»Nie war es so schwer, sich auf die Geschichte eines kleinen Hundes zu konzentrieren«

Nach dem Amoklauf in München beginnt für die Bevölkerung eine Nacht der Ungewissheit. Lange ist nicht klar, was genau passiert ist und ob noch mehr passieren wird. Wir haben Münchner gebeten, von den Momenten zu erzählen, die ihnen in Erinnerung bleiben werden.

    Beim Familienfest weit weg von München bin ich der erste, der von den Schüssen erfährt. Ich beschließe, es nicht weiter zu erzählen, bevor nicht zumindest ein bisschen klarer geworden ist, was eigentlich passiert ist.

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    Die S-Bahn fährt nicht mehr, ich steige in ein Taxi, es läuft B5 Aktuell. Nach der Hälfte der Prinzregentenstraße kommt eine Meldung zum Amoklauf. Der Taxifahrer nimmt die Hand vom Lenkrad, wechselt den Sender. Blasmusik. Er dreht die Lautstärke auf.
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    Ich schließe meine Wohnung auf, schaue auf mein Telefon, sehe die Eilmeldungen. Ein paar Sekunden später fragt mich Facebook, ob ich in Sicherheit bin. Und, so lächerlich und übertrieben mir das auch erscheint: Es fühlt sich auch ein bisschen tröstlich an.
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    Die ersten Eilmeldungen treffen ein, ich versuche panisch, meinen Freund ans Telefon zu bekommen, das Netz ist überlastet. In diesem Moment schreibt mir meine Steuerberaterin, meine Steuererklärung sei fertig, sie habe nur noch einige Rückfragen. Wie es schön doch wäre, sich jetzt mit der Steuer zu beschäftigen. Es wäre so: normal.
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    Ich rufe meine Eltern an, die in einer anderen Stadt leben: Wollte nur sagen - mir geht's gut, macht euch keine Sorgen. Meine Eltern wussten noch nicht, was passiert war. Kurz danach ruft meine Mutter nochmal an. Sie wisse schon, dass ich da auch selbst draufkomme, aber - wenn's an der Tür klingelt, soll ich doch bitte nicht aufmachen.
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    Gegen 18.30 Uhr. Der Kioskbesitzer bekommt gerade eine SMS seiner Mutter, ob er von den Schüssen gehört habe im OEZ. Er legt das Handy weg und sagt: »Die Amerikaner sind schuld. Die sollen jetzt mit dem B52-Bomber endlich alle wegbomben!« Nachfrage: »Wen denn überhaupt wegbomben?« Antwort: »Alle.«
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    Ich radle auf dem Heimweg die Leonrodstraße entlang, drei Kilometer vom Einkaufszentrum entfernt. Es regnet aus dicken grauen Wolken, der Feierabendverkehr verstopft die Straße, vorne an der Kreuzung jagt ein nicht endender Konvoi Polizeibusse in Richtung Norden. Dann schwarze SUVs mit Magnet-Blaulicht. Dann ein Malteser-Hilfsfahrzeug. Aber erst, als in der Tram-Spur ein Einsatzfahrzeug der Wasserwacht an mir vorbeikeucht, ein alter Bus mit verstimmtem Martinshorn, kommt in meinem Kopf an: Scheint was Schlimmes zu sein.

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    Während der Gutenachtgeschichte mit den Kindern läuft im Hintergrund B5 aktuell. Nie war es so schwer, sich auf das Vorlesen der Geschichte eines kleinen Hundes zu konzentrieren.
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    Eine Frau sucht auf Twitter nach einer Bleibe für die Nacht für ihre Tochter und Enkeltochter, die es nicht nach Hause schaffen. Ich schreibe ihr, dass die beiden zu mir kommen können. Der zweite Gedanke: Meine Wohnung sieht schlimm aus, wie sollen sich da Gäste wohlfühlen. Ich räume hektisch Geschirr in die Spülmaschine, klaube alte Zeitungen vom Boden und sauge Staubflusen ein. Erst nach zwanzig Minuten wird mir klar: Das ist alles gerade wirklich egal.
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    Um kurz nach acht kommt eine SMS von Freunden aus Amerika: This will change Germany.
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    In meinem Innenhof sitzen drei junge Typen auf einem Garagendach. Ich erschrecke: Sind nicht genau so viele Attentäter auf der Flucht vor der Polizei? Dann sehe ich: Die drei picknicken und trinken Augustiner.
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    Ich harre mit drei Flüchlingen in einem Haus aus, wo ich ihnen kurz zuvor Deutsch-Nachhilfe gegeben habe. Cheikh, ein Seneglase, verteilt an alle Löffelbiskuits und Bananen, die er in seinem Rucksack hat. In stockendem Deutsch liest von seinem Handy vor: »Die Polizei hat die Täter noch nicht erwischt.« Das Wort »erwischen« habe ich den dreien vorhin beigebracht, es ging ums Schwarzfahren.
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    Am späten Freitagabend schreibt die Mutter eines Kindergartenfreundes des Sohnes. Ob man kurz bestätigen könne, dass alles in Ordnung sei. Ihr Junge hat wohl ein Gespräch über die Schüsse am OEZ mitgehört - und nun liegt er wach und kann nicht wieder einschlafen ohne die Gewissheit, dass es seinem besten Freund nichts passiert ist.
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    Gegen 23 Uhr die Meldung, dass ein Motorradfahrer mit rotem Rucksack der Täter sein könnte. Und auch andere mögliche Täter könnten auf einem Motorrad unterwegs sein. Schwabing, ein Uhr nachts am Samstag, vier Kilometer vom Tatort. Aus dem offenen Fenster lehnend, sehe ich, wie in unserer Tempo-30-Straße ein Motorradfahrer mit Rucksack mit mindestens 60 durchrauscht. Passant, Polizist oder Täter? Vier Minuten später: wieder. Fünf Minuten später nochmal. Was mache ich? Warten. Er kommt aber nicht mehr.

    Meistgelesen diese Woche:

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    Samstagsfrüh in der U-Bahn, 8 Uhr. Ein Fahrkartenkontrolleur geht durchs Abteil, einige Touristen haben keine Fahrkarten, sie haben nach so einer Nacht wohl nicht mit der so schnellen Rückkehr zur Normalität beim Münchner Verkehrs- und Tarifverbund MVV gerechnet. Macht 60 Euro pro Person.
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    Samstagmittag beim Friseur. Die Friseurin erzählt, das sie aus einem kleinen Dorf nahe Augsburg stammt, selbst da hätten sich Leute bei Facebook im Safety Check als »In Sicherheit« markiert. Sie findet das ein bisschen übertrieben.
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    Samstagnachmittag beim Biergarten am Chinesischen Turm. Ein Polizeiwagen steht dort, offenbar eine verstärkte Sicherheitsmaßnahme. Ein junger Radfahrer hält an. Die beiden Polizisten im Wagen schauen ihn fragend an, er sagt: »Gute Arbeit gestern von der Polizei, vielen Dank noch mal, auch an die Kollegen.« Die Polizisten bedanken sich und lächeln, der junge Mann radelt weiter. Auf Nachfrage sagt er: »Sonst rege ich mich immer nur über die Münchner Polizei auf, die zu wenig zu tun hat und dauernd Radfahrer kontrolliert. Aber gestern war man echt mal froh, dass es in München so viele Polizisten gibt.« Er radelt weiter, mit dem Handy telefonierend, »heute kontrolliert sicher keiner, die haben Wichtigeres zu tun«.
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