SZ-Magazin: Herr Genazino, Ihr neuer Roman Wenn wir Tiere wären handelt schon wieder von einem Außenseiter. Was fasziniert Ihre Leser so an diesen grüblerischen Verlierern?
Ehrlich gesagt überrascht es mich bis heute, dass es Menschen gibt, die meine Bücher lesen.
Jetzt kokettieren Sie. Gerade waren Sie für den Deutschen Buchpreis nominiert, 2004 haben Sie den Büchner-Preis bekommen.
Nein, ich meine das ernst. Es ist doch ein kleines Wunder, dass sich so viele Menschen für diese lebensbehinderten, oder sagen wir besser lebensgehemmten Männer interessieren.
Welche Erklärung haben Sie dafür?
Ich glaube, dass ich mit diesen verzagten Männern den Prototyp des modernen Massenmenschen getroffen habe. Ich glaube, dass viele die Hemmungen und Frustrationen meiner Figuren nachvollziehen können. Sie haben Angst vor Entscheidungen und Bindungen. Sie leiden unter einem Gegenwartsdruck und lassen sich von meinen Büchern trösten.
Was ist das – Gegenwartsdruck?
Das ist der Dauerdruck, den der abhängig arbeitende Mensch spürt, weil er sich immer zu seiner Arbeit verhalten muss. Permanent muss er seine Situation reflektieren, die Kollegen, den Chef, das letzte Meeting, oft genügt eine Kleinigkeit, ein schiefer Blick, ein falsches Wort, schon leidet er, weil sein Leben nicht seinen Bedürfnissen entspricht.
Warum ändert er nichts an seiner Situation?
Weil er Angst um seinen Job hat und damit um seine Existenz und Identität. Also schenkt er der Firma noch mehr Zeit und gerät in eine Dauerbredouille. Ich habe den Eindruck, dass es für viele Menschen immer anstrengender wird, am Arbeitsleben teilzunehmen. Viele fühlen sich ausgeliefert, ja gefoppt, weil sie sich von karrieristischen Gesichtspunkten haben leiten lassen und heute mit einem Leben dafür bezahlen müssen, das sie nie gewollt haben. Diese Leute trauen sich nicht zu jammern, weil sie wissen, dass sie von der Arbeitswelt abhängig sind und dass es, wenn sie jammern, nur noch schlimmer wird.
Ein glücklicher Mensch liest kein Genazino-Buch, oder?
Ein glücklicher Mensch, das ist eine Herausforderung. Gibt es glückliche Menschen? Ich bezweifle es. Zufriedene Menschen gibt es schon eher, in diesem Wort steckt das Arrangement.
Ihre Helden sind immer männlich. Spüren nur Männer diesen Gegenwartsdruck?
Früher ja, inzwischen auch immer mehr Frauen. Ich beobachte jeden Tag, wie sie mit Businesskostüm im Café sitzen und über Dinge reden, die nicht zu ihnen passen – ein schauderhafter Moment, weil man abgesehen vom Klang der Stimme nicht mehr merkt, ob ein Mann oder eine Frau spricht. Die Businesswelt, der Kampf um Anerkennung – das sind antrainierte Verhaltensweisen, die nicht zu einem weiblichen Wesen passen. Frauen sind nicht dazu gebaut, außer dem sowieso nötigen Kampf mit dem Tag noch den Kampf mit dem Aufstieg zu absolvieren. Mir tun diese Frauen leid. Sie sind Opfer einer Politik, die ihnen seit Jahren erfolgreich einredet, dass sie einen anstrengenden Job brauchen, um sich selbst verwirklichen zu können.
Ursula von der Leyen feiert jede Stelle, die an eine Frau vergeben wird, als Sieg der Gleichberechtigung.
Ich weiß, ein riesiger Beschiss.
Heißt das, Sie halten die Frauenemanzipation nicht für eine der größten Errungenschaften der letzten vierzig Jahre?
Nicht in dem Angebot, das sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor-zuweisen hat. Wenn es andere Formen der Emanzipation gibt, müsste man die Sache neu verhandeln, aber die Totalvernetzung und Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit der Frau als Emanzipation darzustellen ist ein großer Betrug.
