Paul Julien Robert

Er wurde 1979 in die Kommune des Aktionskünstlers Otto Muehl hineingeboren. Die österreichischen Kommunarden wollten sich von Eltern, Autoritäten, Ängsten und dem klassischen Bild der Kleinfamilie befreien. Klingt nach Freiheit - stattdessen aber entstand eine streng hierarchische Gruppe, in der alle Muehls Befehlen folgten. Paul-Julien Robert, der mit seiner Mutter bis 1991 in der Kommune lebte, spricht heute von einer Zeit der Angst und Unsicherheit.

Für den Film über seine Kindheit sichtete Paul-Julien Robert über Wochen Videomaterial - in der Kommune war jeder Tag gefilmt worden.

SZ-Magazin: Sie sind am 12. Januar Vater geworden. Wie möchten Sie Ihrer Tochter Vorbild sein?

Paul-Julien Robert: Ich will ihr zeigen, dass da Regeln sind, ihr Orientierung geben. Klarheit, Ehrlichkeit und Respekt sind mir wichtig. Aber ich versuche nicht, mein Kind zu erziehen.

Und warum nicht?
Ich würde den Begriff Erziehung nicht für Kinder verwenden. Menschen im Straflager werden erzogen, aber keine Kinder. Man kann ihnen nur etwas vorleben, Vorbild sein.

Hatten Sie ein Vorbild?
Nein, niemanden.

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Sie sind 1979 in die Otto-Muehl-Kommune bei Wien hineingeboren worden. Ein Glaubenssatz lautete: »Wer den Krieg abschaffen will, muss zuerst die Kleinfamilie abschaffen.« Haben Sie in der Großfamilie Liebe erfahren?
Als ich zum ersten Mal verliebt war, habe ich mich schlecht gefühlt, weil ich eine Person lieber mochte als die anderen. Das war nicht vorgesehen in der Kommune. Ich habe geglaubt, Liebe sei etwas Böses. Geliebt zu werden und selbst zu lieben, musste ich erst lernen und akzeptieren.

Sie haben Ihre Kindheit in der Kommune in einem Dokumentarfilm festgehalten. Was war das vorherrschende Gefühl, an das Sie sich erinnern?
Ich hatte immer Angst. An so etwas wie einen inneren Frieden kann ich mich nicht erinnern.

Woran lag das?

Alles, was man tat, wurde jeden Tag beurteilt. Ich lebte in einer Gruppe und befand mich unter ständiger Beobachtung. Es gab keine Minute, in der ich tun konnte, was ich wollte. Für mich allein war ich nie.

Gab es kein Versteck?
Nein, nichts.

Nicht mal das Klo?
Anfangs gab es keine Tür und später keinen Schlüssel.

Der Aktionskünstler Otto Muehl, der die Kommune gegründet hatte, wollte Kinder zu unabhängigen, freien, nicht fixierten Menschen erziehen.
Frei habe ich mich nie gefühlt.

Aber es ging doch um das Freisein des Menschen?
Nein, Freiheit war nie Thema. Es ging darum, sich von seinen Ängsten zu befreien, sich von Eltern und Autoritäten zu lösen. Keiner suchte nach Freiheit. Für Muehl war seine Aktionsanalytische Organisation, AAO genannt, eine Verbindung aus künstlerischem Aktionismus und Therapiekonzept. Die meisten Kinder wurden von ihren Müttern getrennt, um das Entstehen von Kleinfamilien, die als Wurzel allen Übels galten, zu verhindern.

Wie lief der Alltag in der Kommune ab?
Der Tagesablauf war extrem geregelt: Frühstück, Schule, Mittagessen, Treffen zwischen den Lehrern und Otto Muehl. Da wurde diskutiert, was am Tag gut oder schlecht gelaufen war. Dann spielen, Abendessen, Performance, Schlafengehen.

Was passierte, wenn ein Kind einen Fehler gemacht hat?

Es bekam eine Strafarbeit, musste einen Aufsatz schreiben, putzen, abwaschen. Darüber hat Otto Muehl entschieden. Er war der Einzige, der Autorität hatte und Strafen verteilen konnte.

Und worin bestand die abendliche Performance?
Otto Muehl wählte willkürlich jemanden aus den Erwachsenen und Kindern aus. Der musste dann in die Mitte und tanzen, singen, seine Ängste hinausschreien, Ekstase erreichen. Der Körperpanzer sollte aufgebrochen werden.

