Literarische Notizbücher kommen gewöhnlich erst dann zum Vorschein, wenn die Dichter bereits tot sind. Die berühmtesten unter ihnen werden nachträglich mit Ausstellungen geehrt, in denen ihre Schreibmaterialien und Arbeitsrituale zum Thema gemacht werden. Bei lebenden Autoren hingegen muss schon etwas Außergewöhnliches vorfallen, damit sich der Blick einmal auf die verborgene Innenseite ihrer literarischen Produktion richtet – so wie bei Martin Walser, der im letzten Herbst ein Tagebuch im Zug liegen ließ und für das in rotes Leinen gebundene Heft einen Finderlohn von 3000 Euro ausrufen ließ.
Nach allem, was man über die Notizhefte von Schriftstellern weiß, lassen sich zwei Prinzipien des Gebrauchs ermitteln. Zum einen hat ihre Beschaffenheit entscheidenden Anteil am Charakter der entstehenden Texte, wie etwa bei Franz Kafka, der für seine Romanfragmente große Quarthefte, für die Tagebucheintragungen und die Kurzprosa aber das Oktavformat benutzte. Und zum anderen, als ein unumstößliches Gesetz bei der Wahl des Schreibmaterials: Die Hefte müssen so unscheinbar und gebräuchlich wie möglich sein. Ob Peter Handkes winzige Spiralblöcke, Robert Gernhardts Brunnen-Schreibhefte oder Kafkas ordinäres Schulmaterial – es scheint kaum einen Dichter zu geben, der sich bei der Wahl seiner Notizbücher Extravaganzen geleistet hätte.
Gerade vor diesem Hintergrund erstaunt eine neue Produktlinie, die der Suhrkamp-Verlag seit Kurzem herausgibt: Blanko-Notizhefte im Design der berühmten Taschenbuchreihen. Vor ein paar Monaten erschien bereits ein weißes Bibliothek-Suhrkamp-Notizbuch, Mitte März kommt ein dunkelblaues Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft und im April ein hellgrüner Edition-Suhrkamp-Band hinzu. Welches Publikum will der Verlag mit diesen Notizheften erreichen? Kann man sich einen ambitionierten jungen Dichter denken, der seine Gedanken und Entwürfe tatsächlich in Bücher einträgt, deren Umschläge ihn an die wichtigsten Tagebuchschreiber der vergangenen Jahrzehnte erinnern? Welch bleischweres Gewicht der literarischen Tradition, die jede Notiz sofort in Konkurrenz zu Benjamin, Hohl, Handke oder
Goetz stellt! Oder sind die Hefte eher für Studenten und ihre Lektüreeindrücke gedacht? Dann träte die merkwürdige Verdoppelung ein, dass das Exzerpierbuch und die exzerpierten Bücher von außen genau gleich aussehen.
Es bleibt ohnehin die Frage, ob Literatur wirklich dort entstehen kann, wo bereits das Arbeitsmaterial diese Behauptung vollmundig aufstellt. Die Suhrkamp-Reihe ist nicht die erste, die diesen Versuch unternimmt. Vermutlich gebührt den Produzenten der schwarzen Moleskine-Notizbücher die Ehre, eine Schar von Dichterdarstellern herangezogen zu haben, deren Mangel an Inspiration von dem wohligen Gefühl wettgemacht wird, Teil des literarischen Kanons zu sein. Moleskine, so die Selbstbeschreibung, »ist das Erbe des legendären Notizbuches von Künstlern und Intellektuellen der vergangenen zwei Jahrhunderte, von Ernest Hemingway bis Bruce Chatwin. Ein treuer Reisegefährte in der Tasche für Skizzen, Notizen, Geschichten und Impressionen«.
Nun also besteht auch für jedermann die Möglichkeit, sich als Erbe der legendären Suhrkamp-Kultur zu empfinden. Man sollte die Notizbücher allenfalls dazu verwenden, um seine täglichen Einkaufslisten aufzuschreiben.
(Foto: Ben Kuhlmann; Illustrationen: Dirk Schmidt)