Sie können doch nicht ernsthaft behaupten, dass es den Frauen vor fünfzig Jahren besser ging.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will die Emanzipation nicht zurückdrehen. Ich will nur klarstellen, dass es keine unschuldige Emanzipation gibt. Der Pakt, den die Frauen eingegangen sind, liefert neben gesellschaftlichen Vorteilen automatisch auch Nachteile. Und der Skandal ist, dass die Frauen mit diesen Nachteilen von den Politikern allein gelassen werden. Ich habe vor 35 Jahren selbst bei einer Zeitung gearbeitet und weiß noch, wie ich pausenlos in Konferenzen saß und neue Konzepte entwickeln musste, um die Auflage zu steigern. Kaum stand ein freies Wochenende an, lud uns der Verleger in sein Häuschen in den Taunus.
Kennen Sie nicht das gute Gefühl, das einen durchströmt, wenn man ein Wochenende durchgearbeitet hat?
Doch, die Menschen arbeiten, weil sie auf das Gefühl angewiesen sind, wahrgenommen zu werden und im Zentrum der Welt angekommen zu sein. Sie sind so gestresst, dass sie die allmähliche innere Aushöhlung nicht mehr wahrnehmen. Ein Überbau entsteht, der einem das Gefühl gibt: Hey, man braucht mich, ich bin hier der richtige Mann am richtigen Fleck. Sie empfinden eine Arbeitswollust, ein Wohlsein im Unwohlsein.
Im Gegensatz zu den sensiblen Männern sind die Frauen in Ihren Büchern pragmatisch und bodenständig.
Frauen haben die Kraft, uns Männer wenigstens phasenweise von unserem Existenzgrübeln zu erlösen. Es sind doch Männer, die in der Kneipe sitzen und einen ganzen Abend lang über die eigene Befindlichkeit reden. Frauen sind viel pragmatischer und freier.
Sprechen Sie aus eigener Erfahrung?
Ja, meine Frau, die leider verstorben ist, hat mich immer unterstützt, am Anfang sogar finanziell, weil sie mit ihren Kinderbüchern mehr verdient hat als ich mit meinen Romanen. Als dann unsere Tochter zur Welt kam, hatte ich Angst, dass wir ins Schleudern geraten, aber dank ihr haben wir alles gut hinbekommen.
Was ist mit dem Klischee von den emotionalen Frauen und den gefühlsarmen Männern?
Ich nehme das Gegenteil wahr. Frauen haben einen leichteren Weltzugang als Männer, und zwar aufgrund ihrer Sexualität. Ich glaube sogar, dass Männer massiver ihre Tage haben als Frauen, dass es im Leben eines Mannes also Tage gibt, an denen er weiß, dass eine Woche lang nichts geht, weil er ein Zerwürfnis mit sich selbst hat. Er läuft dann vernachlässigt durch die Gegend und nimmt nichts wahr außer diesem Zerwürfnis.
Sind es nicht die Frauen, die ständig Migräne haben?
Frauen haben ein größeres Gehabe mit ihrer Tagesbefindlichkeit, sie haben Kopfschmerzen, Ohrensausen und 17 andere Sachen, aber kaum treffen sie abends ein paar Freundinnen, haben sie die Ausstrahlung eines Gänseblümchens.
Ihnen ist bewusst, dass es Frauen gibt, die mit dieser Sicht nicht einverstanden sind?
Was soll ich sagen? Ich glaube nun mal, dass das Gefühl, im falschen Leben festzustecken, eher ein männliches ist. Männer sind die wahren Komplikateure, die ohne die Unterstützung der Frauen verloren wären. Wenn der Held meines neuen Romans seine Freundin Maria vögelt und danach friedlich neben ihr einschlafen darf, fühlt er sich wie ausgetauscht, Maria dagegen hatte einfach nur Sex. Sex als Erlösung.
Oder: Nur beim Sex bin ich angstfrei, wie Charlotte Roche sagt.
So weit würde ich nicht gehen. Erstens gibt es auch andere Arten von Glück, bei mir gehört zum Beispiel das Schreiben dazu. Zweitens steckt auch in der Sexualität eine Angst vor Abhängigkeit, immerhin hat man etwas entdeckt, ohne das man nicht mehr sein will. Übrigens bin ich der Meinung, dass Männer mehr von der Sexualität profitieren als Frauen.