Was ist der Körperpanzer?
Es ging darum, sich vor der Gruppe mittels Selbstdarstellung alle Hemmungen oder Blockaden von der Seele zu spielen, zu heulen, zu kotzen. Eine Art Entladungskult.

Die AAO war Mitte der Achtzigerjahre mit 600 Mitgliedern die größte Kommune Europas. Muehl lebte mit der Hälfte seiner Anhänger, darunter 80 Kinder, auf dem Friedrichshof, 60 Kilometer von Wien entfernt. Wie war das, vor so einer Gruppe diese Selbstentäußerung zu betreiben?
Ich war damit total überfordert. Ich bin introvertiert. Ich kann nicht schreien und losbrüllen.

Trotzdem gewähren Sie mit Ihrem Film Meine keine Familie der Öffentlichkeit Einblick in Ihre Kindheit und Ihre Familie?
Ich habe irgendwie gehofft, den Film zu machen und dann nicht mehr darüber reden zu müssen. Das hat nicht funktioniert.

Wie war Ihr Verhältnis zu den anderen Kindern?
Die Starken hatten das Kommando. Ich war nicht laut genug, wollte nicht beliebt sein. Ich hatte nie den Drang, mich in die Mitte zu stellen oder etwas einzufordern. Also musste ich tun, was die anderen wollten.

Gab es Freundschaften?
Klar mochte man die einen mehr, die anderen weniger. Aber jeder hat für sich gekämpft. Wir waren Konkurrenten. Blutsbrüderschaften gab es nicht.

Was haben Sie von der Welt draußen mitbekommen?
Katastrophen, die zeigten, wie schlimm die Welt da draußen ist, wurden uns natürlich berichtet. Bei Tschernobyl sind wir drei Wochen nicht rausgegangen, haben uns nur von Milchpulver ernährt. Aber sonst: nichts. Es gab keinen Fernseher, Zeitungen oder Radio. Auch keine Bücher.

Ihre Mutter sagt im Film, sie habe eine nette Kommune erwartet.
Nett würde ich nicht sagen. Eher provokant. Das war die Intention: Durch Provokation zu irritieren, um das Denken und die Konventionen zu überschreiten.

Machen Sie Ihrer Mutter Vorwürfe, dass sie naiv und blind war?
Überhaupt nicht. Mit Anfang 20 ist man unsicher, sucht Orientierung. Da hat eine Kommune, mit so radikalen Utopien und einem solchen Energielevel, sicher eine totale Faszination ausgeübt. Sie hat geglaubt, das sei gut.

Sie hat das nie hinterfragt? Überwindung der Kleinfamilie, Gemeinschaftseigentum, freie Sexualität.
Dafür hat der Blick von außen gefehlt, die Gruppe lebte ja in totaler Isolation.

Ihre Mutter hat Sie mit vier Jahren zurückgelassen, weil Sie in die Schweiz in eine von Muehls vielen Stadtkommunen zum Geldverdienen geschickt wurde.
Ich kann vieles auch nicht erklären. Aber ich erkenne ihren Mut an, ihre Utopie gelebt und eine Menge dafür getan zu haben.

Haben Sie sich manchmal gewünscht, Ihre Mutter hätte diesen Mut nicht gehabt?
Ich würde nie sagen, ich hätte mir gewünscht, dass mein Leben anders verlaufen wäre. Ich akzeptiere das, was war. Aber die Welt, an die meine Mutter geglaubt hat, ist untergegangen. Der Mikrokosmos AAO zeigt, wie einfach es ist, Menschen zu manipulieren und zu kontrollieren. Und dass es in so großen Gruppen nicht so sehr um Menschen, sondern um Positionen und Macht geht. Menschen werden zu Werkzeugen, zu Mitläufern, aus der Dynamik der Gruppe heraus. Und der Anführer braucht nicht einmal besondere Fähigkeiten.

Im Film wirkt das Oberhaupt Otto Muehl wie ein Sonnengott, der die Kommandos gibt. Er hatte Charisma, oder nicht?
Er war 20 Jahre älter als alle anderen. Er hat die Leute mit seiner Erfahrung beeindruckt. Aber er hatte keinen Masterplan.

Weshalb hat sein Experiment trotzdem fast zwei Jahrzehnte funktioniert?
Weil die Menschen in der Zeit nach neuen Werten gesucht haben und sich von den alten Autoritäten lösen wollten. Das Einzige, was sie wussten, war: Es ist mehr möglich. Nur was? Für die Antwort waren sie bereit, die Verantwortung für sich selbst abzugeben.

