Der erste Wiesn-Samstag ist ein schöner, ein märchenhafter Tag. Ich sitze im Hacker-Festzelt, in dem ich den größten Teil der nächsten zwei Wochen verbringen werde, jedenfalls ist das der Plan. Ein guter Freund hatte mir versprochen, mir regelmäßig den Zwischenstand aus der Allianz-Arena aufs Handy zu schicken, die von einigen meiner Bekannten Arroganz-Arena genannt wird. Ich bin in der Nähe von Bremen geboren, Werder Bremen ist mein Verein, seit ich ein Kind bin, und als es zum ersten Mal in der Hose vibriert, also das Handy, steht es 1:0 für uns, es vibriert weiterhin, 2:0, beim 3:0 versuche ich, diesen Freund anzurufen, aber ich verstehe ihn nicht, es ist zu laut auf der Wiesn, beim 5:0 denke ich an eine schwere Verarsche. Das Ergebnis sieht geradezu absurd schön aus auf dem Display. Allerdings schauen die Leute inzwischen überall auf ihre Handys, halten sie ein Stück vom Gesicht weg, und soweit es Bayern sind, scheinen auch sie an eine schwere Verarsche zu glauben oder auf eine zu hoffen, je nachdem.
Fünf Tore bei den Bayern, das ist jedenfalls ein Wunder, an das ich erst am Abend richtig zu glauben beginne, als die Fans in den Werder-Trikots eintreffen. Sie kommen direkt aus dem Stadion, Gesandte aus der Welt da draußen mit den Namen der Helden auf dem Rücken, Frings und Pizarro, Özil und Diego und Naldo. Die Bremer bestellen je eine »Maas«, denn wo der Bayer ein kurzes »a« spricht, wie in Maß, spricht der Bremer ein langes - und wo der Bayer ein langes spricht, wie in Rad, spricht der Bremer grundsätzlich ein kurzes: Ratt. Ich erinnere mich nicht an alles, was noch geschehen ist, nur daran, dass ich irgendwann im Hacker-Zelt, unter dem Himmel der Bayern, von einem fleischigen Frings zärtlich in den Arm genommen wurde. Ich ließ es geschehen.
Stille Momente
Geschehen lassen ist der Schlüssel. Man muss dazu bereit sein, etwas mit sich geschehen zu lassen, sonst geht es nicht, sonst kann man das nicht überstehen: zwei Wochen Oktoberfest, nonstop im Bierzelt, von morgens bis abends. Man muss bereit sein, sonntags um neun in der Früh Bier zu trinken.
Sonntags um neun sind die Zelte schon voll, neben mir sitzen eine Menge junger Leute um die zwanzig. Sie haben sich über die Internetplattform »Couchsurfing« kennengelernt. Man registriert sich im Internet, erzählt ein bisschen über sich und stellt den anderen Usern seine Couch zur Verfügung, das spart Hotelkosten. Die Couchsurferinnen kommen aus Amerika und Südafrika, sie haben auf der Couch einiger Bayern geschlafen.
Ich bin noch müde an diesem Morgen, ich muss es mir reinpressen, das Bier, und den Jungs am Tisch bin ich bald egal. Sie prosten sich zu, sie stehen schon in ihren Lederhosen auf den Bänken, nette Kerle, aber ich bin ihnen wurscht. Ich sehe: Waden. Die Frauen sind anders, sie wollen mich einbeziehen, Frauen kriegen Mitleid, wenn ein einzelner Mann neben ihnen sitzt, dem das Bier nicht schmeckt.
Irgendwann stößt diese Südafrikanerin mit ihrem Krug leicht gegen meinen, es klirrt ganz leise. Es ist ein beiläufiges Geräusch, das man aufnimmt wie einen Blick aus der Menge. Man kann zurückschauen oder zurückprosten. Man kann es auch bleiben lassen, aber dann ist man raus. Man hat die Wahl.
Es gibt diese stillen Momente auf der Wiesn, allerdings sind sie nicht von Dauer. Von hinten nähert sich bald ein bärtiger Mensch und singt das Harald-Juhnke-Lied, alle Strophen, die letzte geht so: Wer macht abends einen drauf? Harald JUUUHN-KE/und steht morgens wieder auf? Harald JUU-HUUN-KE. Wenn man die tragische Geschichte des großen Säufers Harald Juhnke einigermaßen kennt, kann man den Text nur mit einigem guten Willen so stehen lassen.
