben der Polytheismus der Schönheit. Man könnte auch sagen, die Geschichte der Hässlichkeit ist das letzte Kapitel der Geschichte der Schönheit. Alles scheint erlaubt.
Sie schrieben einmal, die bedeutendsten Bedürfnisse des Menschen seien Schlaf, Nahrung, Sex. Ein Bedürfnis nach Schönheit erwähnten Sie nicht.
Da ging es um etwas anderes: Ich wollte zeigen, dass es reicht, die körperlichen Bedürfnisse des Menschen zu betrachten, um aus ihnen die Geltung einer universalen Ethik abzuleiten. Das Bedürfnis nach Schönheit ist wie die Frage nach Gott ein geistiges, kein körperliches.
Es gibt also ein Bedürfnis, Hässliches zu meiden?
Gewiss. Ich zitiere wieder Darwin: Jede Zivilisation kennt wenigstens eine Grimasse, mit der man dem Hässlichen begegnet, selbst wenn das Hässliche austauschbar ist, und diese Grimasse ist niemals ein Lächeln. Im 17. Jahrhundert begann man, sich allmählich für hässliche Menschen zu interessieren, aber sogar in dieser Epoche mag Montaigne etwa nicht das Hässliche, sondern er sucht vielmehr Schönheit in dem, was bis dahin als hässlich galt. Montaigne findet also das Hässliche nicht schön, sondern nur nicht so hässlich. Balzac empfand im 19. Jahrhundert eine Frau mit dreißig Jahren als alt. Heute gilt dreißig als beste Jugend. Was für ein Wandel innerhalb eines Jahrhunderts.
Sie sind jetzt 75 Jahre alt, dozieren Sie immer noch?
Seit diesem Herbst beziehe ich Pension und halte nur mehr Vorträge.
Aber Sie schreiben. Welches Buch kommt als nächstes?
Ich habe gerade wieder ein sehr langweiliges Buch über Semiotik beendet, 500 Seiten dick. Die Hässlichkeit war viel amüsanter.
Wird sich die Hässlichkeit auch so gut verkaufen wie die Schönheit?
Wer weiß. Es war wirklich unglaublich bei der Geschichte der Schönheit: Wir hätten auch ein Telefonbuch unter dem Titel verkaufen können, so sehr rissen sich selbst Verlage aus Osteuropa und Asien um die Rechte.
Abbildungen: Museum voor Schone Kunsten, Ghent, Belgium/bridgemanart.com. Quentin Massys "Eine groteske alte Frau", 1525 - 1530, London National Gallery, aus dem Buch "Die Geschichte der Hässlichkeit", herausgegeben von Umberto Eco, erschienen im Hanser Verlag. Porträt-Foto: Ekko von Schwichow.