SZ-Magazin: Frau Vinken, ist Geschmack noch eine verbindliche Kategorie in der Mode?
Barbara Vinken: Gewiss. Allerdings muss die Mode, wenn sie weiterkommen will, die Grenzen des Geschmacks immer wieder erweitern und überwinden. Mode lebt vom Tabubruch. Etwa: Parka überm Abendkleid. Etwas anziehen, was passend unpassend ist: Das ist der Anfang der Mode. Es gibt ja immer Zeiten, die eher klassisch und elegant sind, und Zeiten, in denen das Schöne konterkariert wird.
In welchen Zeiten leben wir denn gerade?
Im Moment erleben wir noch eine eher konservative Ära in der Mode, in der die verstörenden Elemente der Achtzigerjahre in einer neuen Eleganz eingefangen werden, siehe das Pariser Modehaus Lanvin.
Gibt es noch Dresscodes?
Aber ja. Wenn Sie in Schwabing auf eine Cocktailparty gehen, werden Sie niemanden in Trainingshose sehen. Man zieht sich nach wie vor klassenspezifisch an. Und wer es nicht tut, weil er zum Beispiel etwas Besseres sein will, verrät seine Klasse dadurch trotzdem. So wurde der adrette Preppy-Look der US-Ostküste zum Sehnsuchtslook der Aufsteiger. Schon deshalb muss es Codes geben – damit man sich anpassen oder sie durchbrechen kann.
Die Frage ist: Woher wissen der Fußballhooligan oder die Bankierstochter, was sie anziehen sollen?
Gruppendruck. Man zieht sich einfach wie die anderen an. Das heißt nicht, dass alle das Gleiche anhaben. So ein Look bietet viele Nuancen. Da kommt dann das jeweilige Naturell zum Vorschein: wie sich jemand als erotisches Subjekt darstellt; wie angeberisch oder distinguiert er oder sie sich gibt.
Und doch kann ein Stück wie die Moonwashed-Jeans, die man der Unterschicht zuordnet, Teil der Laufstegmode werden.
Weil Designer im besten Fall etwas daran verändern. Dasselbe gilt für Ballonseide oder weiße Socken. Ein Beispiel: Chanel nimmt gerippte Unterhemden, eigentlich ein Kleidungsstück des männlichen Arbeiters, macht daraus Oberteile für Frauen – und es wird ein Brüller. Genau in dieser Codeverschiebung entsteht das Modische. Aus diesem Grund hat Mode am Anfang immer mit Überschreitung zu tun. Man muss den Erwartungshorizont des geltenden Geschmacks durchbrechen.
Aber wer sagt, was guter Geschmack ist?
Keiner legt das fest, es ist einfach so. Die Maxime »Über Geschmack lässt sich nicht streiten« bedeutete ja ursprünglich eben nicht, dass Geschmack diskutierbar ist, sondern dass jedem klar ist, was guter und was schlechter Geschmack ist. Darüber kann man nicht streiten.
Wie lässt sich denn guter Geschmack beschreiben?
Guter Geschmack hat etwas mit Höflichkeit zu tun, mit meinem Verhältnis zum anderen. Will ich ihn in maßlose Bewunderung ob meiner finanziellen Verhältnisse versetzen, ihn verletzen, ihn als impotent in den Schatten stellen? Negiere ich den Blick des anderen? Das gilt nicht als guter Geschmack. Oder möchte ich mich zu ihm in ein Verhältnis setzen? Ihn amüsieren, ihn reizen, ihn auf Distanz halten? Dem anderen Raum geben – das ist guter Geschmack.
Können Sie ein Beispiel geben?
Vor drei Jahren saß zufällig Franck Ribéry mit mir im Flugzeug und hatte einen goldfarbenen Trainingsanzug von Dolce & Gabbana an. Dazu goldene Turnschuhe. Das kann man nicht wirklich als guten Geschmack bezeichnen.
Warum nicht?
Es ist vulgär, wenn man brutal zeigt, was man sich leisten kann, denn es zielt nicht darauf, den anderen zu gefallen, sondern ihnen zu zeigen, wo der Hammer hängt. So funktioniert Bling-Bling, der Chic der Neureichen.
Was unterscheidet Geschmack von Stil?
Stil ist eine Unterkategorie von Geschmack. Ohne Geschmack kein Stil.
Nehmen wir mal Bill Kaulitz von Tokio Hotel und seinen Look. Ist das guter Geschmack?
Sein Look ist ein Abklatsch von Punk. Die Punks hatten allerdings einen irre guten Geschmack. Sie wussten genau, was sie taten und gegen wen. Das war alles in sich stimmig, keineswegs pragmatisch motiviert, sondern rein ästhetisch. Es geht beim Geschmack auch immer darum, einen Unterschied zu machen, prägnant zu sein, gekonnt gegen etwas zu rebellieren. Das ist die Chance des Hooligans.