Ein schönes Thema. Die Südafrikanerin kennt Harald Juhnke nicht, sie will aber auch nichts wissen über die tragische Geschichte dieses großen Säufers, die ich ihr nahezubringen versuche. Sie hat schon eine Maß mehr als ich, dabei ist sie viel dünner und jünger, keine zwanzig, grob geschätzt. Wir kommen da nicht weiter. Und irgendwann bin ich dann raus.
Unter Menschen
Das Oktoberfest kennt verschiedene Aggregatzustände. Bis 17 Uhr, wenn die reservierten Tische neu besetzt werden, kann man noch richtig sitzen, man kann etwas essen, aber zum Abend spielt die Kapelle die ganzen Reißer und das Bier wirkt, und irgendwann stehen alle auf den Tischen und kommen da dann auch nicht mehr runter. Ältere Wiesn-Fans erzählen, früher sei geschunkelt worden, aber im Stehen kann man nicht schunkeln. Im Stehen kann man sich auf die Rücken verlassen, die hinter einem eine warme Wand bilden, gegen die man sich lehnen kann. Man muss betrunken sein, um ein Teil der Masse werden zu können, wenn alles verschmilzt.
Abends gibt es nur oben und unten im Festzelt. Wenn man oben ist, auf der Bank, ist man dabei. Wenn man unten steht, blickt man in einen Wald von Menschen. Man ist unter Menschen, dafür ist der Begriff wahrscheinlich erfunden worden. Unter Menschen sein bedeutet, im Bierzelt nüchtern zuzusehen, wie alle »Moskau, Moskau« brüllen. Unter Menschen sein, also nach oben schauen und keine Sterne sehen, sondern nur Nasenlöcher – das ist die Hölle, Hölle, Hölle.
Vielleicht ist dieses Oktoberfest ein historisches, vielleicht ist noch nie klarer gewesen, warum die Leute sich das antun. Stundenlang anstehen, sich Steckerlfisch-Atem ins Gesicht wehen lassen, um einen Platz kämpfen in einem Zelt, allem ausweichen, was geflogen kommt, Kotze manchmal, Bier, Menschen. Was man in der Innenwelt des Zeltes auf sich nehmen muss, ist nichts gegen das, was da draußen passiert. Da draußen kann man jeden Abend, im Bett liegend und zappend, den Weltuntergang begrüßen.
Hilfe und Schutz
Das Schöne am Oktoberfest: Es bietet Hilfe, Schutz, es hält alles in der Waage. Einmal sitzt mir, kurz nach Mittag, eine Frau gegenüber, geboren in Landsberg, seit dreißig Jahren in München lebend, die mir vorhält, sie nicht anständig begrüßt zu haben. Es stellt sich heraus, dass ich dieser Frau im Ganzen nicht gefalle, sie hat mitgekriegt, dass ich mir manchmal was notiere, sie sieht in mir den Journalisten, der ich bin, sie mag keine Journalisten, sie mag auch keine Norddeutschen, es kommt viel zusammen.
»Ma siehgt glei, dass du a Fischkopf bist – bringst ja ’s Mei net auf!«, sagt die Frau, vielleicht fünfzig, ziemlich hager. Ich erwarte, dass sie mir, im nächsten Schritt, den für einen Norddeutschen ganz typisch fischig-verkniffenen Gesichtausdruck vorhalten wird. Ich überlege, im Gegenzug ihre schlechten Zähne zur Sprache zu bringen. Es ist die aufgeladenste Situation in den ganzen zwei Wochen.
Aber da kommt Christian, Christian aus Mindelheim, er schwingt sich über die Absperrung, was eigentlich verboten ist. Christian aus Mindelheim ist wie ein Tropfen einer geheimnisvollen Substanz, den jemand in ein brodelndes Reagenzglas tröpfelt, und dann beruhigt sich alles. Wir stoßen an.
Christian ist außerdem ein Überlebenskünstler, der sich Urlaub genommen hat für die Wiesn, er ist mit seinem Auto da, in dem er zur Not schlafen kann, ist sich aber sicher, jederzeit einen Schlafplatz zu finden bei jemandem, den er auf der Wiesn trifft. Das gefällt der Frau sehr, dieses Lockere. Sie versucht noch ein paar Treffer anzubringen, während ich mich in das Bier sozusagen versenke. »De Ausländer wissn oans net: D’ Wiesn muasst mit Vastand o’geh«, sagt sie, halb zu mir und halb zu Christian, es ist offensichtlich, dass Ausländer in diesem Fall die Steigerung von Fischkopf sein soll, aber das verfängt bei Christian nicht. Er schlägt sich auf keine Seite. Er trinkt sein Bier, erzählt von dem Sportverein in Mindelheim, den er trainiert, vom Job, er ist ein Schlichter, der nicht weiß, zwischen wem er schlichtet, und in welcher Angelegenheit. Er schlichtet ganz nach Gefühl.
