Fast ein Idyll

Wer Münchens billigste Wohngegend sucht, wird sein grünes Wunder erleben. Raten Sie mal, wo das hier ist.

Lillweg 50

Vielleicht sollte eine Geschichte über das Paradies nicht gerade am Autobahnring beginnen, aber wer Karl Wiesbeck in seinem Garten erlebt hat, wie er schwärmt, der weiß, es geht kaum anders: Vor ihm fließt der Mühlbach durch die Isarauen, neben und über ihm schließen sich die Wipfel von Hunderten von Bäumen, hinter ihm grast ein Pferd, Hühner laufen vorbei. 6500 Quadratmeter Garten und ein Eigenheim mit Pool. »Was muss ich in Urlaub fahren, wo ich es hier doch so himmlisch habe?« Selbst ein See liegt vor seiner Haustür, mehr ein Weiher freilich, nur einmal schräg über die Straße, und er steht auf seinem Grundstück am Wasser mit Holzsteg, fischt sommers Karpfen und Schleien und Brachsen, und wenn das Wasser gefriert, geht er mit seinen Spezln hier zum Eisstockschießen. Bei aller Idylle – es ist schon ein wenig laut, denn hinter Bach und Bäumen verläuft der Autobahnring Ost. Und gegenüber die Autobahn Nürnberg. Andererseits: Wer kann schon mit Gewissheit sagen, dass es leise sein wird im Paradies? Natürlich gibt es auch in München, der teuersten Stadt der Republik, billige Gegenden und mit die billigste liegt im Norden, im Stadtteil Freimann – die Auensiedlung; 65 Häuser, etwa 650 Bewohner, drei Straßen, Wallnerstraße, Lillweg, Ballesweg. Offiziell bekommt man keine Auskunft darüber, welche nun die billigste unter den billigen Gegenden Münchens ist, zu viele Faktoren spielen da hinein. Dennoch lässt es sich ziemlich sauber eingrenzen: Der Mietspiegel der Stadt teilt die Wohnlagen in vier Kategorien, von rot, »beste Lage« bis lila, »einfache Lage«. Dreizehn Flächen in München sind lila markiert, meist nur wenige Straßenzüge. Zieht man zudem die sogenannte Bodenrichtwertkarte zurate, der man entnehmen kann, welche Grundstückspreise in verschiedenen Gegenden der Stadt erzielt werden, und bringt diese Karte mit dem Mietspiegel zur Deckung, bleiben drei Gegenden, die als die billigsten gelten. Die beiden anderen liegen in Allach-Untermenzing in der Nähe des Rangierbahnhofs und im Hasenbergl-Nord. Zur »einfachen Lage« zählen »abgelegene Gebiete mit unzureichender Infrastruktur«, die durch ihre Nähe zu größeren Industriegebieten und Entsorgungsanlagen geprägt sind. Alles, und noch mehr, trifft auf die Auensiedlung zu.

Kaum ein Münchner hat je von ihr gehört, aber das Windrad, das über der Siedlung thront, kennt jeder, der auf die Autobahn Nürnberg fährt. Angelika Schneider kostet es bald den letzten Nerv.

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Wallnerstraße 39–41

Genau weiß Angelika Schneider noch nicht, wo ihr der Kopf steht, vor fünf Monaten erst ist ihr Mann, ein Mathematiker, gestorben. Jetzt trägt sie allein die Verantwortung für die sieben Angestellten ihres Versicherungsbüros. Da bleibt wenig Kraft für den Kampf gegen das Windrad und die Stadt. Einen ganzen Ordner füllt der Schriftverkehr inzwischen, und immer geht es um dasselbe: Die Stadt möge bitte im Sommer das Windrad zwischen 18 und 19 Uhr abstellen. Da will sie ihren großen Garten genießen. Das geht aber nicht, weil auf dem Hügel über ihrem Garten das Windrad steht und die Sonne um diese Zeit hinter den Rotorblättern. Wenn die sich aber drehen, dann wird Angelika Schneider ganz kirre: Sonne, Schatten, Sonne, Schatten, Sonne, Schatten. Nach Jahren des Briefwechsels schaltet die Stadt nun im Sommer das Windrad für eine Stunde ab, jedoch nicht von 18 bis 19 Uhr, wie von Angelika Schneider erbeten, sondern von 17 Uhr 30 bis 18 Uhr 30. Warum, weiß keiner.