»Ich habe mich damit abgefunden, dass Menschen wie ich nur noch in Talkshows bestaunt werden.«
Wilhelm Genazino, 68, schreibt jeden Tag mehrere Stunden, auch am Wochenende. In den Pausen unternimmt er lange Spaziergänge entlang des Mains oder durch Frankfurt und beobachtet Enten, die auf einem Bein stehen, oder eben Menschen.
Warum?
Weil sie den größeren biologischen Anteil haben. Der Sexualdruck des Mannes ist eine ganz eigene Sache, die nur er kennt. Die Frau hat nicht dieses Abfuhrproblem und wird es auch nie verstehen können.
Wir sprechen von Sex, was ist mit der Liebe?
Die gibt es natürlich auch. Liebe ist, wenn zwei Menschen ganz natürlich zusammen sind, ohne jemals ein Wort darüber zu verlieren. Sie sind, ohne dass sie sich dieser Tatsache bewusst sind, glücklich miteinander. Glück ohne Beiläufigkeit ist kein Glück.
Leben Sie eigentlich anders, seit Sie mit Ihren Büchern ordentlich Geld verdienen?
Nein. Die Lust, mich konsumistisch zu verhalten, nur weil ich das Geld dazu habe, ist nicht da. Ich habe alles, was ich brauche.
Was brauchen Sie denn?
Ruhe, jeden Tag ein paar Stunden zum Arbeiten. Ein Auto habe ich nicht. Das Fernsehen habe ich mir vor dreißig Jahren abgewöhnt.
So schlimm?
Ja. Ich war ein Opfer dieser Apparatur geworden. Ich habe mir irgendeinen Mist angesehen und immer mehr Gefallen am Nebenprodukt gefunden. Auf einmal habe ich mich dabei ertappt, wie ich ausgiebig das Hemd des Moderators betrachtete oder minutenlang beobachtete, wie einer Moderatorin alle paar Sekunden eine Haarsträhne ins Gesicht fiel. Nur so konnte ich das Programm noch ertragen. Irgendwann begriff ich, dass ich mich, wenn ich das Ding jetzt nicht rausschmeiße, auch ins Grab legen kann.
Kein Auto, kein Fernseher, Ihre Bücher schreiben Sie auf der Schreibmaschine – haben Sie was gegen Dinge, die Ihnen das Leben erleichtern?
Ich habe nichts dagegen, aber mich interessiert das alles nicht. Virtuelle Welten, soziale Netzwerke – ich habe Mühe, mir das anzueignen. Natürlich versucht meine Tochter mir das beizubringen, aber die Sache geht immer gleich aus: Zuerst bin ich guten Willens, dann verliere ich die Lust, und am Ende werde ich geschimpft.
Weil Sie sich so dumm anstellen?
Weil ich Anstoß an Nebensächlichkeiten nehme. Ich kann es zum Beispiel nicht ertragen, dass diese Geräte alle summen.
Klingt ziemlich neurotisch.
Es klingt vielleicht arrogant, aber ich halte das digitalisierte Leben nicht für einen Teil des wirklichen Lebens. Das Internet, die sozialen Netzwerke, die Chats sind ein Surrogat, ein friedlicher Ersatz, auf den sich die Menschen geeinigt haben. Das wirkliche Leben ist geheimnisvoller und poetischer. Es zu finden ist uns aufgegeben, man kann es nicht in einem Kaufhaus erstehen.
Sie klingen wie ein altmodischer, alter Mann.
Ich weiß, wie ein Opa, der den ganzen Tag durch den Park läuft. Aber nur weil diese Generationsdiskriminierung funktioniert, habe ich noch lange nicht unrecht. Ich habe mich damit abgefunden, dass Menschen wie ich nur noch als Museumsdarsteller geduldet werden, die in Talkshows bestaunt werden.
Wo finden Sie das wirkliche Leben?
Wenn ich in Hagen oder Osnabrück aus dem ICE steige. In diesen verrumpelten Städten geht mir eine Herzkammer auf. Ich stehe auf dem Bahnhof und denke: Osnabrück – genau, das ist die wirkliche Welt. Oder wenn ich Enten im Park beobachte, die auf einem Bein stehen und schlafen, darüber kann ich mich freuen wie ein kleines Kind.