In der ersten Woche Oktoberfest war ich zweimal richtig besoffen, einmal ziemlich nass (Bierdusche von rechts hinten), einmal ist mir einer auf die Hand getreten, einmal habe ich auf dem Nachhauseweg gegen ein FDP-Plakat gepinkelt. Ich habe auf der Wiesn zwei Hintern gesehen, nackte, haarige Männerhintern, und entgegen großer Ankündigungen von Wiesn-Experten nicht eine einzige Frauenbrust, nicht mal eine hängende von einer besoffenen Australierin.
Ich bin öfter nach meinem Namen gefragt worden, als ich selbst jemanden gefragt habe, dafür habe ich mehr Fotos von anderen gemacht als die anderen von mir. Je länger man knipst, desto öfter nimmt man übrigens Dekolletés auf. Ich frage mich, warum die Frauen so viel schöner geworden sind als früher. Vor zwanzig Jahren, als ich Abitur gemacht habe, gab es noch picklige Mädchen und solche mit Brillengläsern wie Flaschenböden, die Klassenfotos waren voll davon, aber heute sehen sie alle wie Models aus.
Ich habe mich auf das Bier eingestellt, die erste Maß geht runter wie nichts, es ist erstaunlich, wie schnell man sich daran gewöhnt. Was ich kann: auf der Bank stehen und halbgar mitwippen, wenn die anderen tanzen. Wie früher in der Disco. Was ich nicht kann: Mitsingen. Sie grölen diesen alten Schlager von Roland Kaiser: »Joana, geboren um Liebe zu geben/Verbotene Träume erleben/ Ohne Fragen an den Morgen danach.« Nach »Joana« ist eine kurze Pause in dem Originallied, da brüllen im Bierzelt alle: »Du geile Sau!« Das bring ich nicht, das ist zu dämlich.
Das mittlere Wiesn-Wochenende heißt Italiener-Wochenende, weil da immer die Italiener kommen. Die Italiener waren in diesem Jahr aber nicht sehr beeindruckend. Sie hüpfen vor den Toiletten, weil die Blase platzt. Das ist es eigentlich. Im Gegensatz zu den Italienern nehmen die Jungs von der Freiwilligen Feuerwehr aus Markt Schöllkrippen die Gelegenheit wahr, auf sich aufmerksam zu machen, im Biergarten vorm Hacker-Zelt.
Es ist wieder Samstag, die Sonne schiebt sich durch die Wolken, und die Männer aus Schöllkrippen erklären der Bedienung aus Niederbayern, dass Schöllkrippen ein Teil des Landkreises Aschaffenburg sei und damit nicht zu Hessen gehöre, sondern zu Bayern. Die Bedienung, eine kraftvolle blonde Frau, brummt: »Wenn ma eich so zuahört, kannt ma moana, ihr kemmts vo de Fischköpf oda vo no weida her«, wogegen die Männer von der Freiwilligen Feuerwehr aus Markt Schöllkrippen protestieren, indem sie ausgesprochen bairisch zu reden versuchen, aber es klingt sehr weich, sehr hessisch und ein bisschen besoffen.
Als die Bedienung, einen Strauß von Bierkrügen vor sich hertragend, davonstampft, ruft einer der Feuerwehrleute: »Warum hat der hessische Löwe den Schwanz immer oben? Damit ihn der bayerische am Arsch lecken kann!« Der Mann – er stellte sich als Rainer vor – trägt das schwarz-blaue Sweatshirt der Freiwilligen Feuerwehr Markt Schöllkrippen so stolz, als wäre es ein Nationaltrikot, er hat einen kahlen Kugelkopf mit kleinen Äuglein, und er redet und redet und redet, und mit jeder Maß klingt er hessischer und hessischer und hessischer, wie Papa Hesselbach oder Heinz Schenk früher im Blauen Bock oder Andrea Ypsilanti; die drei großen Figuren des hessischen Komödiantenwesens.