Trotzdem wohnt sie gern hier, seit fast dreißig Jahren. Sie lobt den Zusammenhalt in der Siedlung, man kenne sich gegenseitig, aber lasse sich doch in Ruhe. Außer
den Rotorblättern des Windrades stört sie wenig. Dass es weit und breit keine Schule, keinen Arzt, kein Geschäft gibt und selbst die nächste U-Bahn-Haltestelle 25 Gehminuten entfernt ist? Also bitte, da setzt sie sich eben ins Auto, sechs Kilometer bis nach Garching, dort gibt es alles und außerdem »haben wir jetzt einen Aldi«, eineinhalb Kilometer entfernt.

Kaum hundert Meter von Angelika Schneiders Haus steht Münchens älteste Moschee. Hat sie sich damit arrangiert? »Natürlich, keine Probleme.« Na ja, bis auf die Falschparker freitags: »Ich sag’s mal großflächig – die Araber fahren so Auto, wie sie Kamel reiten.«

Wallnerstraße 1–5

»Assalamu Alaikum«, Friede sei mit Euch, begrüßt Ahmad Al-Khalifa, der Direktor des Islamischen Zentrums, die Besucher in seinem Büro. In einer halben Stunde, um halb zwei, beginnt das Freitagsgebet, dann kommen wieder 400 bis 500 Gläubige, die meisten mit dem Auto. Und das sei manchmal ein Problem, meint der Direktor. Aber das einzige inzwischen. Früher waren die Probleme größer, vor allem wegen der beiden Brandanschläge auf die Moschee, 1981 und 1995, glücklicherweise kam niemand zu Schaden dabei. Als Zeichen der Verbundenheit zu München und zu Bayern sind die Wände der Moschee hellblau gestrichen, ebenso wie die Telefonzelle und das Minarett. Und zwei- bis dreimal im Jahr treffe man sich mit dem Vorstand des Siedlervereins, um über mögliche Probleme zu sprechen. Alle längst gelöst. Wenn, ja wenn nur das wilde Parken nicht wäre!

Lillweg 4

»Und samstags parken hier noch die Fußballfans, die sich die Parkhausgebühren für die AllianzArena sparen wollen«, meint Wolfgang Völkner, Vorsitzender der Interessengemeinschaft Auensiedlung, »wir haben mal alle angezeigt, aber nach drei Wochen waren sie wieder da. In solchen Momenten müssen wir unsere Siedler schon beruhigen, wenn sie keinen Parkplatz finden.«

Wie soll da einer nicht vom Glauben abfallen, der in Berlin-Neukölln, in Gelsen-kirchen-Bismarck oder Hamburg-Wilhelmsburg aufgewachsen ist, in Vierteln also,
die auch zu den billigsten ihrer Stadt zählen, und der von den Problemen hört, mit denen sich die Bewohner der Auensiedlung in München rumschlagen? Parkplätze! Oder den Weiher sieht, in dem Karl Wiesbeck im Sommer fischt und die Kinder Schlauchboot fahren? Wiesen gibt es und einen Spielplatz neben dem Weiher, Einfamilienhäuser, Dreifamilienhäuser mit oft riesigen Gärten.

In München, so ist das eben, sind selbst die billigsten Gegenden viel teurer als anderswo die besseren: Ein Einfamilienhaus in einfacher Lage wie in der Auensiedlung kostet laut Immobilienverband zurzeit etwa 370000 Euro; das gleiche Haus in Berlin, jedoch in mittlerer Lage, durchschnittlich 229000 Euro, in Hannover 180000. Die Preise für die mittleren Lagen in München liegen zwischen 500000 und 700000 Euro.

Dreimal am Tag fährt die Polizei Streife, durch die Auensiedlung, aber sie muss
weder Schlägereien noch Bandenkriege verhindern, keine Drogendealer verjagen, nicht mal Graffitisprayer – sie kümmert sich um die Falschparker. So klein sind die Sorgen inzwischen. Kaum zu glauben, denkt man an die Anfänge nach dem Krieg.

