Liebe Frau Winnemuth, Sie haben jetzt ein Jahr lang jeden Tag das gleiche blaue Kleid getragen und bezeichnen das als Selbstversuch. Ich versuche meine Frage mal so freundlich wie möglich zu formulieren: Was soll der Scheiß?
Ich hatte halt Lust darauf. Und mir davon einen gewissen Erkenntnisgewinn erhofft.
Wie kam es zu der Idee?
Ich habe irgendwo mal gelesen, dass man nur zehn Prozent seiner Garderobe tatsächlich trägt. Man greift immer wieder zu denselben Sachen, der Rest hängt einfach nur rum. Und der Schrank wird trotzdem immer voller. Also habe ich mich gefragt: Warum nicht mal konsequent jeden Tag dasselbe anziehen und schauen, wie es einem damit geht? Quasi als eine Art Klamotten-Diät.
Aber gleich ein ganzes Jahr …
Alles darunter wäre keine Herausforderung gewesen. Hinzu kam: Mir stand in diesem Jahr mein fünfzigster Geburtstag bevor, und zu solchen Terminen stellt man sein Leben ja gern auf den Prüfstand. Das Kleid war da nur der sichtbare Teil eines Nachdenkens: Wie soll es weitergehen, was will ich, was brauche ich? Oder um Sie zu zitieren: Was soll der Scheiß? Nebenbei hatte das Ganze auch eine therapeutische Komponente: Ich bin ein wahnsinnig sprunghafter Mensch, das Kleid war deshalb auch eine Exerzitie in Kontinuität.
Klingt sehr klösterlich.
Um Himmels willen! Mir ging es nicht um Askese, sondern um ein Spiel. Halte ich das aus? Was kann man mit einem einzigen Kleidungsstück alles anfangen, wie kann man es verändern?
Und warum ausgerechnet ein Kleid? Ist das Ihr Lieblingskleidungsstück?
Im Gegenteil, ich bin eher der Jeans-und-Pulli-Typ. Aber ich wollte etwas völlig Neutrales, das wirklich bei allen Gelegenheiten passen würde. Im Büro, bei Partys, sonntags auf dem Sofa.
Es ist nicht von der Stange, oder?
Nein. Ich hatte bestimmte Vorstellungen, wie ein Kleid aussehen müsste, in dem ich es ein Jahr lang aushalten würde. Kurzärmelig, damit es im Sommer funktioniert, vorn durchgeknöpft, damit ich es auch mal offen über anderen Sachen tragen könnte, aus einer pflegeleichten Funktionsfaser, die das häufige Waschen überleben würde, stretchig, damit notfalls zehn Kilo mehr reinpassen – ein Jahr ist schließlich lang. Eine Freundin empfahl mir die Hamburger Designerin Katharina Hovman, die viel mit solchen Stoffen arbeitet. Die hatte gottlob sofort Spaß an der Idee und hat mir das perfekte Kleid entworfen. Das heißt, sie hatte mir drei identische Kleider genäht, die ich abwechselnd getragen habe. Sonst hätte ich jeden Abend waschen müssen, und bei aller Liebe …
Warum blau?
Weil ich aus Schleswig-Holstein bin. Dunkelblau ist das Pink der Norddeutschen.
Und Sie wollen uns allen Ernstes einreden, dass Sie das Kleid jeden Tag getragen haben? Von morgens bis abends?
Wirklich immer. Jeden Tag, bis zum Schlafengehen – bis auf eine Stunde im August, als ich alle drei Kleider gleichzeitig in eine Maschine in einem Münchner Waschcenter gestopft hatte. Ich habe in diesem Kleid Interviews geführt und Umzugskisten geschleppt, ich war damit auf Safari in Südafrika, in Istanbul und Tunesien, auf den Mailänder Modeschauen und auf einer Gala, wo ich es als Bolero über ein langes Abendkleid geknotet hatte, ich bin darin geritten und zum ersten Mal in meinem Leben Ski gefahren. Ich habe ein Jahr lang in dem Kleid gelebt.
Wann hat sich Ihre Umgebung zum ersten Mal gelangweilt, weil Sie das Ding trugen?
Hoffentlich gar nicht. Ich habe mich bemüht, jeden Tag anders auszusehen. Was erstaunlich einfach war, denn das Kleid war wie eine Leinwand, die man immer wieder neu bemalen konnte. Ich habe zum ersten Mal im Leben die Macht von Accessoires verstanden. Erstaunlich, was man mit einem Paar flamingofarbener Strümpfe und einem Weihnachts-Geschenkband um den Bauch anstellen kann. Es gab Kollegen, die erst nach Wochen mitbekommen haben, was ich da mache. Denen ist überhaupt nichts aufgefallen. Eine schöne Lektion: Niemand interessiert sich so sehr dafür, was du anhast, wie du selbst.
Trotzdem hatten Sie den Ehrgeiz, immer anders auszusehen.
Mein Spieltrieb wurde gekitzelt: Während der Fußball-WM trug ich zum Beispiel an den Tagen der Deutschland-Spiele immer dunkelblau-rot-gold. Und zum Oktoberfest habe ich mithilfe von Schürze, Dirndlbluse und Bergstiefeln einen halbwegs passablen Wiesn-Look gebastelt.
Haben Sie ein Vermögen für Accessoires ausgegeben?
Gar nicht mal. Leser meines Weblogs www.daskleineblaue.de, wo ich jeden Tag ein Foto gepostet habe, haben mir entzückenderweise Sachen geliehen. Ich hatte beispielsweise einen extrem lustigen Abend am Küchentisch einer mir bis dahin völlig unbekannten Frau in München. Wir haben eine Flasche Wein getrunken und hinterher bin ich mit einer Tüte voll geliehener Gürtel, Tücher und Westen nach Hause gegangen.
Haben Sie nie geflucht über das Experiment?
Doch, im Sommer. Bei 35 Grad im Schatten ist Dunkelblau kein Vergnügen.
Dafür haben Sie doch im Winter gefroren wie verrückt.
Nein. Da sah ich aus wie eine kaschubische Bäuerin – Zwiebelprinzip. Mehr ist mehr, jedenfalls bei arktischen Temperaturen.
Und welche tollen Erkenntnisse hat das Ganze jetzt gebracht?
Einige. Erstens: Kleider machen keine Leute. Ich habe mich nicht besser und nicht schlechter gefühlt als sonst. Zweitens: Es schert keinen, was man trägt. Wirklich keinen. Eine ungemein befreiende Einsicht. Drittens: Eine Woche Urlaub mit Handgepäck – kein Problem.
Aber jetzt sind Sie doch froh, das Ding wieder los zu sein, oder?
Geht so. Das Kleid ist mir sehr ans Herz gewachsen, es ist eine zweite Haut geworden. Ich glaube, ich habe mich im Leben noch nie so sehr mit einem Gegenstand beschäftigt, dadurch ist es mir sehr kostbar geworden. Ich habe ein Jahr lang jeden Morgen gewusst, was ich anziehe, und nun nicht mehr. Wenn ich so darüber nachdenke: Ich vermisse es jetzt schon.
Fotos: privat