Plötzlich scheint Christiane Paul irgendwohin abzudriften. Es ist nur ein kurzer Moment, in dem sie ihre Augen schließt und wie abwesend wirkt. Und dann tritt sie vor die Scheinwerfer und räkelt und streckt sich in diesem Kleid aus schwerem schwarzem Stoff, das einen Teil der Brust freilegt, als hätte sie das ein Leben lang gemacht. Hat sie in gewisser Weise auch: Bevor Christiane Paul Schauspielerin wurde, hatte sie gemodelt. Doch das Fokussierte habe sie vom Film, sagt sie. Dass man sich im Gewusel der Dreharbeiten immer wieder eine Nische sucht und auf das vorbereitet, was gleich passieren wird. Dieser Moment davor, sagt Christiane Paul, der sei eigentlich der wichtigste.
Wenn es ein deutsches Filmgesicht gibt, dann ist es wahrscheinlich das von Christiane Paul. Ende der Neunzigerjahre verkörperte sie in Produktionen wie Das Leben ist eine Baustelle das flirrende Berliner Lebensgefühl. Seit sie 2016 mit dem US-Fernsehpreis Emmy ausgezeichnet wurde, ist Christiane Paul auch international bekannt: In dem Film Unterm Radar spielte sie eine Richterin, deren Tochter von den Behörden als Terroristin verdächtigt und an einen geheimen Ort verschleppt wird. Der Film ist voll von diesen Momenten des angespannten Leerlaufs, in denen Christiane Paul als verzweifelte Mutter erst einmal mit versteinertem Gesicht verharrt, bevor sie mit aller Kraft loslegt, um ihr Kind zu retten.
Jetzt streift sie in einer Berliner Fabriketage das schwarze Kleid ab und wartet vor dem Schminkspiegel auf die nächste Aufnahme für diese SZ-Magazin-Produktion. Sie kann sich gut erinnern, wie nervös sie in solchen Situationen früher war. Als sie einmal bei einer Preisverleihung auftreten sollte, musste sie eine Aufnahmeleiterin regelrecht auf die Bühne schubsen. Ein Theaterkollege hat ihr dann diesen Rat gegeben, den sie bis heute beherzigt: Wenn man auf eine Bühne tritt, aus dem Dunkel ins grelle Licht, dann ist es am besten, erst einmal tief und lange einzuatmen. Und das, was einem da entgegenschlägt an Erwartung, einen Moment lang aushalten.
Aber sind denn nicht genau diese Momente auch die besten im Leben? Dieser Lidschlag, bevor sich etwas erfüllt, aber es ist schon klar, dass es sich erfüllt? Der Moment vor dem Schlussapplaus, einem lang erwarteten Wiedersehen, dem ersten Kuss? Oder wie es die Schriftstellerin Judith Hermann einmal beschrieb: »Glück ist immer der Moment davor. Die Sekunde vor dem Moment, in dem ich eigentlich glücklich sein sollte.« Christiane Paul überlegt, bevor sie antwortet, in ihrem Berliner Akzent mit den vielen »icks« und »oochs«. Natürlich seien diese Momente genial. Auf jener Verleihung der Emmys in New York etwa. Als sie als beste Schauspielerin nominiert war, und dann hörte sie tatsächlich ihren Namen. Oder bei einer Geburt, wenn »man vor Glück platzt, und alles ist so archaisch und körperlich«. Gerade war sie, um sich für eine Rolle in einer Serie vorzubereiten, im Krankenhaus, um eine Entbindung von der anderen Seite zu erleben. Dieser Moment, wenn ein Kind zu atmen beginnt, »da muss ich jetzt noch weinen, wenn ich daran denke«.
Andererseits sei es »irgendwie trostlos«, nur nach solchen Momenten zu gieren, sagt Paul. »Der erste Kuss wird immer der erste Kuss bleiben; wenn man diesen Thrill zum Leben braucht, ist man auf eine Art verloren.« Geprägt hat die 1974 in Ost-Berlin geborene Paul ein historischer Moment, die Wochen vor dem Mauerfall. »Diese Aufbruchstimmung, das Brodeln überall. Die Leute waren beseelt von der Idee, etwas Neues zu schaffen.« Dass das eigentlich die schönste Zeit war, sei ihr erst viel später bewusst geworden. Aber genau das macht diese Phasen des Lebens wahrscheinlich so kostbar: Ob der Moment davor der beste war, weiß man immer erst im Moment danach.
Fotos: Eva Baales; Styling: Samira Fricke