Rainer ist Koch, wenn in Markt Schöllkrippen oder in der Nähe was los ist, macht er das Catering. Er hat für Peter Maffay gekocht, »Blattspinat, der Maffay liebt Blattspinat, da fährt der voll drauf ab«. Maffay war sehr freundlich, die Kelly-Family dagegen ausgesprochen arrogant und gourmetmäßig eine echte Katastrophe. »Die essen, wie sie singen: alles durcheinander«, sagt Rainer, der sich dafür mit Genuss an die Frau von einem Sänger in einer Volksmusikband erinnert, »weil: Die Frau hat mich an einem Abend runtergesoffen – und wieder hoch«.
Es ist ein schöner Nachmittag mit Rainer und den anderen aus Markt Schöllkrippen. Er unterhält den Tisch und er behält auch die Umgebung im Blick. Ist einer im Umkreis von sechs Bänken im Begriff, die Maß zum Mund zu führen, ohne mit den anderen anzustoßen, springt Rainer auf und weist ihn auf das Versäumnis hin: »Nie allein!«, ruft Rainer, ein schöner Trinkspruch eigentlich, einer, der perfekt zur Wiesn passt. Die Gläser schlagen gegeneinander, und einer ruft in warmem, weichem Stimmklang: »Nie allein.«
Man erfährt Dinge, die man anderswo nie erfahren hätte. Alles über das Wesen der Freiwilligen Feuerwehr zum Beispiel, einem wichtigen Bestandteil des sozialen Geflechts, das die Gesellschaft im Verborgenen zusammenhält. Die Feuerwehrleute erzählen von Löschgruppenfahrzeugen, Tanklöschfahrzeugen und Nachschub-Gerätewagen, sie erzählen davon, wie sie immer Leute oder Häuser retten sollen und oft nichts mehr retten können, nicht mal mehr die Leute. Manchmal gibt es auch im Raum Aschaffenburg Unglücke wie dieses: Eine junge Frau war das Opfer. Sie hatten sie am Tag noch gesehen, und in der Nacht lag sie dann vor ihnen, fast enthauptet, und alles war voller Blut.
Die anderen Männer blicken in ihr Bier, als einer das erzählt, und es ist ganz ruhig für den Moment, bis Rainer wieder zu reden anfängt. Jede Gruppe braucht so einen wie Rainer, er sorgt dafür, dass das Ganze nicht durchhängt. Er hat mehr gesehen als die meisten anderen an den meisten anderen Tischen. Er ist nicht einfach so ein Komödiant geworden, sondern das Leben hat ihn zu einem gemacht, wie das Leben alle hier zu denen gemacht hat, die sie sind.
»Nie allein«, sagt Rainer und fragt in die Runde, ob jemand noch eine Lebensweisheit mit auf den Weg zu kriegen wünsche. Niemand sagt ja, keiner sagt aber auch ausdrücklich nein. Da hebt Rainer den Krug und ruft, mit Blick auf die Umweltkatastrophe und das Gletscherschmelzen da draußen sei es an der Zeit, Folgendes klar auszusprechen: »Es gibt viele Löcher ohne Eisbären, aber keine Eisbären ohne Löcher.« Löschää, sagt er.
Die Unterhose von Idi Amin
Ein Nachmittag im Hacker-Zelt, kurz nach drei. Am Tisch, rechts von der Kapelle, sitzen drei Hamburger, Jeans, bunte Hemden, nebenan ein Ehepaar aus Bayern. Die Hamburger umklammern ihre Krüge. Zwei dösen und nutzen den Krug als Kinnstütze, der Dritte sucht Kontakt. Er heißt Horst. »Horst is ja ’n ziemlich gebräuchlicher Name im Norden, nech.« Die beiden anderen Hamburger haben sich Fotos ihrer Freundinnen aufs Handy geladen, Horst ein Bild von Pamela Anderson, die er »Baywatch-Nixe« nennt, wie es auch die Boulevardzeitungen tun, die er regelmäßig und ausschließlich liest. Eine echte Frau fürs Handy gibt es gerade nicht in seinem Leben. Horst ruft: »Alles mit der Hand, sagt der Fabrikant!«
Er vertickt Sachen im Internet, sagt er, und manchmal kauft er was. »Kuriosa, verstehss du. Mein Ding sind Kuriosa.« Er sagt: »Ich hab neulich die Unterhose von Idi Amin ersteigert, die echte«, und weil die Kapelle grad nicht spielt und Horst eine kräftige Stimme hat, weiß jetzt jeder am Tisch von dieser Unterhose. Horst weiß, dass auch der Schauspieler Jan Fedder in verschiedenen Interviews erklärt hat, eine echte Unterhose von Idi Amin zu besitzen, aber beeindruckt ist er nicht von dieser Unterhosenschwemme. Meine, sagt er, ist mindestens genauso echt. Er nennt sie »Unnerbüx«, ein schöner norddeutscher Begriff.