Haben Sie manchmal Angst, dass Ihnen Tiere wichtiger werden als Menschen?
Nein, Tiere treten nicht in Konkurrenz zu den Menschen. Aber ich habe nun mal Vergnügen an Tieren wie ein kleines Kind oder ein alter Mann, und wahrscheinlich bin ich beides.
Ein Zitat aus Ihrem Buch: »Wer allein lebt, erkennt die anderen allein Lebenden.« Woran?
An ihrer inneren Eingesunkenheit. Man sieht es Menschen an, wenn sie es nicht gewohnt ist, offensiv zu kommunizieren. Sie sitzen da, schauen durch die Gegend, in Restaurants lesen sie lange in der Speisekarte.
Ziemlich traurig
Nicht unbedingt. Es gibt Menschen, die darin, und zwar nur darin, absolut souverän sind.
Sind Sie einer von diesen Menschen?
Nein, ich habe Freunde, aber die Tatsache, dass ich Romane schreibe, macht mich notwendigerweise zum Außenseiter. Es stimmt schon, ich nehme die Welt als zerfetzt wahr.
Aber Schriftsteller ist doch ein anerkannter Beruf.
Für Sie vielleicht, ich stelle anderes fest. Die Menschen, die mit mir in diesem Haus wohnen, meine Nachbarn und die Leute, denen ich auf der Straße begegne, haben alle einen anderen Beruf. Wenn die hören, was ich mache, sind sie voller Achtung, aber auch befremdet, wobei die Befremdung überwiegt. Ich muss immer wieder feststellen, dass mein Beruf in dieser Gesellschaft nicht vorgesehen ist.
Jetzt übertreiben Sie. Millionen von Menschen lesen Bücher, es gibt Buchmessen, eine ganze Industrie lebt davon.
Seien wir ehrlich: Von zehn Leuten lesen neun nicht. Ich erlebe immer wieder, dass Leute mich fragen, was ein Schriftsteller den ganzen Tag macht. Meistens gehe ich diesen Gesprächen aus dem Weg, indem ich mich als Verlagsangestellter ausgebe.
Warum machen Sie das?
Um mir das Befremden der Menschen zu ersparen. Neulich war ich zu einem Gala-Essen eingeladen. Das Literaturhaus in Frankfurt feierte sein 20-jähriges Bestehen. Ich saß mit sechs Industriellen und ihren Frauen am Tisch. Die konnten es nicht fassen, dass da einer sitzt, der mit dem Schreiben Geld verdient, dabei fand das Essen wie gesagt in einem Literaturhaus statt.
Der Außenseiter hat einen Vorteil: Er muss sich nicht nach den Normen der Gesellschaft richten. Er kann ganz er selbst sein.
Stimmt. Ich glaube nicht, dass man heute noch das Gefühl haben kann, ein Individuum zu sein, ohne gleichzeitig ein Außenseiter zu sein. Es gibt allerdings eine Voraussetzung: Man muss ein erfolgreicher Außenseiter sein. Die Rechnung muss aufgehen. Tut sie es nicht, ist man kein Individuum, sondern ein Verlierer. In meinem Fall: Ich muss von meinen Büchern leben können, denn ein älterer gescheiterter Schriftsteller ist das Fürchterlichste, was es gibt.
Der Protagonist Ihres neuen Romans kommt ins Gefängnis, der davor landete in der Psychiatrie. Müssen wir Angst um Sie haben?
Aber nein. Nur weil ich nicht einverstanden bin mit der Welt, heißt das nicht, dass ich unter ihr leide. Ich habe eine andere Taktik gefunden. Ich stelle mich den Schwierigkeiten nicht, ich gehe ihnen aus dem Weg und erlaube mir, die Welt mit den Augen eines Kindes zu betrachten.
Was meinen Sie?
Als Schriftsteller kann ich meiner Lebensunlust ungestraft nachgehen, ja, ich kann sogar Gewinn daraus ziehen. Ich muss nicht aufstehen, wenn ich nicht möchte, ich muss auch nicht ans Telefon gehen, wenn es klingelt. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich arbeite jeden Tag, aber wenn ich gerade ein besonders gutes Buch lese, lege ich mich nach dem Frühstück wieder hin und lese so lange, bis ich fertig bin.