Hat Ihre Mutter Sie mal gefragt, wie es Ihnen geht?
Nein, das hat sie nie gemacht. Aber sie hatte schon das Gefühl, die Kommune sei ein Ort, der mich vor Dingen beschützte, die sie ablehnte: Überfluss, Konsum.

Viele Babys wurden von ihren Müttern direkt nach der Geburt getrennt und sahen sie, obwohl sie auch auf dem Friedrichshof lebten, nur alle paar Monate. Wie war das bei Ihnen?
Meine Mutter durfte mich ein Jahr stillen, bevor wir getrennt wurden. Solche Dinge entschied Otto Muehl ganz willkürlich.

»Es war nichts Schönes oder Erotisches. Ich habe Sex als sehr animalisch empfunden.«

Paul-Julien Robert auf dem Friedrichshof bei Wien. Er wurde 1979 in die dort ansässige Otto-Muehl-Kommune hineingeboren und mit vier Jahren von seiner Mutter getrennt.

Was haben Sie, im Rückblick, am stärksten vermisst?

Bindung. Und ein Individuum sein zu können. Ich selbst.

Mussten alle das Gleiche tun?
Es gab einen Förderplan in der Kommune. Erlaubt war, worin Otto gut war: malen. Ich hätte gern ein Instrument gelernt oder getanzt. Aber das galt als Handwerk ohne Kreativität.

Haben Sie Fußball gespielt?
Ein Sport für Proletarier, das war verboten.

Also mussten Sie malen.
Muehl experimentierte ja leidenschaftlich mit Blut, Gedärmen und Fäkalien auf Leinwand. Ja. Das tägliche Aktzeichnen fand ich schrecklich. Als sich die Kommune 1991 auflöste, wollte ich nie wieder einen Stift in die Hand nehmen.

Wussten Sie, dass jedes Kind eine Mutter und einen Vater hat?
Sex war so alltäglich, wir mussten nicht aufgeklärt werden.

Wie haben Sie das empfunden?
Es war nichts Schönes oder Erotisches. Ich habe Sex als sehr animalisch empfunden.

Die Väter waren meist nicht bekannt und wurden damals auch nicht festgestellt. Wie kamen Sie damit zurecht?
Wer mein Vater war, hielt ich nicht für wichtig. Zwischen Kind und Mann gabs überhaupt keine Zärtlichkeit. Für Otto Muehl war das eine Form der Homosexualität, etwas Krankes.

Und Ihre Beziehung zur Mutter?
Zwischen meiner Mutter und mir war eine andere Vertrautheit als mit den anderen. Aber wir waren fast nie allein miteinander. Wenn sie eine Gutenachtgeschichte vorlas, dann für alle Kinder.

Aber Sie haben sich bei ihr geborgen gefühlt.
Ich habe mich sicher bei ihr gefühlt, sie hat mich nie verraten. Und gleichzeitig fühlte ich mich einsam, weil ich wusste, dass sie immer nur kurz da war, seit sie in der Schweiz lebte.

Wem hätte sie denn was verraten sollen?
Kinder wurden dazu angestiftet, ihre Mütter zu verraten. Oder umgekehrt. Man sollte Fehler berichten. So spielte man beide gegeneinander aus. Ich bin froh, dass meine Mutter so selten am Friedrichshof war. Wir waren vor uns selbst geschützt. Sonst hätten wir uns wohl auch verraten.

Wer hat sich um Sie gekümmert, wenn nicht die Mutter?
Alle Frauen, die gern Ersatzmutter gespielt haben. Dabei ging es aber nie darum, eine Beziehung zwischen Mutter und Kind aufzubauen. Jede Art von Beziehung war prinzipiell schlecht. Deshalb wurden die Ersatzmütter nach einigen Monaten ausgetauscht.

Wann erfuhren Sie, wer Ihr Vater ist?
Als ich zwölf war, kurz vor Auflösung der Kommune, mussten alle Männer einen Vaterschaftstest machen. Ich wusste, dass nur drei Väter für mich in Frage kommen. Meine Mutter hatte Buch geführt, mit wem sie wann geschlafen hat.

Ihre Mutter hatte 1978 einen Mann namens Christian geheiratet. War das Ihr Vater?
Nein, mein biologischer Vater heißt Egon. Er hat mich in der Hochzeitsnacht gezeugt.

Sie meinen die Nacht, die der Hochzeit Ihrer Mutter mit Christian folgte?
Die Ehe war reine Formsache. Otto Muehl entschied, wer wen heiratet. Durch die Ehe bekam Christian den Schweizer Pass. Christian, Ihr juristischer Vater, hat sich erstochen, als Sie fünf waren.