»Häng ich mir im Keller auf, wenn ich den passenden Rahmen hab, aber da brauchst du ja so eine Folie, sonst bleicht die Sonne das aus, nech.« – »Was bleicht die Sonne aus?«, fragt sein Freund, während er das Kinn auf dem Krug belässt. »Die Hose von Idi Amin, du Spacken, die HOSEEE.«
Die beiden nehmen einen Schluck, dann stoßen sie mit dem Paar aus Bayern an, das ihnen die ganze Zeit zugehört hat. Es klingt jetzt wie ein Dialog zwischen Dittsche und Baby Schimmerlos. »Was machst nacha damit, mit dera Unterhosn vom Idi Amin? Ziahgst as o oda was?«, fragt der Mann, während die Frau den Hamburgern nur halb widerwillig zuprostet: »Was soi i mit da Unterhosn vom Idi Amin? Der hat doch dausnd Menschn umbracht. Da daad i mi ja schama.«
Die Bedienungen, zuständig für den Bereich direkt vor der Kapelle, heißen Simone, Gitti und Gisela, sie haben Anstecker mit ihren Namen, sie rennen am ersten Tag los und kommen am letzten wieder zur Ruhe. Sie tragen das Bier und sie müssen darauf achten, dass sie sich keine Sehnenscheidenentzündung holen, dann könnten sie nicht mehr arbeiten. Sie tragen statt zehn Bier lieber sieben und laufen dafür dann zweimal.
Bewacht wird der Bereich von Security-Leuten mit Bulldoggen-Gesichtern, die nichts sagen, aber alles sehen. Wenn einer seinen Bürzel zu weit über die Brüstung hängt, ziehen sie ihn raus. Wer seine Hose runterlässt, wird von ihnen entfernt wie ein fauler Apfel aus dem Obstkorb. Ihre geschulten Augen filtern jeden blanken Arsch aus dem Gewühl.
Die Security-Leute halten den Weg frei, damit die Bedienungen die Biere und Hühner tragen können. Sie würden sich vor die Bedienungen werfen, wenn einer aggressiv würde. Sie würden sie verteidigen wie die Löwin ihre Kinder, wie die Fußballer den Torwart, der im Fünfmeterraum angerempelt wird.
Das rote Pferd
Edith Piaf hat ein Chanson gesungen, sozusagen die Mutter aller Chansons, es heißt Milord. Im Hacker-Zelt wird Milord in einer Coverversion gebrüllt, wenn alles auf den Tischen steht. »Dann hat das rote Pferd/sich einfach umgekehrt/und hat mit seinem Schwanz/die Fliege abgewehrt.« Die Franzosen verstehen den Text wohl nicht, aber sie sehen viele Menschen, die auf den Tischen stehen und sich einfach umkehren und dann mit dem Arm einen Schwanz andeuten und mit der Hand eine Fliege. Und das alles zu Milord. Die Franzosen beobachten, wie die Menschen – auf Bänken stehend – zu roten Pferden werden.
Ernst Trojahn hat ein gewaltiges Tattoo am rechten Arm, er ist früher zur See gefahren, ein kurz geschorener, braun gebrannter Däne, schon Rentner. Er hat alles gesehen, aber jetzt sieht er nichts mehr. Nur noch Schatten. Eine Augenkrankheit, seit elf Jahren ist er praktisch blind. Ein Freund führt ihn durch das Zelt, an seinen Platz, sie kennen sich seit fünfzig Jahren, »wir waren Teenager, als wir uns das erste Mal gesehen haben, stell dir das vor«. Wenn er lacht, klingt es rau und harzig, als steige das Geräusch vom Boden eines rostigen Bechers auf. Ernst Trojahn sagt, er riecht die Wiesn, er hört sie, natürlich hört er sie, er spürt die Vibrationen.