Welche Rolle spielt Geschmack in der politischen Klasse?
Unsere politische Klasse ist komplett unästhetisch, ein einziges Desaster. Es gibt derzeit kaum ein Land, wo das anders ist: vielleicht Frankreich oder die USA. Die Obamas verdanken ihren Nimbus nicht zuletzt auch ihrem Look. Sie sind Stilikonen. Sie haben den amerikanischen Traum noch einmal neu personifiziert. Obama – neulich auf den Heuballen mit amerikanischer Fahne, weißem Hemd und blauem Himmel – ist dabei, selbst Kennedy in den Schatten zu stellen.
Was ist mit Deutschland?
Da sehe ich nichts. Jürgen Trittin vielleicht, der immer so als nassforscher Verführertyp rüberkommt, oder Joschka Fischer in seiner schlanken Phase. Die beiden sind wenigstens so etwas wie angezogen.
Angela Merkel?
Ihr Look sagt: Ich möchte eigentlich gar keine Frau sein. Und zweitens: Ich bin ein Staatsmann. Das zeigt die Sackgasse, in der alles Weibliche in Deutschland stecken bleibt: Eine Frau kann kein Staatsmann sein. Eine Frau muss den Preis ihrer Weiblichkeit zahlen, um Autorität zugesprochen zu bekommen.
»Deutschland ist kein modisches Land«
Barbara Vinken, geboren 1960, ist Professorin für Romanistik in München. Neben ihrer Tätigkeit als Literaturwissenschaftlerin, mit Büchern über Kleist oder Flaubert, hat sich Vinken immer wieder mit dem Phänomen der Mode als Zeichen- und Kommunikationssystem auseinandergesetzt. »Die Realität der Moderne«, sagt sie, »zeigt sich vielleicht nirgends so unverhüllt wie in der Mode.«/ Foto: Dominik Gigler
Warum scheinen Politikerinnen wie Rachida Dati in Frankreich damit kein Problem zu haben?
In Frankreich darf man Frau bleiben, auch wenn man Macht und Autorität hat. In Deutschland muss das eine das andere zerstören. Das ist das Problem eines bildungsbürgerlich-protestantisch geprägten und nicht aristokratisch gebildeten Landes wie Deutschland.
Was sagt das über uns aus?
Deutschland ist kein modisches Land. Wir halten Mode für oberflächlich, frivol, täuschendes Getingel.
Wie konnte es so weit kommen?
Bei uns wurde das Bürgertum in seiner Lebensart nicht mehr vom Adel gebildet, sondern der Adel wurde vom Bildungsbürgertum reformiert. Damit ist das, was den Adel auszeichnete, nämlich die Lust an Überflüssigem, Dysfunktionalem, an Ästhetik nicht mehr da. Im Gegenteil: Diese Lust am Spiel wird hier tabuisiert. Und trotzdem geben die Menschen in Deutschland unheimlich viel Geld für Mode aus.Das stimmt. Bei uns zählen aber Werte wie Qualität, Stoff und Funktion wesentlich mehr als das Styling. Was die Mode ausmacht – das Unnütze, das Frivole, das Kapriziöse, das sich für den Moment Verausgabende –, das hat in Deutschland keine Tradition.
Welche Rolle spielen Stilikonen in diesem Spiel?
Sie sind nicht die Geschmacksverstärker, wenn Sie das meinen, denn die Stilikone hat auf den ersten Blick keinen Geschmack: Sie durchbricht den Horizont des geltenden Geschmacks.
So wie Lady Gaga?
Lady Gaga ist die Inkarnation der hysterisch übertriebenen, künstlichen Weiblichkeit. Daher ist sie eigentlich keine Stilikone, sondern eher ein Symptom: Sie ist nicht jemand, den man nachahmen könnte, sie ist maßlos künstlich, strahlend, verführerisch verrückt – etwas, was in der »Normalität« nicht sein darf.
Es gibt aber auch Stilikonen, die den guten Geschmack nicht durchbrechen: Audrey Hepburn.
Hepburn war eine Revolution! Sie war die Figur, in der die Verfeinerung der Weiblichkeit vollendet wird im Ballettkörper, der ganz Silhouette und nicht Volumen ist. Die Verschiebung von Geschmacksnormen muss nicht immer ins Barocke oder Hässliche gehen.
Wir reden die ganze Zeit von Normen und Regeln in der Mode. Wer stellt die denn auf?