Hat Sie das berührt?
Sein Selbstmord wurde mir drei Wochen später mitgeteilt. Ich musste weinen. Aber nicht, weil ich traurig war, sondern weil ich im Mittelpunkt stand. Berührt hat es mich nicht, dass sich dieser Mann umgebracht hat. Ich hatte keine Beziehung zu ihm.

Haben Sie Kontakt zu Egon, Ihrem leiblichen Vater, gesucht?
Ja, aber ich habe gemerkt, er kann nicht mein Vater sein und er will es nicht. Er wusste nichts von mir bis 1991. Und er hatte eine andere Familie. Das habe ich akzeptiert.

Als die Kommune 1991 aufgelöst wurde, waren Sie in der Pubertät. Haben Sie rebelliert?
Ich habe das Gespräch verweigert. Ich hatte das Gefühl, ich hab eh nichts zu sagen. Ich kann meiner Mutter nicht erklären, was los ist, und muss es auch nicht. Sie hat mich zum Psychologen geschickt. Der hat mir in dem Sinne geholfen, dass meine Mutter mich mit 15 zurück nach Österreich gehen ließ.

Wo haben Sie nach 1991 gelebt?
In Zürich, in einer Wohngemeinschaft, mit meiner Mutter und acht anderen Frauen und Männern, die auch keine Partner hatten. Ich war das einzige Kind. Ich ging auf eine öffentliche Schule und habe mir gewünscht, Freunde zu finden, aber das hat nicht funktioniert.

Weshalb nicht?
Wegen meiner Unfähigkeit, mich anzupassen. Ich konnte es nicht, ich wollte es nicht. Mit den Themen in den Cliquen – Musik, Klamotten – konnte ich nichts anfangen. Und das Leben in der Großstadt, nachdem ich mitten in der Natur aufgewachsen bin, war mir fremd. Ich habe akzeptiert, Außenseiter zu sein.

Dann sind Sie allein zurück auf den Friedrichshof gezogen. Warum ausgerechnet dorthin?
Ich wollte mit Menschen leben, die ich kannte. Andere Kinder aus der Kommune haben auch weiter dort gewohnt – nach der Auflösung 1991 hat jeder Anteile am Hof bekommen.

Sie haben nach dem Abitur ziemlich wild gelebt. Woher kam diese Zügellosigkeit?

Irgendwann habe ich gemerkt, dass es in Wirklichkeit keine Regeln, Grenzen, Autoritäten gibt. Dass alles nur erfunden ist. Ab da hatte ich eine hohe Risikobereitschaft. Ich habe alles gemacht, was mir eingefallen ist. Mir Drogen reingehauen, nächtelange Partys gefeiert.

Und dann haben Sie konzeptionelle Kunst in Wien und Berlin studiert. Hatten Sie keine Angst wieder malen zu müssen?
Wir haben alles gemacht, außer malen.

Kommen Sie heute gut zurecht in der Welt, in der Gegenwart?
Die Welt ist teilweise noch verrückter, beängstigender und primitiver als die Kommunen-Welt. Die Ansprüche sind so banal. Es geht immer nur um materielle Sicherheit.

Ist das falsch?
Besitz gibt mir keine Sicherheit. Ich habe mich noch nie verglichen: Wie viel hab ich, wie viel hat der, muss ich mich minderwertig fühlen? Diese Fragen habe ich mir nie gestellt.

Sie leben mit Ihrer Freundin und Ihrer Tochter in der Kleinfamilie.
Ja, und ich bin erstaunt darüber, dass ich keinen inneren Konflikt mit mir habe.

Welcher Konflikt wäre das?
Die Zweierbeziehung ist auch eine Art Kommune, in der man sich verlieren kann. Man teilt alles, verbringt so viel Zeit wie möglich zusammen. Der Unterschied: Man setzt die Regeln, die für einen funktionieren, selber.

Könnten Sie noch einmal in einer Kommune leben?
Nein. Aber das ist keine allgemeingültige Antwort darauf, ob ein Leben in der Kommune gut oder schlecht ist. Es wäre eine Anmaßung zu sagen, ich hätte Lösungen für andere Menschen. Das hat der Otto Muehl gemacht.

Werden Sie mit Ihrer Tochter zum Friedrichshof fahren?
Natürlich. Die Natur ist wunderschön. Man kann viel entdecken.

(Kinderfoto: privat)

Fotos: Daniel Gebhart de Koekkoek