Wenn irgendwo einer auf den Tisch springt, hat er eine Vorstellung davon, wie weit der von ihm weg ist. Er schreibt seinen Namen auf das Papier, weil er den Artikel gern hätte, seine Frau wird ihm das vorlesen. Er drückt die Buchstaben in den Block; wenn man einmal schreiben konnte, verlernt man das nicht mehr, sagt er, auch wenn man nicht mehr sehen kann, was man schreibt. Es hat angefangen zu regnen. Als er kam, schien noch die Sonne, aber er merkt, dass es regnet, wenn neue Leute an den Tisch kommen. Nasse Menschen, sagt er, riechen ein bisschen wie nasse Hunde.
Auf der Wiesn bleibt keiner allein, habe ich irgendwo gelesen, aber das stimmt nicht. Auf der Wiesn kann man sehr allein sein, sobald man das Zelt verlassen hat. Die Außenwelt fängt gleich hinter dem Ausgang an. Auf dem kurzen Weg vom Hacker-Zelt zur U-Bahn Theresienwiese kommt man am Autoscooter vorbei, wo sich immer schon die einsamen Figuren gesammelt haben, solche mit Ballonseidejacken und dünnen Schnurrbärten, die sich in ein lächerlich kleines Rennauto setzen, um ihrem Mädchen zu imponieren, das am Rand steht und von einem Bein aufs andere tritt, weil es auf die Toilette muss oder fürchterlich friert oder beides.
Über allem liegt wie eine dünne Decke diese blecherne Stimme der Einheizer, die überall gleich klingt, in allen Fahrgeschäften auf allen Volksfesten. Wenn man sich findet, dann im Zelt. Wenn man sich trennt, dann vorm Autoscooter, oder etwas weiter nebenan, in der Bude, in der man Fußbälle in eine Torwand schießen kann. Es ist eine Bude, in der ausschließlich Jungs sich versuchen, und alle sehen hilflos aus, wenn sie Maß nehmen wie die Profis im Sportstudio, aber dann schießen sie wie Basti oder Mehmet aus der Vorstadt. Wie die Jungs, die sie sind.
Wenn einer oft genug trifft, gibt es das Maskottchen einer Fußballweltmeisterschaft. Sie verramschen hier die Restbestände. Da draußen sehen sogar Gewinner wie Tröpfe aus, erwachsene Männer, die mit ihrem hart erarbeiteten Plüschlöwen auf dem nassen Pflaster stehen und auf ihre Freundin warten, die schon mal vorausgegangen ist und vielleicht nie wiederkommt.
Am Ende
Es klingt bestimmt absurd, aber so ein Festzelt kann ein Schutzraum sein, oder man kann sich einreden, es wäre einer, vor allem, wenn man einen Schutzraum braucht, und wer wollte bestreiten, dass das hier gerade die Zeit ist für Schutzräume. Wenn etwas vorbei ist, und es war nicht gerade Folter, ist man sentimental oder traurig. Traurigkeit geht tiefer.
Man vermisst etwas, wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, man vermisst sogar das Pressezentrum bei den Olympischen Spielen, wenn man drei Wochen darin gesessen hat, neben einem der Kollege aus Indien, rechts drei Stühle weiter der Ungar, der eine stöhnende Frau als Klingelton eingespeichert hatte. Man vermisst die kleinen Dinge, die Details, man behält Bilder in Erinnerung, die vollkommen unwichtig sind.
Im Hacker-Zelt war schon am dritten Tag ein Luftballon zur Decke aufgestiegen, zum Himmel der Bayern, ein kleiner Bär, der auf die Horde da unten schaute. Ich hätte tagelang Zeit gehabt, nachzusehen, was aus ihm geworden ist, aber erst als das Zelt endgültig zu ist, fällt mir der Ballon wieder ein.
Am Eingang der U-Bahn-Station Theresienhöhe steht ein alter Mann. Er war schon öfter da, er sammelt Flaschen oder Geld, er sieht zerzaust aus, und es stimmt, was der blinde Däne gesagt hat. Nasse Menschen riechen fast wie nasse Hunde. Der Mann war nur einmal auf der Wiesn, und da hat ihm eine Frau ein Lebkuchenherz geschenkt. Das hat er gleich gegessen. Wir stehen noch ein bisschen rum, die Lichter gehen aus, da hinten eins und da vorn, wie platzende Seifenblasen, jemand torkelt vorbei, und der alte Mann sagt: »Das war es?«
Das war es.