Und die anderen Menschen müssen sich selbst belügen, um das Leben ertragen zu können?
So krass würde ich das nicht sagen. Ich mache mich auch nicht mehr lustig über Menschen, die voller Begeisterung einen Urlaub buchen oder sich eine neue Hose kaufen. Ich habe es akzeptiert, dass es Frauen glücklich macht, wenn sie sich neue Unterwäsche kaufen, obwohl sie keine brauchen. Mich ödet so ein Einkaufsbummel an, aber es scheint eine Lustquelle zu sein. Anders als früher kämpfe ich nicht mehr gegen Einzelheiten.
Vielleicht sind Sie mit 68 endlich erwachsen geworden?
Auf jeden Fall gelassener. Mit dreißig bin ich unrasiert und verwahrlost durch die Gegend gelaufen. Ich wollte alles sein, nur nicht modisch, und habe es jedes Mal genossen, wenn mich einer komisch schaute. Im schiefen Blick der Passanten spürte ich meine eigene Authentizität. Heute weiß ich, dass der Aufwand in keinem Verhältnis zur Sache steht.
Wogegen kämpfen Sie heute?
Gegen nichts. Ehrlich gesagt habe ich Mühe, mit Menschen klarzukommen, die erwachsen sind und einen Kampf gegen einen Autobahnzubringer führen.
In Ihren Büchern findet sich keine einzige politische Aussage, trotzdem lesen sie sich wie Systemkritik.
Ich fühle mich auch als Systemkritiker, aber wir haben nur dieses System, ein anderes ist nicht in Sicht. Deshalb bekämpfe ich es nicht, sondern verhalte mich wie meine Figuren. Ich suche das Arrangement, den nicht benutzten Nebenweg, der am wenigsten Ärger macht und häufig auch Glückshormone aussendet, weil er erstaunliche Unterhaltungsprogramme liefert: lustige Tiere, skurrile Menschen, merkwürdige Geschäfte, aus diesen Dingen kann man sich ein großartiges Programm basteln, vorausgesetzt, man ist neugierig genug und hat ein Vergnügen an sonderbaren Tatsachen.
Nebenwege beschreiten, die keinen Ärger bringen – ist das nicht ein bisschen feige?
Ich habe mir das nicht ausgesucht, es ist so gekommen. Es handelt sich um ein biografisches Programm. Eines Tages bin ich vor lauter Überdruss und Ekel bestimmte Straßen nicht mehr gegangen.
Ekel wovor?
Neulich war ich seit Langem wieder mal auf der Zeil in Frankfurt. Ich bin so erschrocken: dieses Getümmel, das Sich-Wälzen der Massen, die Billigläden, die Freizeithemden, die latente Aggressivität der Menschen; das Kind, das nach einem Eis schreit, und die genervten Eltern, in der einen Hand die Tüten, an der anderen die Leine mit dem Hund. Es war abstoßend und entwürdigend. Ich habe mich nicht bewusst für den Nebenweg entschieden, man findet ihn en passant. Ich habe diese Grundempfindung des Überdrusses und bin durch meinen Überlebenselan gezwungen, mich zu fragen, wo ich mich noch bewegen kann. Dieser Druck, der mich nach der Alternative suchen lässt, ist mein Glück.
Zur Person:
Bevor Wilhelm Genazino, 68, Ende der Siebzigerjahre durch die »Abschaffel«-Trilogie bekannt wurde, arbeitete er als Journalist, unter anderem für die Satire-Zeitschrift »Pardon«. Mit »Abschaffel« aber hatte er sein Lebensthema gefunden: die Zumutungen der modernen Welt aus der Sicht des kleinen Angestellten. 2004 erhielt Genazino den Büchner-Preis, sein neuer Roman »Wenn wir Tiere wären« war gerade für den Deutschen Buchpreis 2011 nominiert. Wilhelm Genazino, der übrigens viel heiterer ist als seine Figuren, lebt in einer ruhigen Straße in Frankfurt am Main.
Fotos: Franziskcat