Man denkt immer, das machen bestimmte Leute, aber letzten Endes ist es der Zeitgeist. Die Geschichte macht sich ja auch selbst, obwohl man denkt, es sind die Subjekte.
Die Mode macht sich selbst?
Zu einem gewissen Grad ist die Mode ein sich selbst immer wieder neu erzeugendes System, das dann in bestimmten Leuten personifiziert wird. Mode ist eine Bühne, auf der Konflikte ausgetragen und in immer neue Bilder übersetzt werden. In ihr kommt die Ordnung einer Gesellschaft zum Ausdruck.
Aber einer muss doch die Trends setzen. Die Blogger, die Designer, die Medien?
Der Trend selbst kommt selten direkt von der Straße, geschweige denn aus dem Internet – er kommt aus dem System, das Mode geworden ist in den letzten zweihundert Jahren. Trendsetting hängt kaum von Personen ab. Trends entstehen durch historische und kulturelle Brüche, der Trendsetter leiht ihnen nur sein Gesicht.
Welche Brüche meinen Sie?
In der Mode ging es nach der Französischen Revolution um eine neue Darstellung von Klasse und Geschlecht und die daraus resultierenden Konflikte. Die Mode der Moderne hat sich bis in die Achtzigerjahre an diesen Konflikten herausgebildet und damit so weltweit erfolgreich geworden. Die moderne Welt zog sich westlich an. Dann traten die japanischen Designer wie Yohji Yamamoto oder Rei Kawakubo auf den Plan – und alles änderte sich.
Für welchen Bruch standen sie?
Mit den Japanern kam die westliche Mode auf den Kopf gestellt nach Europa zurück, als »Dekonstruktion« unseres Modeideals – sichtbare Nähte, schiefe Schnitte, alte Stoffe, nichts sitzt mehr wie angegossen. Dadurch hat sich unsere Vorstellung von dem, was Mode ist, total verändert. Die Mode bringt zur Anschauung, worum es in einer Gesellschaft gerade geht. Damals nahm die Globalisierung ihren Anfang. Der westliche Geschmackskonsens wurde infrage gestellt.
Worum geht’s denn gerade?
Jetzt beginnen die islamischen Kulturen auf das westliche Modeideal zu reagieren und umgekehrt. In der Mode noch nicht auf einer kommerziellen Basis, soweit ich sehe, sondern eher im Straßenbild – aber dort umso effektiver, provokativer.
Was meinen Sie?
Bestes Beispiel ist der Kleid-über-Hose-Trend, der seinen Ursprung in der Art hat, wie sich islamische Frauen im Westen kleiden. Und diese vorher undenkbare Silhouette wird, erotisiert und damit gegen den Strich gebürstet, über H & M und Zara nun zum Mainstream. In New York warb ein großes Kaufhaus in diesem Frühjahr mit dem Slogan »Get scarfed!« – zu Deutsch in etwa: »Tragt Kopftuch!«
Es ist kaum vorstellbar, dass westliche Frauen sich plötzlich alle verschleiern. Warum auch? Niemand wird Burka tragen. Mode heißt ja nicht Nachäffen, sondern Aneignen, Umwidmen. Es ist eine bestimmten Regeln folgende Umschrift. Das läuft alles sehr subtil ab, es sickert langsam ein. Aber es wird sich etwas tun in der weiblichen Silhouette. Der Zusammenhang von Zeigen und Verstecken wird sich verändern.
Wie könnte das aussehen?
Die Art und Weise, wie sich islamische Frauen die europäische Mode angeeignet haben, also Mantel über weiter Hose statt Kaftan, ist in der europäischen Mode schon angekommen. Und der Modus dieses Ankommens ist, wie so häufig in der Mode in ihren besten Momenten, die Erotisierung. Vielleicht gibt es bald eine neue Form der Sexiness.
Aber schaut die Mode zurzeit nicht auf ganz andere Märkte und Kulturen? Nach China zum Beispiel oder Russland.
Nicht die Mode, die Unternehmensstrategen. Der Russland- und China-Chic sind dabei bis jetzt noch langweilig – irgendwie neureich, luxuriös, in einem zurückgebliebenen Achtzigerjahre-Sinne, die Frau als Vorzeigemobilie des reichen Mannes. Billiger, aber teurer Markenfetischismus. Modisch total uninteressant.
---Haare & Make-up: Helge Branscheidt / Agentur Ballsaal; Styling: Ingo Nahrwold / Bigoudi; Styling-Assistenz: Caroline Lemblé; Fotoassistenten: Benjamin Werner und Felix Kufus; Model: Lisanne de Jong / Modelwerk; Blumendesign: Sam Frenzel
Fotos: Dominik Gigler (Porträt) / Markus Jans (Model)