Flüchtlinge und jene, deren Häuser ausgebombt waren, siedelten sich hier Ende
der Vierzigerjahre an. Ein Bauer verkaufte Grund für eine Mark den Quadratmeter. Wer das nicht zahlen konnte, durfte seine Schulden in 50-Pfennig-Raten abstottern. Der günstige Preis sprach sich schnell rum, hatte aber einen Haken: Es war kein Bauland. Also bauten die Menschen schwarz. Häuschen von sechzig, siebzig Quadratmetern, kein Keller, kein Strom, keine Kanalisation, Toilette außerhalb. Manche hatten nicht mal eine Treppe, nur eine Leiter in den ersten Stock, andere keine Haustür. Um das Bauen zu verbieten, schickte die Stadt einen Aufseher. Näherte der sich mit dem Rad, blies der Bergler Sepp, der Wache hielt, in seine Trompete, da wussten die Leute, dass sie ihre Werkzeuge verstecken mussten. Viele Jahre hieß die Siedlung deshalb »Mondscheinsiedlung«, weil nur nachts gebaut wurde. 1953 endlich genehmigte die Stadt die Bauten offiziell. Siedler nannten sich die Bewohner selbst. Ihr Idyll war gerettet, aber die Widrigkeiten nahmen noch zu.

Die Stadt presste nämlich in den folgenden Jahren ziemlich alles in den äußersten Münchner Norden und den Bewohnern der Auensiedlung direkt vor die Haustür, was der Mensch an Abfällen so produziert: Die Kläranlage, deren Gase übel stanken, zumal bei Westwind; die Mülldeponie mit dem denkwürdigen Namen Großlappen, deren Fäulnisgase sich oft entzündeten, sodass der Müllberg in Flammen stand; der Giftsee, in den alle flüssigen Abfälle aus Münchner Betrieben abgelassen wurden – von der Zyankalilauge aus der Galvanisierungsanstalt bis zu Farbresten aus Lackierereien; dann wurde der Autobahnring gebaut als Verbindung der Nürnberger mit der Salzburger Autobahn; und schließlich war da noch der Standplatz für die Prostituierten direkt vor der Siedlung, sie gehörte nicht zum Sperrgebiet. Ein Jahr lang gab es sogar ein Bordell mitten im Wohngebiet in der Wallnerstraße, direkt neben der Moschee. Waren die ersten Jahre für die Menschen hier vom blanken Überlebenskampf geprägt, so galt ihr Streben in den nächsten Jahrzehnten besseren Lebensumständen. Sie haben es weit gebracht.

Als die Kanalisation kam, durften sie ihre Häuschen vergrößern, darum stehen heute fast überall in der Siedlung Häuser mit etwa 200 Quadratmetern. Außerdem wird seit 1987 der Müll auf eine neue Deponie gefahren, gar nicht weit von der Auensiedlung, aber er stört dort nicht mehr. Bis dahin hatten sich 15 Millionen Kubikmeter Müll zu einem Berg von 60 Metern aufgetürmt, der heute begrünt ist. Auf ihm steht das einzige Windrad Münchens, das Frau Schneider so ärgert; die Kläranlage wurde modernisiert und stinkt nicht mehr. Die Prostituierten warten jetzt in ihren Autos auf Freier zwei Kilometer weiter weg als früher, hinter der Stadtgrenze. Immer kamen die Widrigkeiten und die Bedrohungen von außen und immer haben die Siedler ihr
kleines Paradies mit aller Kraft verteidigt.

Wallnerstraße 9 + 16

Auch das gibt es hier, gleich zweimal: Atelierhäuser, Zwillinge, in den Fünfzigerjahren aus reinem Beton erbaut und immer noch so kühn und radikal modern, dass man sich die Augen reibt, wie sie sich je in diese brave Gegend verirren konnten. Hermann Rosa, ein Bildhauer, baute sie 1954. Er wurde, so erzählt man sich, dafür angefeindet, verkaufte sie wieder und baute ein drittes Haus im selben Stil nur ein paar Kilometer weiter, in der Osterwaldstraße, im teuren Teil Schwabings. Die beiden Häuser in der Auensiedlung werden heute von dem Bildhauer Rudolf Wachter und seiner Frau sowie einem Architekten mit seiner Familie bewohnt. Der Architekt sagt: »Das gleiche Haus in der Osterwaldstraße, der Drilling, würde etwa dreimal so viel kosten wie diese hier in der Auensiedlung.«

Es kann ja nun sein, dass jemand in die Auensiedlung ziehen möchte. Ein Haus steht da gerade zum Verkauf, Baujahr 1960, 700 Quadratmeter Grund, zum stolzen Preis von 469 000 Euro. Auf Immobilienscout24.de ist von einem Traum im Grünen die Rede, von einer »ruhigen, romantischen Umgebung« und vom Mühlbach, der direkt vor der Haustür plätschert. Kein einziges böses Wort, das den Kaufpreis drücken könnte. Und schon hat es einen wieder, dieses Gefühl, dass es in München schon immer teurer war als anderswo, billig zu wohnen.